XVII. Mitteldeutsche Tagung für Musiktheorie und Hörerziehung

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Abteilung Musikpädagogik

9.–10.3.2024

Tagungsprogramm

Tuna Dağdelen und Samuel Glowka

Das Thema der diesjährigen Mitteldeutschen Tagung für Musiktheorie und Hörerziehung, abgehalten in Halle an der Martin-Luther-Universität, lautete Musik und Natur. Die Vorträge widmeten sich Themen wie der Darstellung von Naturelementen in Musik, generell der Beziehung zwischen Natur und Musik und der Rolle von Natur in der elektroakustischen Musik. Das inhaltliche Konzept der Tagung stammte von den Vertretern der drei im Rahmen der Tagungsreihe kooperierenden Hochschulen: Jens Marggraf (Halle), Jörn Arnecke (Weimar) und Ipke Starke (Leipzig), die auch die Organisation verantworteten.

Die Tagung begann mit einem Vortrag von Markus Ritzel (Halle, Leipzig) über »Tierdarstellungen im Wandel der Zeiten«. Vor dem Hintergrund der in der jeweiligen Musikepoche vorherrschenden ästhetischen Haltungen analysierte Ritzel, welche Techniken Komponisten wie z. B. Janequin, Biber, Haydn, Beethoven, Schumann oder Messiaen für die Darstellung von Tieren einsetzten bzw. erfanden. Wie auch in anderen Vorträgen deutlich wurde, diente den Komponisten als Inspirationsquelle insbesondere immer wieder Vogelgesang, dessen Umsetzung in menschengemachte Musik im Verlauf der Geschichte jedoch erheblich variiert.

Neben der musikalischen Nachahmung von Tierlauten war ein weiteres Thema die Beziehung zwischen bestimmten als naturnah empfundenen Weltgegenden und Musik. Arne Lüthke (Leipzig) begann seinen Vortrag mit einer Einführung in das, was in der Musik seit dem 19. Jahrhundert jeweils als ›Norden‹ konzeptualisiert wurde, und konzentrierte sich auf musikalische Merkmale, die ›nordische‹ Musik ausmachen sollten, und auf die Mittel zur Generierung eines ›nordic sound‹ in zeitgenössischer Musik. Dabei knüpfte er an Carl Dahlhaus’ Beobachtung an, dass es im 19. Jahrhundert eine vorherrschende Tendenz gewesen sei, Natur (mit der Tendenz von Exotismus und Folklore) mittels statischer Klangflächen darzustellen und sie damit der damaligen musikalischen Norm teleologischer Entwicklung und motivisch-thematischer Arbeit entgegenzustellen.

Der Vortrag von Stefan Keym (Leipzig) über »orchestrale Landschaftsgemälde in der polnischen Musik« hatte eine ähnliche Perspektive. Keym zog Orchesterwerke des 19. Jahrhunderts heran, die Vorstellungen von Landschaften evozieren sollten. Ausführlich analysierte er die symphonische Dichtung Step von Zygmunt Noskowski (1846–1909), das Rondo á la Krakowiak von Fryderyk Chopin (1810–1849) sowie die Rapsodia litewska von Mieczysław Karłowicz (1876–1909) und zeigte auf, inwiefern gewisse Satztechniken als Landschaftsmalerei verstanden werden können und wie die drei Kompositionen in einen intertextuellen Dialog traten.

Die Darstellung von Natur in konkreten Einzelwerken stand im Mittelpunkt der Vorträge von Florian Kleissle (Weimar) und Burkhard Sereße (Halle). Kleissle erörterte, wie die Entwicklung der musikästhetischen Debatten über Naturnachahmung seit Rameau und Rousseau schließlich in die Natursymphonie (1905–1911) Siegmund von Hauseggers (1872–1948) überführt wurde. Dieser habe, beeinflusst von der Pädagogik und Ästhetik seines Vaters Friedrich von Hausegger, seine Musik in den Kontext von Nietzsches apollinischem und dionysischem Dualismus gestellt, der Kleissle zufolge den Zeitgeist der Jahre um 1900 prägte. Ein Naturverständnis derselben Zeit, wenn auch mit einer anderen Facette, legte Sereße in seinem Vortrag über »Naturbezug in Mahlers 1. Sinfonie« dar. Sereße zeigte anhand von Beispielen, wie Gustav Mahler auf dreierlei Art einen solchen Bezug herstellt: erstens in technischer Hinsicht durch Imitation von Vogelstimmen und die Nutzung der Naturtonreihe; zweitens durch ›Jagdklänge‹, die mit der Natur (oder konkret mit Wald und Wild) assoziiert werden, und drittens durch die Verwendung der Melodie seines Orchesterliedes Ging heut morgen übers Feld, die allein wissenden Hörerinnen und Hörern den Naturbezug offenbare.

Ein allgemeines Verständnis davon zu vermitteln, wie Natur in der Musik dargestellt werden kann, war das Ziel des Vortrags von Ulrich Mosch (Genf), der aufzeigte, inwiefern die Überführung von Natur in Musik einen Aneignungsprozess bedeutet, bei dem Naturelemente beispielsweise durch Aufnahmen, durch vokale oder instrumentale Imitationen und durch deren Notation aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst werden. Anhand von Beispielen der Komponisten Heinz Tiessen (1887–1971), Olivier Messiaen (1908–1992), Christoph Delz (1950–1993) und der Komponistin Carola Bauckholt (* 1959) erörterte Mosch das Ausmaß und die Art des Aneignungsprozesses sowie die dafür jeweils eingesetzten Mittel.

Einen ganz anderen Einblick in das Themenfeld ›Musik und Natur‹ bot Jörn Arnecke (Weimar) mit der Vorstellung seines jüngsten Musiktheaterprojekts Welcome to Paradise Lost. Verhandelt werden hier sowohl die altpersische mystische Dichtung Die Konferenz der Vögel, wobei die Vogelstimmen in Arneckes Adaption bis zur Unkenntlichkeit transformiert erklingen, als auch die gegenwärtige Naturzerstörung bzw. der Klimawandel. Ein Sprechchor von Jugendlichen verweist dabei nicht nur auf die (politische) Aktualität, sondern regt gleichzeitig auch das Suchen und Finden eigener Positionen an.

Das Material, aus dem Musikinstrumente und deren Zubehör gemacht sind, rückte im Folgenden Jens Marggraf (Halle) ins Zentrum des Interesses. Ein Streifzug durch die Taxonomie von Lebewesen offenbarte, dass unter der Vielzahl von Tieren – von Weichtieren über Insekten, Fische, Reptilien, Vögel bis zu den Säugetieren – bzw. Tierprodukten (sogar Milch!) keine Klasse existiert, die nicht für die Instrumentenherstellung Verwendung findet. Der Ersatz durch synthetische Materialien sei dabei nicht immer möglich bzw. führe zu einer Verminderung der Funktionalität und/oder der Klangqualität. Als vegan könnten letztlich nur Blockflöten (ohne Bienenwachsüberzug), Blechblasinstrumente (ohne Perlmuttventile) und Posaunen (mit veganem Zugfett) bezeichnet werden.

Zum Abschluss des ersten Tages gestalteten Georg-Friedrich Wesarg (Cembalo und Rezitation) und Danilo Kunze (Gitarre; beide aus Weimar) einen »Englischen Abend« mit Liedern von William Byrd, John Dowland und dem Nocturnal after John Dowland op. 70 von Benjamin Britten. Die Texte der englischen Dichtungen waren dabei mindestens so beklemmend wie das Spiel der beiden beeindruckend.

Einen elektroakustischen Block am folgenden Sonntag eröffnete Egor Poliakov (Leipzig) mit der Vorstellung von Machine-Learning-Ansätzen zur Klanganalyse und -klassifikation. Er erinnerte daran, dass Sonogramme bzw. Sonographen bereits lange, bevor sie zu Kompositions- oder Analysezwecken in der Musik eingesetzt wurden, in der Bioakustik Verwendung fanden und dort das Erkennen verschiedener (Tier-)Laute und deren sehr feine Unterscheidung voneinander erlaubten. Die hierfür erstellte Python-Bibliothek scikit-maad lasse sich gewinnbringend auch für die Musikforschung nutzen. Niayesh Ebrahimisohi (Leipzig) sprach über die belgische Komponistin Annette Vande Gorne (* 1946), die in ihrem Treatise on Writing Acousmatic Music on Fixed Media zehn natürliche Energiemodelle, z. B. kinetische oder materielle, klassifiziert und deren Verhältnisse zueinander bestimmt hatte. Dieses Theoriegebilde kann als analytischer Extrakt ihres eigenen kompositorischen Schaffens betrachtet werden. Ebrahimisohi wandte es auf den von 1983 bis 1991 entstandenen Tao-Zyklus an, der sich den fünf Elementen des Taoismus widmet. Ipke Starke (Leipzig) untersuchte im Anschluss die »Satztechnik in der Soundscape-Komposition«. Anhand mehrerer Beispiele zeigte er auf, wie die Herkunft rhythmischer Strukturen (Glocken, Fahrräder und Möwen in Venedig) und bestimmter Tonhöhenkonglomerate (Klatschen des Wassers gegen einen Ponton) auch außerhalb des Konzertsaals in einer kompositorisch verwandelten Klangumwelt erkennbar bleibt. Der formalen Gestaltung solcher Soundscapes dienten insbesondere Wiederholungen und Varianten solcher Strukturen.

Im letzten Beitrag präsentierte Johanna Koerrenz (Weimar, Dresden) praktisch (mit eigenem Spiel) und historisch (mit einem Abriss der Vorgeschichte) das Verrophon. Dieses erst 40 Jahre alte Instrument aus gestimmten Glasröhren kann als Nachfolger der zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der Mode gekommenen Glasharmonika betrachtet werden. Erfunden von Benjamin Franklin, wurde ihr als ›sphärisch‹ beschriebener Klang u. a. von Komponisten wie Mozart und Beethoven eingesetzt. Im 19. Jahrhundert wandelte sich die Idiomatik des Instruments, und es tauchte beispielsweise in einer Wahnsinnsarie von Donizetti ebenso auf wie man es zu Therapiezwecken zu nutzen suchte. In Jörn Arneckes Musiktheater Welcome to Paradise Lost (s. o.), bei der Koerrenz am Verrophon mitwirkte, erlangte dieses durch die Zerbrechlichkeit des zentralen Werkstoffes Glas auch eine metaphorische Bedeutung für die Fragilität unseres Ökosystems.

Im Abschlussplenum wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Tagung das Thema Musik und Natur im Sinne von ›Naturdarstellungen in Musik‹ auffasste und den ganzen Bereich von ›Naturwissenschaften und Musik‹ aussparte, der gleichwohl ein lohnendes Tagungsthema sein könne. Den Organisatoren und dem unterstützenden Team vor Ort wurde für den reibungslosen Ablauf abschließend herzlich gedankt.


Zu den Autoren

TUNA DAĞDELEN studierte Wirtschaft, Kulturwissenschaften und Komposition in Istanbul, Ankara und Leipzig. Außerdem nahm er an verschiedenen Kursen und Meisterkursen für Chorleitung teil. Seit 2023 studiert er Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig und arbeitet als Musiklehrer an verschiedenen Musikschulen sowie als Hilfskraft im Erasmusbüro der HMT Leipzig.

SAMUEL GLOWKA studiert seit 2019 Musikwissenschaft, Archäologie der Ur- und Frühgeschichte und Digital Humanities an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena und war bzw. ist dort jeweils auch als Hilfskraft tätig. Im Masterstudium widmet er sich vertiefend der Historischen Musikwissenschaft und Musiktheorie. Zurzeit ist er Geschäftsführer des Dachverbandes der Studierenden der Musikwissenschaften e.V. (DVSM).