XVIII. Mitteldeutsche Tagung für Musiktheorie und Hörerziehung

Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig

14.–15.3.2025


Tagungsprogramm

Cosima Lander

Unter dem Titel »Fragmente. Stille« wurde Mitte März die XVIII. Mitteldeutsche Tagung für Musiktheorie und Hörerziehung an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig abgehalten. Die Konzeption und Organisation hatten wiederum Jörn Arnecke (Weimar), Jens Marggraf (Halle) und Ipke Starke (Leipzig) übernommen, diesmal unterstützt von Franz Kaern-Biederstedt (Leipzig) und Robert Rehnig (Weimar/Leipzig).

Nach der Begrüßung durch die Organisatoren eröffnete Rehnig am Freitagnachmittag die Reihe der Vorträge mit einer Vorstellung seines Promotionsprojekts, das, passend zum Tagungsthema, der Stille gewidmet ist. Er stellte die Frage, wie es zu einem Begriff von Stille kommen kann, wenn wir sie nicht losgelöst von jeglichem Kontext erleben oder empirisch nachweisen können. Die Antwort sei hier eine negative Bestimmung als Abwesenheit von Klang. So wie es im Visuellen eine Draufsicht und eine abgewandte Seite gibt, existiert auch im Auditiven ein Klang, der durch die Perzeption von Schallwellen entsteht, und ein abgewandter Teil, die Stille, bei der nichts mehr hörbar wird. Thematisch daran anschließend befasste sich Starke mit den Möglichkeiten, Stille in Musik umzusetzen. Er knüpfte an Ludwig Finscher an, der in seinem diesbezüglichen MGG-Artikel Stille und Pause allein nach ihrer musikalischen Bedeutung unterscheidet, und befasste sich mit Motetten von Guillaume de Machaut, die in Leipzig als ›Pausenkanons‹ firmieren, einem von Siegfried Thiele geprägten Begriff. Anhand weiterer Werke ging er auf andere Möglichkeiten der musikalischen Verwirklichung von Stille ein, die sich vom stufenweisen Auflösen eines Klanges zur Stille (Giacinto Scelsi, Aitsi) bis hin zum Sichtbarmachen einer verborgenen »Melodie der Orte« durch Transkription eines Soundscape (Starke, Caché) und somit der metaphorischen Stille erstrecken. Im folgenden Referat nahm sich Michelle Kellermann (Halle) des ersten Teils des Tagungsthemas an, indem sie György Kurtágs Kafka-Fragmente für Sopran und Violine untersuchte. Anhand von Auszügen zeigte sie, wie Kurtág Kafkas Texte vertont, und demonstrierte praktisch spieltechnische Schwierigkeiten auf der Violine. Wiederum mit einem einzelnen Komponisten beschäftigte sich Andreas Dorfner (Detmold/Leipzig), der einige Werke Bernd Alois Zimmermanns vorstellte. Er ging auf die Korrelation der Oper Die Soldaten und des Orchesterwerks Stille und Umkehr ein und beleuchtete die aphoristischen Tendenzen in Werken aus Zimmermanns letzten Lebensjahren. Als Beispiel diente dessen letztes Werk Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, in dem unter anderem Textfragmente Fjodor M. Dostojewskis und ein Zitat des Bach-Chorals »Es ist genug« zu finden sind.

Das Ende des ersten Tages leiteten Daniel Roth und Marius Staible (Duo con:trust, Weimar) mit einer Concert-Lecture zu dem Projekt »Encounters« ein. Hierbei handelt es sich um die Erstellung von Kompositionen für ein Akkordeon-Duo, die in Kooperation mit der Manhattan School of Music und dem dortigen Kompositionsprofessor Reiko Fueting von Studierenden geschrieben wurden. Die beiden Vortragenden erläuterten besondere Spieltechniken des Akkordeons und brachten einige Stücke zu Gehör. Das Konzert und damit den Abend beschloss Max Grimm (Leipzig), der Palais de Mari von Morton Feldmann am Flügel darbot.

Der Samstagmorgen begann mit einem Vortrag über »Klingende Stille«, gehalten von Markus Ritzel (Halle). Er untersuchte Werke verschiedener Komponist*innen, von Monteverdi über Schumann bis Szymanowski, die oft schon den Begriff ›Stille‹ im Titel trugen. Leiten ließ sich Ritzel von der Frage, wie Stille ›klingend‹ umgesetzt wird, welche Mittel Komponist*innen also nutzen, um atmosphärisch Stille zu erzeugen, seien es bei Monteverdi kurze Phrasen und viele Pausen, die den musikalischen Fluss unterbrechen und die Etablierung eines Metrums verhindern, sei es in Schuberts Meeres Stille die äußere Ruhe und Statik durch den gleichbleibenden, sich kaum verändernden Duktus von Singstimme und Klavierbegleitung. Thematisch bestanden zwischen den Vorträgen große Unterschiede, wodurch für Abwechslung gesorgt wurde. Arnecke stellte beispielsweise das Projekt »Musik-Automat« der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar vor. Es handelt sich bei dem Automaten um eine Künstliche Intelligenz, die mit 3000 Klavierwerken gespeist wurde und nun eigene musikalische Ansätze, angelehnt an Komponistenstile, entwickeln kann. Arnecke schlug Anwendungsmöglichkeiten für den Haupt- und Nebenfachbereich vor und gab auch Einblicke in Hochschulkonzerte, bei denen im Dialog von Maschine und Mensch entstandene Werke aufgeführt wurden. Anschließend konnte das Publikum die KI selbst ausprobieren und sich einen eigenen Eindruck von ihren Möglichkeiten, aber auch aktuellen Grenzen verschaffen. Von der digitalen ging es zurück in die analoge Welt, die sich nun aber mit ersterer verbinden sollte. Christoph Meixner (Weimar) nahm das Publikum mit auf eine Reise »Vom Fragment zur Quelle« und gab einen Einblick in seine aktuelle Archivarbeit. Er erklärte, wie die Restauration und Digitalisierung von Tonbändern vonstatten geht, und präsentierte Ergebnisse, darunter eine Aufnahme von Mozarts Sinfonie Nr. 33 (B-Dur, KV 319) mit dem Deutschen Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Erich Peter aus dem Jahr 1948. Dem Thema ›Stille‹ wendete sich Kaern-Biederstedt in seinem Vortrag zu, indem er es anhand der Gattung Oper beleuchte. Er schlug eine Unterteilung in fünf Situationen der Stille vor, für die er jeweils Beispiele anführte: zuerst die tatsächliche Stille, wenn Gesang und Orchester gleichermaßen schweigen; dann zwei Arten von partieller Stille, bei der entweder Gesang oder Orchester zu hören sind; außerdem die ›Fast-Stille‹, die sich durch Reduktion und Konzentration des Klangs auszeichnet, sowie explizite Stille wie in Bergs Wozzeck: »Still, alles still, als wäre die Welt tot«. Marggraf widmete sich anschließend den Arten von Fragmenten in der Musik. Er beschrieb eine Reihe verschiedener Möglichkeiten, von unvollendeten Werken über einzelne erhaltene Stimmen oder Texte bei Monteverdi oder das Libretto einer Oper von Schütz bis hin zu Fragmenten von Instrumenten, wie einer Orgel ohne Pfeifen im historischen Museum von Stockholm. Die zwei abschließenden Vorträge begaben sich thematisch auf eine Reise nach Korea. Hyewon Son (Leipzig) sprach über die Bedeutung von Stille und Zäsur in traditioneller koreanischer Musik. Sie beschrieb eine Art innere Spannung, mit der die Musik empfunden und ausgeführt wird: Demnach wird in langen Phrasen gedacht, und Pausen werden nicht als Unterbrechung, sondern als Erwartung des nächsten Klangs angesehen. Sie gab außerdem einen kleinen Einblick in traditionelle Notationsweisen koreanischer Musik und führte Aufnahmen von traditionellen koreanischen Instrumenten wie der Wölbbrettzither Gayageum vor. Joachim Heintz (Hannover) stellte sein 2019 entstandenes Werk Die Trauer der Fische für 4-Kanal-Elektronik vor, welches auf der Mitschrift einer Zeugenaussage über ein Massaker in Südkorea im Jahr 1948 basiert. Dieser koreanische Text wurde eingesprochen und daraufhin von Heintz elektronisch analysiert, gefiltert und mit sich selbst überlagert. Wichtig sei ihm gewesen, sich bei seiner Arbeit als Komponist in eine gewisse Distanz zu dem Sujet zu begeben, denn er selbst könne die in dem Eingesprochenen geschilderten grausamen Ereignisse (zeitlich, geografisch und vor allem emotional) auch nur aus der Ferne nachvollziehen.

Im anschließenden und zugleich die Tagung beschließenden Konzert konnte dieses Werk vollständig gehört werden. Wie auch schon am vorherigen Tag gab es wieder ein Lecture-Recital, diesmal von Panagiotis Tzortzis (Weimar) auf der Gitarre, der Werke von Leo Brouwer vorstellte. Besonders ging er auf Fragmente von Brouwer ein, die der Komponist zum Teil aleatorisch miteinander verbunden hatte. Neben Stücken, von denen in Vorträgen die Rede war (Giacinto Scelsi, Klarenz Barlow), wurden 2025 entstandene fixed-audio-Kompositionen von Niayesh Ebrahimi und Hyewon Son aufgeführt. Zusätzlich zu den Referaten und Konzerten bot die Tagung zwei Klanginstallationen, die durchgängig besucht werden konnten: Robert Rehnigs dissociative whispering machine (fragments about silence), eine interaktive Audioinstallation, und Stille von Robin Minard, eine Installation mit zwei Flügeln, einem Ballon, Lautsprecher und Wandler.

Zum Beschluss wurde den Organisatoren, Vortragenden, Musizierenden sowie allen weiteren Beteiligten, die sich um die Technik, das Buffet und einen reibungslosen Ablauf kümmerten, herzlich gedankt und ein Ausblick auf die Tagung im nächsten Jahr gegeben, die dem Turnus folgend wieder in Weimar stattfinden wird.

Zur Autorin

COSIMA LANDER studiert seit 2023 Schulmusik mit Hauptfach Blockflöte an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig und Mathematik an der Universität Leipzig. Darüber hinaus singt und spielt sie in diversen (Projekt-)Chören und Ensembles.