Joint-Annual-Meeting der Society for Music Theory und der American Musicological Society

Vancouver, British Columbia, Sheraton Vancouver Wall Centre Hotel

3.–6.11.2016

Tagungswebseite: https://societymusictheory.org/events/meeting2016/main
Tagungsprogramm


Jan Philipp Sprick


Das Jahrestreffen der Society for Music Theory (SMT), das jedes zweite Jahr gemeinsam mit der American Musicological Society (AMS) abgehalten wird, fand 2016 im kanadischen Vancouver statt. Wie immer bei diesen gemeinsamen Treffen ist das thematische Angebot so umfangreich, dass ein Bericht nur einen sehr subjektiven Ausschnitt widerspiegelt und von denjenigen Vorträgen und Diskussionen geprägt ist, die der Berichterstatter selber besucht hat. Dennoch zeigen sich auch bei der selektiven Wahrnehmung der thematischen Bandbreite einige allgemeine Trends und Entwicklungen der nordamerikanischen Musiktheorie.

Auffällig war in diesem Jahr die verhältnismäßig große Zahl an Beiträgen zur Geschichte der Musiktheorie, die nach einigen Jahren, in denen dieses Forschungsgebiet keine große Konjunktur zu haben schien, wieder umfangreicher auf dem Kongress vertreten war. Weitere Schwerpunkte bleiben nach wie vor die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts und neue Theorien zur Rhythmik/Metrik. Forschungen zur tonalen Harmonik scheinen dagegen nach der abflauenden Konjunktur der Neo-Riemannian-Theory nicht mehr so stark im Vordergrund zu stehen. Die Formenlehre wird zwar intensiv, aber in erster Linie im Hinblick auf die Musik des 19. Jahrhunderts diskutiert. Diese Tendenzen bilden sich auch in den diesjährigen Publication Awards ab. Mit dem Outstanding Publication Award für Catherine Losadas »Complex Multiplication, Structure, and Process: Harmony and Form in Boulez’s Structures II« (Music Theory Spectrum 36/1, 2014, 1–35) und dem Emerging Scholar Award (Artikel) für Robert Hasegawas »Clashing Harmonic Systems in Haas’s Blumenstück and in vain« (Music Theory Spectrum 37/2, 2015, 204–223) wurden zwei Aufsätze ausgezeichnet, die sich der Harmonik in der neuen und neuesten Musik widmen. Roger Mathew Grants erhielt den Emerging Scholar Award (Buch) für Beating Time and Measuring Music in the Early Modern Era (Oxford University Press 2014), in dem die Rhythmustheorie der frühen Neuzeit nicht nur innerhalb der Musiktheorie, sondern auch innerhalb der Geschichte der Ästhetik, Mathematik und Naturphilosophie verortet wird. Der wichtigste Preis, der Wallace Berry Award ging an Ruth DeFords Buch Tactus, Mensuration, and Rhythm in Renaissance Music (Cambridge University Press 2015), in dem die Autorin zunächst eine umfassende Aufarbeitung der Rhythmustheorien der Renaissance unternimmt und diese in einem zweiten Teil analytisch auf wichtige Werke dieser Epoche anwendet. Im Folgenden werde ich Vorträge aus den Themenfeldern ›Geschichte der Musiktheorie‹, ›neue Musik‹ und ›Form‹ vorstellen und anschließend einen kursorischen Überblick über einige Beiträge zu anderen Themen liefern.

Geschichte der Musiktheorie

Gleich zu Beginn des Kongresses widmete sich eine ganze Sektion unter dem Titel »Between Music Theory and Music History: Carl Dahlhaus on the History of Music Theory« den Schriften zur Geschichte der Musiktheorie des in Nordamerika nach wie vor einflussreichen Musikologen. Unter Leitung von Frank Heidlberger (North Texas) wurde in sechs Vorträgen eine Vielzahl von Aspekten angesprochen. In meinem eigenen Beitrag »On the implicit and explicit reception of Dahlhaus’s ›Was heißt Geschichte der Musiktheorie‹?« und Frank Heidlbergers Vortrag »›What is the History of Music Theory?‹ – Dahlhaus’s essay and its relevance for the current understanding of the discipline« wurde Dahlhausʼ wichtiger Text aus dem Jahr 1985 auf seine gegenwärtige Relevanz hin befragt. Eine der zentralen Thesen in meinem Beitrag ist, dass Dahlhaus’ Historiographie der Musiktheorie nicht von seiner Sichtweise auf den damaligen musiktheoretischen Status quo zu trennen ist. Nathan Martin (Michigan) beschäftigte sich mit der Bedeutung von Thomas S. Kuhn und Max Weber als theoretische und methodologische Bezugspunkte für Dahlhaus, während Thomas Christensen (Chicago) in seinem Vortrag »Dahlhaus and the Origins of the Origins« den intellektuellen und musikwissenschaftlichen Kontext erhellte, innerhalb dessen Dahlhaus seine Habilitationsschrift verfasst hatte (vgl. https://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/861.aspx). Einen wesentlichen Impuls für die umfangreiche Forschung zur Geschichte und zum Ursprung der Tonalität in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg sieht Christensen in dem gleichzeitigen ›Ende‹ der Tonalität in der seriellen Musik der 1950er Jahre. Dahlhaus’ Untersuchungen werden durch diese Kontextualisierung als ein End- und Kulminationspunkt eines größeren Forschungszusammenhangs verständlich. Auch Stefano Mengozzi (Michigan) widmete sich Dahlhaus’ Untersuchungen in seinem Beitrag »The History of Music Theory after Dahlhaus’s Studies on the Origin of Harmonic Tonality: On the Relationship between Musical Concepts and Musical Phenomena«. Gesine Schröder (Wien/Leipzig) übernahm am Ende des Panels die Aufgabe, der nordamerikanischen Musiktheorie-Community einige in diesem Kontext wenig bekannte Aspekte von Dahlhaus’ in den Musiktheorieunterricht an deutschen Musikhochschulen hineinreichende Wirkungsgeschichte zu vermitteln. Dabei nahm sie auch die politische Dimension von Dahlhaus’ Wirken in den Blick. In ihrem Beitrag »Theorist and Teacher of Theory: Carl Dahlhaus as a Model for the Classroom Teaching of Music Theory at West-German Conservatories« erläuterte sie einige für ihre Fragestellung instruktive Beispiele, wie etwa die ersten Ausgaben der Zeitschrift Musiktheorie aus den 1970er Jahren oder eine Fernsehdiskussion unter anderem mit Frieder Reininghaus, Volkmar von Braunbehrens und Reinhard Oehlschlägel, die politische Differenzen zwischen jüngeren Musikforschern und Dahlhaus offenbarte.

Weitere Vorträge zur Geschichte der Musiktheorie – etwa in der Sektion »New Perspectives in the History of Music Theory« – beschäftigten sich in erster Linie mit dem Verhältnis von Geschichte der Musiktheorie und Geistes- oder Philosophiegeschichte, so beispielsweise Maryam A. Moshavers (Alberta) Vortrag »Rameau, the Subjective Body, and the Forms of Theoretical Representation« oder August Sheehys (Stony Brook) Beitrag »A. B. Marx and the Politics of Sonata Form«, in dem Sheehy Marx’ Ideen zur Formenlehre in den Kontext von dessen jüdischer Herkunft stellte.

Eine Joint-Session von AMS und SMT mit dem Titel »Comparing Notes: Just Intonation, Japan, and the Origins of Musical Disciplines« blickte anhand eines instruktiven Beispiels auf die Fachgeschichte der Vergleichenden Musikwissenschaft zurück. Julia Kursell (Amsterdam) legte in ihrem Beitrag »A Well-Tuned History of the Music of the World: Helmholtz’s Investigation into the Material Conditions of Hearing« die Grundlage für Benjamin Steeges (New York) Überlegungen zu »The Ambivalent Ethics of Comparative Musicology: A Japanese Case Study«, die sich Erich Moritz von Hornbostels und Otto Abrahams »Studien über das Tonsystem und die Musik der Japaner« (1903) widmete.

Beim Treffen der SMT History of Music Theory Interest Group wurde mit dem Gast Thomas Christensen über die Wirkung seiner im Jahr 2002 erschienenen Cambridge History of Western Music Theory diskutiert. Die dominierende Frage war zunächst, was heutzutage unter dem Wort »Western« zu verstehen sei und inwiefern auch eine Einbeziehung nicht-westlicher Musik(theorie) möglich gewesen wäre. Christensen erläuterte, dass der Verlag damals überredet werden musste, überhaupt das Wort »Western« in den Titel aufzunehmen. Heutzutage, etwa fünfzehn Jahre nach der Publikation, wäre eine solche Diskussion vielleicht nicht mehr nötig. Wie aber eine ›World History of Music Theory‹ genau aussehen könne, blieb in der Diskussion offen, da für ein solches Projekt beispielsweise auch Theorien einbezogen werden müssten, die in erster Linie mündlich überliefert wurden. Ein weiteres interessantes Diskussionsthema war die Frage, inwiefern die Existenz der Cambridge History den Unterricht im Fach Geschichte der Musiktheorie verändert habe. Während einige Anwesende problematisierten, dass die Studierenden infolge der durch das Buch relativ einfach zugänglichen Informationen nicht mehr gezwungen seien, Originalquellen zu lesen, machte Thomas Christensen deutlich, dass die Lektüre einzelner Kapitel aus der Cambridge History keinesfalls die umfängliche Quellenlektüre ersetzen könne, die nach wie vor die Basis seiner eigenen Seminare zur Geschichte der Musiktheorie darstelle.

Neue Musik

Exemplarisch für die musiktheoretischen Forschungen zur neuen Musik können die beiden Vorträge zu Luigi Dallapiccola gelten, die zu einer kleinen Sektion zusammengefasst worden waren. In jüngerer Zeit wird immer häufiger die Arbeit mit Quellen in die analytischen Prozesse einbezogen. Dies zeigte der gemeinsame Vortrag »The Composer and his Advocate: Taking Clues from the Dallapiccola-Mila Correspondence for an Analysis of Tre Poemi (1949)« von Angela Ida De Benedictis (Basel) und Christoph Neidhöfer (Montreal), in dem die Korrespondenz zwischen dem Musikkritiker Massimo Mila und dem Komponisten ausgewertet wurde. In ihrem Beitrag »Teaching Beyond the Craft of Composition« nahm Angela Carone (Venedig) die Beziehung von Luigi Dallapiccola und Luciano Berio in den Blick und illustrierte Dallapiccolas Rolle als Übermittler serieller Techniken an jüngere Komponisten.

In einem anderen Panel zur Rolle des Radios in der neuen Musik zeichnete Jennifer Iverson (Chicago) in ihrem Vortrag »Beyond Darmstadt: Radio and the West German New-Music Ecology« die Rolle des WDR und dessen elektronischem Studio für die Entwicklung der neuen Musik der Nachkriegszeit nach. Einen besonderen Schwerpunkt in Iversons Überlegungen bildete Herbert Eimerts einflussreiches Musikalisches Nachtprogramm. Mit ihrer Frage nach der Bedeutung dieser Aktivitäten des Rundfunks vor dem politischen Hintergrund des Kalten Krieges kontextualisierte Iverson die vermeintlich unpolitische neue Musik innerhalb eines größeren weltpolitischen Zusammenhangs.

Einen Jubilar würdigte die Sektion »Encounters with the Music of Milton Babbitt: A Centennial Celebration«, die nicht die textbasierte Analyse von Babbitts Musik, sondern die Hörerfahrung in den Mittelpunkt stellte. Sieben Babbitt-Forscher, unter ihnen Joseph N. Straus, Robert Morris und Andrew Mead, widmeten sich u.a. den Semi-Simple Variations, Occasional Variations, A Solo Requiem, Whirled Series, Clarinet Quintet, Swan Song No. 1 sowie einigen Streichquartetten.

Form

Die Sektion »Rethinking Romantic Form: Mendelssohn’s Sonata-Form Practice« stand exemplarisch für die Tendenz in der nordamerikanischen Musiktheorie, den Diskurs der ›new Formenlehre‹, die im Wesentlichen auf den Publikationen von William Caplin sowie James Hepokoski und Warren Darcy aufbaut, in das 19. Jahrhundert zu verlagern. Eine besondere Rolle kommt hier der Musik Felix Mendelssohn Bartholdys als Bindeglied zwischen Klassik und Romantik zu. Benedict Taylor (Edinburgh) unterzog in seinem Vortrag »Mendelssohn and Sonata Form: The Case of op. 44 no. 2« den breit rezipierten Artikel »Zur Kompositionsart Felix Mendelssohns: Thesen am Beispiel der Streichquartette« von Friedhelm Krummacher aus dem Jahr 1974 einer kritischen Lektüre. Diese Gegenüberstellung mündete schließlich in der Formulierung neuer Thesen im Hinblick auf Mendelssohns Sonatenform. Eine wesentliche Erkenntnis Taylors ist das Verständnis von Form als Aneinanderreihung von Strophen oder Sektionen in einem größeren ›rotational design‹. Darüber hinaus betont Taylor den expansiven Charakter der Themengruppen, die in der Regel ›fest gefügt‹ beginnen und dann durch innere Expansion erweitert werden und in teilweise offene Enden münden. Diesen Aspekt untersuchte Steven Vande Moortele (Toronto) in seinem Beitrag »Expansion and Recomposition in Mendelssohn’s Symphonic Sonata Forms« im Hinblick auf die Seitensätze ausgewählter Orchesterwerke näher. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der Versuch, Mendelssohns Musik nicht immer im Rückbezug auf die Vorbilder aus der Wiener Klassik zu analysieren, sondern sie als für sich stehenden Beitrag zur Entwicklung der Sonatenform zu verstehen. An den Kopfsätzen der Vierten und der Fünften Sinfonie sowie an den Hebriden- und Ruy-Blas-Ouvertüren zeigte Vande Moortele überzeugend, mit welchen Strategien Mendelssohn zunächst fest gefügte zweite Themen durch Wiederholungen, Expansionen und Verzögerungen der Perfect Authentic Cadence (PAC) sukzessive erweitert, wodurch den Seitensätzen eine wichtige Rolle innerhalb der Gesamtform zukommt. Vor dem Hintergrund vergleichbarer Überlegungen in Taylors Beitrag stellte sich die Frage, inwiefern die extremen Expansionstendenzen in den analysierten Stücken typisch für Orchestermusik sind und sich darin von kammermusikalischen Konzeptionen unterscheiden. Auffällig bei den Beiträgen dieser Sektion war, dass sowohl Taylor als auch Vande Moortele die theoretischen Konzepte von Caplin und Hepokoski/Darcy in überzeugender und undogmatischer Weise miteinander kombinierten und dazu auch Überlegungen von Janet Schmalfeldt (Medford, MA) – der Moderatorin der Sektion – einbezogen.

Weitere Themen

Zum Abschluss des Berichtes möchte ich noch kurz auf einige Vorträge eingehen, die in der Zusammenschau einen guten Eindruck von der thematischen Bandbreite der musiktheoretischen Forschung in Nordamerika vermitteln.

In der Sektion »Meters in Global Perspective« zeigte Daniel Goldberg (New Haven) in seinem Beitrag »What’s the Meter of Elenino Horo? Rhythm and Timing in Drumming for a Bulgarian Folk Dance« am Beispiel der Metrik bulgarischer Volkslieder eine hochinteressante Kombination von ethnographischer Forschung und empirischen Methoden. Von seiner Analyse rhythmischer Phänomene, die über normale Notation nicht mehr angemessen erfasst werden können – beispielsweise subtile Änderungen der Tondauern etc. – könnte die Musiktheorie in methodologischer Hinsicht profitieren. Manche Anregungen aus der Analyse von World Music ließen sich wohl auch auf die Analyse anderer Musiken übertragen.

Die von Seth Monahan (Rochester) organisierte Sektion »Agency in Instrumental Music of the Long Eighteenth Century« stellte ein vergleichsweise junges theoretisches Konzept in den Mittelpunkt, das auf Edward T. Cones Buch The Composer’s Voice aus dem Jahr 1974 zurückgeht. Allgemein geht es hierbei um die Frage nach der Rolle spezifischer ›agents‹ in einem Stück, zu denen nicht nur die individualisierten musikalischen Elemente wie Tonhöhen oder kontrapunktische Stimmen gehören können, sondern auch ein/e »fictional composer« oder sogar der/die AnalytikerIn. Robert S. Hatten (Austin) zeigte dann in seinem analytischen Beitrag »Agentially and Expressively Motivated Counterpoint« kontrapunktische Passagen bei Bach, Haydn, Mozart und Beethoven und fragte nach der Priorität von »agential motivations« gegenüber etablierten kontrapunktischen Regeln. Allerdings vermochten diese Analysen noch nicht überzeugend zu vermitteln, welchen analytischen Mehrwert das metatheoretische Konzept der ›agency‹ in diesem Zusammenhang bringt.

Die Sektion »Theory and Practice« umfasste nur vier Beiträge und zeigte damit deutlich, dass pädagogische Fragestellungen für die nordamerikanische Musiktheorie zwar nach wie vor das ›tägliche Brot‹ in der Lehre sind, die damit zusammenhängenden Fragen aber nur verhältnismäßig selten auf Kongressen diskutiert werden. Peter Schubert und Julie Cumming (beide Montreal) präsentierten in ihrem Beitrag »›Maintaining a Point‹: Repeated Motives over an Equal-Note Cantus Firmus from Josquin to Monteverdi« eine kontrapunktische Satztechnik, bei der ein einzelnes Motiv über gleichbleibenden Notenwerten wiederholt wird. Der praktische Bezug dieser analytischen Überlegungen wurde von Schubert und Cumming über die Möglichkeiten der Improvisation hergestellt. Gerade in diesem Bereich, in dem die europäische musiktheoretische Forschung wesentliche Erkenntnisse beigetragen hat, fällt jedoch auf, dass auf diese Erkenntnisse kaum Bezug genommen wird, sodass für die Zukunft ein engerer Dialog und Austausch wünschenswert erscheint.

Bettina Varwig (London) stellte in ihrem brillanten Beitrag »›Mein Herze schwimmt im Blut‹: Early Modern Physiologies and Metaphors of the Heart« physiologische und metaphorische Konzeptionen des Herzens in der lutherischen Kultur des frühen 18. Jahrhunderts vor. Ausgehend davon, dass Blut und Tränen aus Sicht der zeitgenössischen Medizin miteinander verbundene Flüssigkeiten waren, entwickelte Varwig eine Reihe neuer Perspektiven auf Bachs Kantate »Mein Herze schwimmt im Blut« BWV 199 aus dem Jahr 1714.

John Z. McKay (South Carolina) leistete mit seinem Vortrag »Formalizing the Eroica: The E Minor Theme and the Structure of Analytical Revolutions« einen überzeugenden und materialreichen Beitrag zur Historisierung der Analysegeschichte. Unter Bezugnahme auf die Wissenschaftstheorien von Thomas S. Kuhn und Imre Lakatos für die Etablierung und Modifikation analytischer Paradigmen diskutierte McKay Dutzende von »Eroica«-Analysen seit Adolph Bernhard Marx mit einem Schwerpunkt auf dem e-Moll-Thema im ersten Satz. Eine ganz andere Perspektive nahm Andrew M. Friedman (Cambridge, MA) in seinem Beitrag »Reimagining (Motivic) Analysis in Light of Performance« ein. Friedman präsentierte vor dem Hintergrund einer zunehmenden Kritik an einer rein textbasierten Analyse ein »close hearing« verschiedener Aufnahmen des Beginns von Mozarts Klaviersonate F-Dur, KV 332 und den ersten vier Takten von Chopins Prélude op. 28/1.

Ein höchst originelles Thema präsentierte Stephanie Probst (Cambridge, MA) in ihrem souveränen Vortrag »Making Points, Extending Lines: Visualizing Music at the Bauhaus«, in dem sie anhand graphischer Visualisierungen von Musik durch Wassily Kandinsky, Paul Klee und Heinrich Neugeboren (Henri Nouveau) Verbindungen zwischen Musik und bildender Kunst diskutierte. Besonders überzeugende Beispiele waren hier die Bildnerische Form- und Gestaltungslehre Klees und Neugeborens Bach-Monument in Leverkusen, das Probst mit Ernst Kurths Musiktheorie in Verbindung brachte.

Ein Beispiel für die zunehmende Tendenz der nordamerikanischen Musiktheorie, sich auch philosophischen Themen sowie kultur- und geschichtstheoretischen Fragen zuzuwenden, war die Sektion »Music and Historical Materialism«, die von der SMT Music and Philosophy Interest Group organisiert wurde. Ausgehend der Frage »What is it to account for music, its history, and its theory within a historical-materialist explanatory framework?« gingen die Vortragenden das Thema aus je unterschiedlichen Perspektiven an. Sumanth Gopinath (Minnesota) nahm in seinem Beitrag »Marxism and Minimalism: A Troubled Intersection« mit der Minimal Music ein konkretes Beispiel in den Blick, während der Beitrag »The Conceptual Foundations of Historical Musical Materialism« von Stephan Hammel (Irvine) und Bryan Parkhurst (South Florida) eher den Charakter eines politischen Manifests hatte. Naomi Waltham-Smith (Pennsylvania) brachte in ihrem Beitrag »›Are You Deaf?‹ Historical Materialism and the Art of the (Im)possible« mit Bezugnahmen auf Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Giorgio Agamben und Alain Badiou europäischen Poststrukturalismus in die Diskussion ein.

Fazit

In seiner unterhaltsamen und sprachlich brillanten SMT-Keynote zum Thema »Words and Music« widmete sich Scott Burnham (New York) nicht nur in ausgewählten Beispielen der Geschichte des Verhältnisses von Text und Musik, sondern auch den Möglichkeiten und Schwierigkeiten, über Musik zu schreiben. Dabei verströmte Burnhams Performance ein durch die ausgewählten Musikbeispiele evoziertes melancholisches Pathos und eine beinahe romantische Sehnsucht nach intensiver musikalischer Erfahrung, das zusammen mit dem Versuch, dem eigenen Schreiben eine quasi-literarische Dimension zu geben, eine Stärke, aber auch ein Problem der nordamerikanischen Musiktheorie verdeutlicht: Ein hohes wissenschaftliches Niveau, professionelle Präsentationen, eine ausdifferenzierte Publikationslandschaft und eine bemerkenswerte thematische Vielfalt stehen der Gefahr einer gesellschaftlichen Isolation der Musikforschung und einer hochspezialisierten Verengung auf eine nordamerikanische Perspektive gegenüber, die europäische Forschung nur sehr selektiv zur Kenntnis nimmt. Dies zeigte sich bei dem Treffen in Vancouver auch darin, dass nur wenige europäische ForscherInnen – mit Ausnahme von KollegInnen aus Großbritannien – bei der Konferenz anwesend waren. Demgegenüber steht die große Präsenz nordamerikanischer MusiktheoretikerInnen bei europäischen Kongressen wie der EuroMAC oder vergleichbaren Veranstaltungen. Für die Zukunft wäre es wünschenswert, dass der transatlantische Austausch auf allen Ebenen wieder stärker belebt wird.