»The Study of Serial Music Technology in China«

11.–12.1.2018

Konservatorium Shanghai

Tagungsprogramm


Gesine Schröder

Über ›total serialism‹ wurde in Shanghai nicht gesprochen; seriell bedeutete hier zwölftönig. »Serial Music Technology«: Technologie plus Musik. Was hierzulande meist – wie in Herbert Eimerts Lehrbuch von 1950 – Zwölftontechnik heißt, wird zusammengebunden mit dem, wozu unter Lemmata wie ›Zwölftonmusik‹ oder ›Zwölftonkomposition‹ nachgeschaut werden kann – beispielsweise seit der ersten Auflage von 1935 in Hans Joachim Mosers Lexikon, zunächst noch mit dem Verweis auf ›atonal‹, in Rudolf Stephans MGG-Artikeln (1968 und 1998) oder in Clemens Kühns Lexikon Musiklehre (2016). Im Kompositum ›Musiktechnologie› kommt die Technologie besser weg als die Musik. Technologie rückt ins Licht, Musik in den Schatten. Warum die Abstinenz von Ästhetischem? Was ist der Grund für die Subtraktion der Kunst vom Werk? Die Adaption, Appropriation oder Anverwandlung eines aus anderen Kontexten stammenden Komponierverfahrens verläuft gewiss erfolgreicher, wenn man die fremden lokalen und historischen Kontexte, die mitgeschleppte Ästhetik ausblendet. Um die analytischen Zugänge vieler Refenrent*innen des kleinen Symposiums am Konservatorium Shanghai zu verstehen, dürfte ein kurzer Blick zurück hilfreich sein. Als zwölftönige Musik chinesischer Komponisten erstmals einem größeren Fachpublikum im Westen bekannt gemacht wurde, nämlich mit einem 1990 in The Musical Quarterly erschienenen »Letter from China« von Zheng Ying-Lie, zeichnete sich dieser Zugang chinesischer Analytiker*innen bereits ab. Zheng konzentrierte sich auf Tonmaterialien. Als ein ästhetischer Rest fungierten aber ethnische Zuschreibungen. Zheng sprach von der Sinisierung der Dodekaphonie, von Zwölftontechnik mit chinesischen Charakteristika. Die Sinisierung vollzieht sich nach seiner Darstellung zumeist über Diastematisches: Reihen setzte man aus pentatonischen Segmenten zusammen. Eine noch vortechnologische Form der Sinisierung, die vom sozialistischen Realismus her weitergewirkt haben dürfte, war der Einschluss regionaler musikalischer Zitate mit zwölftöniger Applikation im Tonhöhenbereich. Wie Zheng durchaus anführte, hatte aber der heute 93-jährige Luo Zhongrong, welcher als Schöpfer der ersten chinesischen Zwölftonkomposition bekannt wurde, daneben andere Adaptionen der Reihenkomposition erprobt, so mit Joseph Matthias Hauers Rezept von Zwölftonmusik, und über Diastematisches hinaus nutzte Luo zusätzlich zu Tonreihen Muster von Rhythmen und Timbres, die er präseriell formiert in traditioneller chinesischer Musik vorfand. Gleichwohl blendeten neuere Zugänge zu dodekaphoner Musik Chinas oft aus, was diese zu Musik macht. Die aktuellen Zugänge begeben sich zum Teil auf einen anderen Weg, und sie verbleiben keineswegs im Lande, auch im globalen Westen stoßen sie auf Interesse. Für drei der vierzehn Vortragenden war das kleine Shanghaier Symposium zur seriellen Musiktechnologie Chinas eine Art Generalprobe. Nur wenige Tage später konnten sie ihre Vorträge nochmals bei einem zweitägigen, von Steven Laitz und Qian Renping, einem Shanghaier Spezialisten für zeitgenössische chinesische Musik, organisierten Symposium an der Juilliard School of Music halten, an dem sich zwanzig US-amerikanische und chinesische Musiktheoretiker*innen aktiv beteiligten und das zum Begleitprogramm eines großen Festival mit zeitgenössischer chinesischer Musik gehörte. In New York sprachen die drei Shanghaier Doktoranden Luo Zhong, Cheng Guo und Hu Lei, Letzterer ist zugleich Leiter der Musiktheorieabteilung am Konservatorium Wuhan, das für die Entwicklung der neueren Musik Chinas immer wieder eine wichtige Rolle gespielt hat.

Das kleine Symposium in Shanghai war das zweite Arbeitstreffen eines trilateralen Forschungsprojekts, auf den Weg gebracht von Zhang Wei, dem kommissarischen Leiter des Graduiertenstudiums am Konservatorium, in Kooperation mit der Musiktheoretikerin Cheong Wai-Ling von der Chinese University of Hong Kong und der Berichterstatterin. Vom Nationalen Fonds der Sozialwissenschaften Chinas wurde das Projekt großzügig finanziell unterstützt. Das anderthalbtägige Symposium setzte ein erstes, derselben Thematik gewidmetes vom Ende 2016 und am selben Ort abgehaltenes fort.

Derlei Projekte des Konservatoriums Shanghai dienen den Doktorand*innen der eigenen Institution als Plattform, um Erfahrungen in der Präsentation ihrer Forschungen zu sammeln. Neben den dreien, die nach New York reisen durften, hielten weitere Doktorand*innen Vorträge: Huo Fanchao, Zheng Mengxian und Zhou Kunjie. Zum Generalthema des Symposiums lieferte Huo einen Forschungsbericht. In dem Jahrzehnt nach 1990 hatte man in China die serielle Musik des eigenen Landes intensiv beforscht. Obwohl die Grundzüge zwölftönigen Komponierens seit den 1920er-Jahren in China bekannt gewesen seien, fand man erst nach dem Sturz der Viererbande Mitte der 1970er-Jahre zu dodekaphonem oder auch auf andere Weise reihentechnisch organisiertem Komponieren, eine Folge der Öffnung gegenüber einer noch immer als neu empfundenen Technik aus westlichen Ländern. Seriell zu komponieren war daher alles andere als eine widerständige Äußerung dissidenter Komponist*innen. Einem gemischt besetzten 1992 entstandenen Oktett der vor mehreren Jahrzehnten schon in die USA ausgewanderten Komponistin Chen Yi widmete sich Zheng. Sie zeigte, auf welche Weise das dodekaphone Stück von dem chinesischen Melodiemodell Baban und den ihm eigentümlichen Spielarten durchzogen ist. Zhou nahm sich eines von fünf zwölftönigen Stücken vor, die in einem vom Pekinger Zentralkonservatorium herausgegebenen Sammelband enthalten sind. 24 renommierte chinesische Komponisten der Gegenwart hatten zu dem Band sogenannte Solfeggi beigetragen, geordnet nach dem 24 Perioden umfassenden traditionellen chinesischen Sonnenzyklus. Im Einzelnen zeigte Zhou dodekaphone Verfahren in Zhang Lidas Stück Weißer Tau auf, eines vor allem mit Filmmusik bekannt gewordenen Komponisten. Über »westliche« tonale und »chinesische« modale Ausformungen in chinesischen dodekaphonen Stücken der letzten vierzig Jahre sprach Luo. Das Kollisions- und Integrationskonzept funktioniert natürlich nur, wenn die Dodekaphonie selber nicht geographisch verortet wird. Sie erscheint als eine neutrale oder besser: neutralisierte Technik, der sich jede ethnische Charakteristik einschreiben lässt. An einem Kunstlied von Zhu Shirui wies Cheng nach, wie traditionelle chinesische Dichtung ihre Strukturierung an seriell komponierte Musik auszuleihen vermag, wobei die serielle Technik wiederum als westlicher Part fungiert. Hu machte sich zum Detektiv. Ein erstaunliches Stück weit konnte er entschlüsseln, was Zhao Xi über Zahlen und Buchstaben mit einer nur erfühlbaren verqueren Rationalität einem Klavierzyklus von 2002 eingeschrieben hatte. Chen Lin, ein Assistenzprofessor aus der nahe Shanghai gelegenen Stadt Suzhou und ehemaliger Doktorand des Konservatoriums, untersuchte zwei 1988 entstandene dodekaphone Kunstlieder von Wang Jianmin. Mit der Verbindung von »westlicher« serieller Technik und chinesischen pentatonischen Modi mache der Komponist Modernes durch dem Ohr chinesischer Hörer Vertrautes zugänglich. Der Vortrag der Berichterstatterin nahm die großteils zwölftönige erste Symphonie (1986) von Zhu Jian’er zum Ausgangspunkt, um zu zeigen, dass die Art, wie der ehemals erfolgreiche Revolutionskomponist die Zwölftontechnik vom Gestischen, vom Ton und von den konkreten Verfahren her so handhabt, dass sich eine Verwandtschaft mit frühen zwölftönigen Stücken Ernst Kreneks einstellt, und zwar über die mit dieser Symphonie assoziierten Genres heroisch-melancholische Staatsaktion und Historienspiel. Auf die Sinisierung über pentatonische Reihensegmente verzichtet Zhu ganz, er legt die Reihe ähnlich Anton Webern als Transpositionen einer viertönigen Tonmenge an. Zusammen mit dem als Assistenzprofessor der Chinese University of Hong Kong verbundenen Hong Ding trug Cheong ihre Forschung dazu vor, inwieweit der allgemeinpolitische Diskurs der 1980er- und 90er-Jahre die analytische Auseinandersetzung mit der Zwölftontechnik berührte. Die Verspätung oder das Spät-Sein zwölftönigen Komponierens in China machten Cheong und Hong vor dem Hintergrund von Disputen der chinesischen Intelligenzija begreifbar. In der auf den Vortrag folgenden Diskussion wurde nicht mehr nach Wegen zur Ethnisierung der Dodekaphonie gefragt, sondern – in Anlehnung an jüngst vorgetragene Thesen des Komponisten Lei Liang – nach Auswegen aus ihr.

Einer Kooperation des Konservatoriums Shanghai mit der Hamburger Hochschule für Musik und Theater ist zu verdanken, dass vier Teilnehmer*innen aus Hamburg zu dem Symposium anreisen konnten: die Musiktheoretikerin Roberta Vidic und die Komponisten Hector Docx, Tristan Xavier Köster und Matti Pakkanen. Die Hamburger*innen sprachen gewissermaßen als Beigabe zum Generalthema des Symposiums über europäische Konzepte, in denen Arnold Schönbergs Methode der »Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« weiterlebte. Docx erläuterte die bei aller schwer nachweisbaren Dodekaphonie spezifisch französische Stilistik von Pierre Boulez’ Douze Notations. Köster interpretierte Witold Lutosławskis Version einer von Aleatorik durchdrungenen Dodekaphonie mit einem politischen Akzent. Die Schreibweise des polnischen Komponisten wollte er als antiformalistisch verstanden wissen und damit als gegen etwas gerichtete Positionierung im Kulturkampf am Ende der Tauwetterperiode. Vidic leistete sich einen gewagten Twist, der ihr beeindruckend gelang. Sie sprach über den Ausweg, den Luigi Nono vom italienischen Serialismus fand. Dessen Contrappunto dialettico alla mente (1968) für zweikanaliges Tonband rekurrierte offiziell auf den Contrappunto bestiale alla mente (1608) von Adriano Banchieri, doch gebe es eine untergründige Bezugnahme Nonos auf jenen Abschnitt aus Ottorino Respighis Pini di Roma (1924), der auf einem phonographierten Vogelgesang basiert. Pakkanen schließlich stellte ein eigenes kompositorisches Konzept der Verbindung von Serialismus mit einer mikrotönig, hier über ›just intonation‹ erweiterten Tonalität vor.

Lehrreich war, wie vermischungsfähig Schreibweisen tatsächlich waren, die für das Gegenteil dessen erfunden wurden, womit andere sie verbanden, manchmal erst Jahrzehnte später. Die Planungen, Thomas Christensens History of Western Music Theory neu zu fassen, und zwar als eine History of Global Music Theory, stecken erst in den Anfängen. Was China angeht, sind bereits Riesenschritte getan, jedenfalls für die Geschichte der neueren Musiktheorie des Landes.