Analyse und Interpretation

Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart

22.–23.11.2019


Tagungsprogramm


Frithjof Vollmer


»Was hält Musik in ihrem Innersten zusammen? Und wie ließe sich das hörbar machen?« – mit diesen Worten begrüßte der Tagungsleiter Bernd Asmus die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur interdisziplinären Tagung »Analyse & Interpretation«, welche am 22. und 23. November 2019 vom Institut für Komposition, Musiktheorie und Hörerziehung an der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst ausgerichtet wurde. Die sich aus diesen Worten ergebende Motivation zog das Ansinnen nach sich, mit einigem Abstand zum ›performative turn‹ auch der musikbezogenen Wissenschaften sowie mit Blick auf inzwischen etablierte Disziplinen wie etwa der empirischen Interpretationsforschung das Verhältnis von musikalischer Analyse und Interpretation neu auszuloten. Dabei sollten auch verschiedene Unterrichtsmodelle zur Diskussion gestellt werden, welche eine Brücke zwischen beiden Bereichen zu schlagen versuchen – »Analyse und Interpretation an einzelnen Werken und unter bestimmten Gesichtspunkten quasi engzuführen«, wie es die Rektorin der HMDK Regula Rapp einleitend formulierte. Eingeladen waren daher Referierende aus so unterschiedlichen Disziplinen wie der Musiktheorie und der Interpretationsforschung, der Theaterwissenschaft, der elektronischen Musik und des Jazz, Vertreter*innen der künstlerischen Forschung und der Musikphilosophie – gemein war ihnen allen die Auseinandersetzung mit einer aktuellen Standort- und Verhältnisbestimmung.

Mit dem eröffnenden Vortrag stellte Michael Spors (Stuttgart) das an der HMDK Stuttgart praktizierte Unterrichtsmodell »Literaturkunde« vor. Interpretationen, so Spors, seien »Denkprozesse in Echtzeit«; für angehende Musiker*innen müsse es daher darum gehen, dass die »Anzahl dieser Prozesse erhöht« werde – nicht, um ästhetische Urteile zu fällen, sondern vielmehr um »Optionen zu orten und zur Verfügung zu stellen.« Wie Analyse zur Kreation verschiedenartigster musikalischer Interpretationen beitragen kann, demonstrierte Spors in der Arbeit mit einer Studentin am Beispiel von Max Regers 1914 komponierte Suite für Viola solo op. 131d Nr. 1. Das Stuttgarter Modell zeichnet sich durch den Dialog zwischen Musiktheoretiker*innen und praktizierenden Musikstudierenden aus, in dem das Spannungsfeld zwischen theoretisch Denk- und praktisch Ausführbarem stets präsent ist. Ein ähnliches Konzept präsentierten Benjamin Lang und Holger Wangerin (beide Rostock): Am Beispiel von J. S. Bachs Violinsonate Nr. 1 g-Moll BWV 1001 zeigten sie die Stärken eines solchen Dialogs auf. Dabei verwies Wangerin eingangs darauf, dass gerade mehrstimmig angelegte Werke für solistische Melodieinstrumente der Analyse bedürften, um Optionen insbesondere der Stimmführung und Phrasierung, aber auch der Artikulation und Intonation aufzuzeigen. »Analyse entzaubert« – dieser Eindruck könne zuweilen entstehen, so darauf Lang, um ihm sogleich eine vielschichtige Analyse der Fuge eindrucksvoll entgegenzusetzen. Wie solcherart Konzepte in der Praxis Anwendung finden sowie im Hochschulalltag verankert werden könnten, wurde anschließend zur Diskussion gestellt.

Weitere musiktheoretische Beiträge folgten von Bernhard Haas (München) und Michael Reudenbach (Frankfurt a. M.). Tenor des Vortrags von Bernhard Haas war die Überzeugung, dass Analyse als Voraussetzung gelten müsse, um musikalische Zusammenhänge sichtbar zu machen: »Was ein Interpret nicht hört, hört das Publikum niemals.« Exemplarisch widmete sich Haas an der Orgel dem Versuch, Johann Sebastians Bachs Fantasie g-Moll BWV 542 aus schenkerianischer Perspektive zu analysieren – eine Herausforderung angesichts von nicht weniger als 20 im Stück vorkommender pitch classes, doch lohne der Aufwand, denn die Analyse aus streng diatonischer Perspektive helfe, um detaillierte sowie großflächige Zusammenhänge zu erkennen und in der Interpretation hervorheben zu können. Michael Reudenbach hingegen legte seinen Ausführungen die Beobachtung zugrunde, dass sich Interpretierende in der Regel ›blind‹ auf das Notenmaterial verlassen, aus dem sie übten und probten – die genutzte Edition, das Notenbild selbst sei demnach grundlegend für den Charakter der entstehenden Interpretation. Am Beispiel eines Vergleiches verschiedener Notenausgaben zu Leoš Janáčeks V Mlach (»Im Nebel«, 1912) zeigte Reudenbach auf, wie fundamental sich Unterschiede der Editionen auswirken können. Musiktheoretische Analyse helfe demnach, sich der mutmaßlichen Intention des Komponisten auch bei unübersichtlicher und sich teils widersprechender Quellenlage nähern zu können.

Analytische Beiträge aus den Reihen der historischen Musikwissenschaft boten die Vorträge von Dominik Sackmann (Zürich) und Miriam Akkermann (Dresden). Sackmann spürte einem häufigen, bisher jedoch wenig beachteten »Klangflächen- und Wiederholungsphänomen« am Beispiel von Kompositionen J. S. Bachs, Buxtehudes, Vivaldis und Torellis nach. Kern dieser Erscheinung, die in historischen Quellen mit dem Begriff »perfidia« umschrieben werde, sei der Gebrauch von Repetitionsfiguren als kompositorisches Mittel der Intensivierung. Wird eine Figur, wie häufig in Mittelsätzen und im Zusammenhang mit virtuos-solistischen Einlassungen, mehr als vier Mal aneinandergereiht, so stelle sich ein Gefühl des ›auf-der-Stelle-Tretens‹ ein. Eine mögliche Konsequenz für Interpret*innen könnte darin bestehen, unverrückbar an der jeweiligen Bewegung festzuhalten, um den Wiederholungscharakter nicht durch zusätzliche Schattierungen zu konterkarieren. Der Analyse weit jüngerer Musik widmete sich Miriam Akkermann, nämlich dem Problem lückenhafter Quellenlage sowie Diskrepanzen zwischen Aufführungen im Bereich der Mixed Music. In der Betrachtung von in der Frühzeit des Pariser IRCAM entstandenen Kompositionen tritt aus heutiger Perspektive sowohl ein philologisches als auch ein paläographisches Problem auf: So wurden die während der damaligen Aufführungen zum Einsatz gekommenen Tonspuren einerseits nirgendwo schriftlich dokumentiert; andererseits sind die verwendeten Computer, Platinen und Tapes – demnach die historischen »Musikinstrumente« – heute nicht mehr erhalten. Die computergestützte Analyse erhaltener Aufführungsmitschnitte könne helfen, um Erkenntnisse zu Genese und Uraufführungsbedingungen dieser Musik zu gewinnen sowie historisch-rekonstruktive Interpretationen zu ermöglichen.

Auch Julian Caskel (Essen) verwies mit seinem Beitrag aus dem Bereich der empirischen Interpretationsforschung auf die Möglichkeiten, die sich durch computergestützte Analyse und den Vergleich historischer Einspielungen für Interpret*innen ergeben können. Dabei zeigte Caskel am Beispiel von Klaviertrios von Schubert, Schumann und Beethoven, dass Aufführende und Musiktheoretiker*innen in ihren Interpretationen auch heute noch mit unterschiedlichen Kategorien und Prioritätensetzungen agieren. So stünden bei ersteren beispielsweise Aspekte wie Tonartencharakteristik, Dynamik und Zeitgestaltung im Vordergrund, während letztere vorwiegend »formale Hierarchiebildungen« und melodisch-harmonische Konstellationen analysierten. Gegenstand der anschließenden Diskussion war die Frage, wie beide Herangehensweisen stärker voneinander profitieren könnten. Reflexionen aus der Perspektive analysierender Ausführender boten Michael Kahr (Graz) und Roberta Vidic (Hamburg). Kahr verwies zu Beginn auf die historische Trennung von (wissenschaftlicher) Analyse und (künstlerischer) Praxis, um anschließend danach zu fragen, inwiefern künstlerische Forschung als Methode der Jazz-Analyse einen Beitrag zur Zusammenführung beider leisten könne. Gerade der Jazz, so Kahr, beruhe auf nonverbalen Vermittlungsformen, und folglich fuße auch Jazzpädagogik großenteils auf implizitem, nur bedingt verbalisierbarem Können und Wissen der Dozierenden. Am Beispiel verschiedener Transkriptionen von Soli und Demonstrationen am Klavier machte Kahr auf das kreative Potential aufmerksam, welches dem Akt der Analyse selbst bereits innewohne – und sich somit für das eigene Spiel fruchtbar machen ließe: Transkriptionen sind demnach letztlich nichts anderes als Interpretationen. Vidic schlug mit ihrem Beitrag zum »Lernen am Modell« den Bogen zurück zu möglichen Konzepten für hochschulische Analyseseminare unter Einbezug instrumentaler Praxis. Welche lerntheoretischen Voraussetzungen hier vorliegen und welche Chancen sich aus Ansätzen eines so gedachten »Forschenden Lernens« in der Verbindung theoretischer und performativer Elemente ergeben können, verdeutlichte Vidic anhand der Reflexion einer eigenen Lehrveranstaltung an der HfMT Hamburg.

Die Beiträge von Tamara Yasmin Quick (München) und Rainer Bayreuther (Trossingen) schließlich widmeten sich der Frage, inwiefern sich ›konventionelle‹ musiktheoretische Herangehensweisen zur Analyse musikalischer Phänomene jenseits traditioneller Kunstmusik eigneten. Quick schlug dabei einen grundlegend erweiterten Ansatz zur Analyse heutiger Theatermusik vor: Ausgehend von neueren Forderungen, Musik sei im Nachvollzug ihrer Aufführungen und nicht allein vom Notentext her zu untersuchen (Nicholas Cook, Beyond the Score: Music as Performance, New York: ,Oxford University Press 2013), könne ein triangulärer Ansatz Möglichkeiten zum Abstecken des »epistemischen Möglichkeitsraumes« von Theatermusik bieten, deren ästhetische Qualitäten stets in einem Verhältnis zum Geschehen auf der Bühne ständen. Mithilfe des Zusammendenkens von Aufführungsanalysen, Probenethnographien und Elementen künstlerischer Forschung ließe sich dieses Verhältnis näher bestimmen; die so generierten Erkenntnisse könnten wiederum für Nachfolgeaufführungen fruchtbar gemacht werden. Bayreuther warf mit einem musikphilosophischen Beitrag die Frage auf, ob zeitgenössische Klangkunstwerke, die sich durch die Interaktion zwischen Mensch und Technologie auszeichnen, mit traditionellen Kategorien wie Harmonielehre, Kontrapunkt oder Formenlehre überhaupt erfasst werden könnten. Anhand eines im Trossinger Studiengang »Musikdesign« entstandenen Abschlussprojektes illustrierte Bayreuther, dass sich bei interaktiven Klangkunstwerken kein linearer zeitlicher Verlauf vorherbestimmen lasse – dies allerdings sei für eine Analyse mithilfe der vorgenannten Kategorien notwendige Voraussetzung. Um musikalische Ereignisse im Wirkungsraum Mensch–Maschine adäquat beschreiben und somit interpretieren zu können, bedürfe es daher der Entwicklung neuer Analyseinstrumente, die über jene der traditionellen Musiktheorie hinausgingen.

Musikalisch begleitet wurde die Tagung durch einen von Thomas Seyboldt geleiteten Konzertabend, welcher Ergebnisse der Stuttgarter Unterrichtsveranstaltungen »Literaturkunde Gesang« (Leitung Bernd Asmus und Thomas Seyboldt) und »Literaturkunde Klavier« (Leitung Hubert Moßburger und Alfonso Gómez) zu Gehör brachte: Drei kurze lecture recitals von Annique Göttler (Klavier, Klasse Hans-Peter Stenzel), Frazan Adil Kotwal sowie Dustin Drosdziok (beide Gesang, Klasse Ulrike Sonntag) sollten veranschaulichen, wie Analyse und Interpretation in der Vorbereitung sowie im konkreten Moment der Aufführung gleichsam »enggeführt« werden können. Gerahmt wurden diese Beiträge durch zwei während der Tagung besprochene Werke: Martina Dimova (Klasse Christian Sikorski) interpretierte J. S. Bachs Violinsonate BWV 1001, Philip Hänisch (Klasse Maria Sofianska) Leoš Janáčeks V Mlách. Gedankt sei allen Vortragenden sowie organisatorisch und musikalisch Beteiligten für eine gelungene Tagung, die das aktuelle Verhältnis zwischen Analyse und Interpretation aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen wie künstlerischen Blickwinkeln beleuchtete und zahlreiche neue Anknüpfungspunkte bot. Besonderer Dank gebührt auch der HMDK Stuttgart für die Bereitstellung von Räumlichkeiten und Budget. Die Ergebnisse der Tagung werden voraussichtlich in der Schriftenreihe Stuttgarter Musikwissenschaftliche Schriften (Band 7) publiziert.