Erstes Positionspapier der Gesellschaft für Musiktheorie zu Belangen von Lehrbeauftragten (Juni 2021)

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Seit ihrer Gründung engagiert sich die GMTH für Belange der Lehrbeauftragten in den Fächern Musiktheorie und Gehörbildung. Diese Personengruppe macht einen großen Teil ihrer Mitglieder in Deutschland aus, und in Anknüpfung an die erwähnte Tradition plant der Vorstand eine neue Initiative mit mehreren Positionspapieren. Das vorliegende erste Papier thematisiert die mittelfristig umzusetzende Forderung nach einer Reduktion des von Lehrbeauftragten an deutschen Musikhochschulen zu erbringenden Anteils an der musiktheoretischen Lehre von derzeit 40–60% pro Hochschule auf maximal 20 %.

  1. Die Beschäftigung von Lehrenden im Bereich Musiktheorie als Lehrbeauftragte ist, sofern die Tätigkeit über einen längeren Zeitraum in einem für die Sicherung des Lebensunterhalts relevanten Umfang ausgeübt wird, aus mehreren Gründen als ›prekär‹ zu bezeichnen:

    • Handelt es sich beim ergänzend zu einer festen Anstellung (z.B. als Orchestermusiker*in) wahrgenommenen Lehrauftrag in anderen Bereichen der Lehre an Musikhochschulen um ein verbreitetes Modell, so stellt hingegen der Lehrauftrag (bzw. die Kombination mehrerer solcher Tätigkeiten) als de facto hauptberufliche Tätigkeit speziell in Musiktheorie/Gehörbildung keine Seltenheit dar. Gleichwohl eignet sich die Beschäftigungsform des Lehrauftrags aufgrund der teilweise äußerst restriktiven Beauftragungsbedingungen kaum zur Ausgestaltung quasi hauptberuflicher Arbeits- und Lebensverhältnisse. Zwar ist innerhalb eines Bundeslands der Beschäftigungsumfang in der Regel auf relativ wenige Stunden pro Woche begrenzt; gerade deshalb arbeiten viele Musiktheorie-Lehrende jedoch an mehreren Orten und in mehreren Bundesländern zugleich als Lehrbeauftragte. Sie sind deshalb mitunter gezwungen, umfangreiche wöchentliche Dienstreisen auf sich zu nehmen.1

    • Die Entlohnung von Lehrbeauftragten erfolgt nach Stundensätzen (Ausnahme: Nordrhein-Westfalen). Musiktheorieunterricht erfordert einen im Vergleich mit künstlerischen Fächern i.d.R. weitaus höheren Aufwand bei der Vorbereitung, und auch bei der Nachbereitung (z.B. der Durchsicht von Hausaufgaben und wissenschaftlichen Hausarbeiten) handelt es sich um zusätzliche Arbeitszeit, die bei der Honorierung unberücksichtigt bleibt. Gemessen an der insgesamt aufzuwendenden Arbeitszeit bewegt sich somit die Bezahlung auf niedrigem Niveau.

    • Während der vorlesungsfreien Zeiten entfällt eine Vergütung vollständig (Ausnahme: Nordrhein-Westfalen). Zudem stellt sich trotz der bestehenden Interessenvertretungen für Lehrbeauftragte und der Unterstützung von deren Anliegen durch Gewerkschaften die Vergütung an den verschiedenen Standorten nach wie vor sehr unterschiedlich dar. Die Vergütungsproblematik betrifft die Unterrichtsentgelte, die Übernahme von Reisekosten sowie die mancherorts eklatant niedrigen Prüfungshonorare.

  2. Die umrissene Art der prekären Beschäftigung wirkt sich in vielerlei Hinsicht nachteilig auf die musiktheoretische Lehre und Forschung aus:

    • Die oben skizzierte prekäre berufliche Situation begünstigt v.a. dann, wenn sie zu einem dauerhaften Zustand wird, persönliche Unzufriedenheit bei Lehrbeauftragten. Überdies kann die Perspektive drohender Altersarmut das Entstehen von Zukunftsängsten und/oder Frustration befördern.

    • Die persönliche Unzufriedenheit von Lehrenden kann sich allgemein demotivierend auswirken, und sie begünstigt tendenziell auf lange Sicht eine nachlassende Begeisterung für den eigenen Beruf und eine Begrenzung des persönlichen Engagements, wobei ausdrücklich festzuhalten ist, dass Folgen dieser Art nur bei einem Teil der Betroffenen auftreten. Vom Prinzip her aber wirkt vor allem die Langzeitbeschäftigung im Lehrauftrag Bemühungen um Qualitätssicherung oder -steigerung der musiktheoretischen Lehre in kontraproduktiver Weise entgegen.

    • Der oben unter a) erwähnte durch Dienstreisen geprägte Lebensstil ist oftmals nicht mit einem Familienleben kompatibel und hält v.a. Frauen davon ab, sich für eine solche Tätigkeit zu entscheiden, was zu einer Forcierung der bereits vorhandenen Geschlechterdisparität in unserem Fach führt: Musiktheorie wird in Deutschland insgesamt von deutlich mehr Männern unterrichtet als von Frauen.

    • Es schadet dem Ansehen des Fachs, wenn sich musiktheoretische Lehre als durch geringe Honorierung und prekäre Beschäftigung geprägt darstellt.

  3. Die GMTH unterstützt folglich alle Bemühungen von Hochschulen und anderen kulturpolitischen Institutionen, die darauf abzielen, den Anteil der Lehrbeauftragten im Bereich Musiktheorie zu verringern. Unter bestimmten Umständen können temporär begrenzte Lehraufträge, etwa bei Vertretungsfällen oder für Berufseinsteiger*innen, auch weiterhin sinnvoll eingesetzt werden. Aber: Eine Begrenzung des Lehrauftrags-Anteils an der musiktheoretischen Lehre auf nicht mehr als 20 % sollte jede deutsche Musikhochschule anstreben.
    Die Umsetzung der geforderten Reduktion des Lehrbeauftragten-Anteils darf nur unter folgenden Voraussetzungen stattfinden:

    • Der Strukturwandel ist sozial verträglich zu gestalten. Insbesondere sollten langjährig als Lehrbeauftragte wirkende Mitarbeiter*innen keinesfalls aufgrund der Schaffung fester Stellen ersatz- und umstandslos ihre Beschäftigung verlieren.

    • Der Strukturwandel darf nicht zu einer Verringerung des Gesamtvolumens des erteilten Unterrichts in Musiktheorie und Gehörbildung führen. Vielmehr muss im Interesse der Qualitätssicherung der Unterricht weiterhin in Kleingruppen stattfinden.

    • Die Einrichtung fester Stellen im sog. akademischen Mittelbau darf nicht einen Abbau von Musiktheorie-Professuren nach sich ziehen.

    • Arbeitsverhältnisse im Lehrauftrag sollen der Ergänzung der Lehre dienen und können insbesondere für Berufseinsteiger*innen im Bereich Musiktheorie für begrenzte Zeit sinnvoll sein. In diesem Sinne können sich auch auf lange Sicht ›Förderlehraufträge‹ als effektive Modelle erweisen – mit einer klaren Entwicklungsperspektive an einer Institution oder in Verbindung mit der Möglichkeit zur Weiterqualifikation. Gleichwohl müssen die Honorierung und Arbeitsbedingungen von Lehrbeauftragten weiterhin verbessert werden.

Die Forderung nach einem Rückbau von Lehraufträgen zugunsten von mehr festen Stellen im Bereich Musiktheorie wird sich nicht kostenneutral umsetzen lassen. Dass ein solcher Strukturwandel gleichwohl umsetzbar ist, zeigen Beispiele einzelner Musikhochschulen, an denen entsprechende Initiativen stattfinden. Die Bundesländer Baden-Württemberg2 und Nordrhein-Westfalen3 haben in jüngster Zeit bereits Maßnahmen ergriffen, mit denen auf eine deutliche Reduzierung des Anteils der durch Lehrbeauftragte erteilten Stunden hingewirkt wird, und die die GMTH ausdrücklich begrüßt. Wünschenswert wäre es, wenn sich weitere Bundesländer entsprechenden Zielvorgaben anschließen würden.

Der Vorstand der Gesellschaft für Musiktheorie
Juni 2021


  1. Nähere Informationen zu allgemeinen Missständen im Zusammenhang mit Lehraufträgen finden sich in den Publikationen der bklm (Bundeskonferenz der Lehrbeauftragten an Musikhochschulen), etwa der Frankfurter Resolution vom 23.01.2011 und die Auswertung einer Umfrage aus dem Jahr 2012. 

  2. In der Hochschulfinanzierungsvereinbarung des Landes Baden-Württemberg vom 31.03.2020 ist vorgesehen, dass die Musikhochschulen des Landes sich verpflichten, den Anteil der durch Lehrbeauftragte erteilten Stunden bis 2025 auf 27 % zu senken. 

  3. Die in Zusammenhang mit der Novelle des nordrhein-westfälischen Kunsthochschulgesetzes vom 15.04.2021 verabschiedeten Direktiven sehen bis 2026 die Schaffung von rund 80 neuen LfbA-Stellen (Lehrkräfte für besondere Aufgaben) und eine Senkung des Anteils der Lehrauftragslehre auf 30 % vor; vgl. dazu eine Pressemeldung der DOV.