XV. Mitteldeutsche Tagung für Musiktheorie und Hörerziehung

Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig

13.–15.5.2022

Tagungsprogramm

Arne Lüthke


Die Mitteldeutsche Tagung für Musiktheorie und Hörerziehung fand zuletzt im Frühjahr 2020, kurz vor dem ersten coronabedingten Lockdown, an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg statt und wurde in diesem Jahr an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« in Leipzig unter der Überschrift »Heimat in der Fremde« im intimen Ambiente des Musiksalons veranstaltet. Die diesjährige Organisation übernahmen dankenswerterweise Fojan Gharibnejad und Ehsan Mohagheghi Fard aus der Abteilung für Komposition und Tonsatz.

Verschiedene Vorträge nahmen kulturelle Parallelerscheinungen beziehungsweise sich unabhängig voneinander entwickelnde kulturelle Praxen mit gemeinsamen Wurzeln in den Blick. So sprach der in Weimar das Fach Transcultural Music Studies lehrende Tiago de Oliveira Pinto u.a. über Spuren von Heimat am Beispiel des Theaters und der Kirchenmusik in Brasilien, über die weltweite Verbreitung europäischen Instrumentariums sowie über »unexpected affinities« am Beispiel der im thüringischen Apolda gegossenen Kirchenglocke im vormals deutsch-kolonialen Windhoek (Namibia). Diana Lizura (Weimar) gab einen Überblick zur Theorie und Praxis des georgischen Gesangs und ging dabei auf regionale Unterschiede und Grundtypen der Mehrstimmigkeit ein. Ausgehend von einem unter Anleitung der Referentin vom Publikum gesungenen Satz entspann sich eine Diskussion darüber, ob nicht Grundprinzipien einer vokalen Improvisationspraxis zu einer ähnlichen Mehrstimmigkeit im westlichen Europa und in Georgien führen konnte, obgleich sich die mittelalterliche westeuropäische Mehrstimmigkeit und die georgische nach jetzigem Kenntnisstand unabhängig voneinander entwickelten. Andere Referent*innen sprachen über fremdländische Einflüsse in europäischer Musik. Michael Pinkas (Wien/Prag) exemplifizierte dies in seinem von Gesine Schröder verlesenen Vortrag anhand von Émile Jaques-Dalcroze und Béla Bartók und ihren jeweiligen Prägungen durch Algerien-Aufenthalte. Anhand der Mélodie arabe zeigte Pinkas die Verwendung traditioneller, nicht funktional deutbarer Akkorde und ging auf Bartóks Beschreibungen der von ihm herausgegeben Arabischen Melodien mit traditionellem musiktheoretischem Sprachrepertoire ein. Elnaz Pegah (Heidelberg) sprach über die Rezeption des persischen Dichters Hafis sowohl in deutschsprachigen literarischen Adaptionen als auch im Kunstlied des 19. Jahrhunderts. Anschließend verglich sie – unter besonderer Berücksichtigung des Windmotivs – die Kompositionen Suleika I und II (Vertonungen von Gedichten aus Goethes West-östlichem Divan) von Franz Schubert und Felix Mendelssohn Bartholdy miteinander. Magdalena Moser (Wien/Graz) stellte eine Sammlung japanischer Volksliedbearbeitungen mit dem Titel Nippon Gakufu vor, die der aus Galizien stammende Rudolf Dittrich – dieser wurde im Jahr 1888 Direktor des Konservatoriums Tokio – herausgab, und verdeutlichte das auf japanischen Skalen basierende Tonmaterial anhand dieser Lieder. Deren Prinzipien westlicher Harmonik entsprechende Begleitung löste beim Publikum Befremden aus. Ebenfalls über den geographischen Raum Japan sprach Daniel Roth, der Toshio Hosokawas Einbezug europäischer Musikelemente diskutierte und seine Überlegungen an dessen Akkordeonstück »Slow Motion«, durch Marius Staible gespielt, exemplifizierte. Friederike Rendenbach (Weimar) referierte über musikalische Transkulturation am Beispiel aktueller Chormusik in der Lutherischen Kirche Tansanias vor dem historischen Hintergrund der Kolonisierung und Christianisierung. Sie befand, dass die Chorstücke für Kinder weniger deutlich europäisch beeinflusst seien als jene für Erwachsene.

Einen breiten Raum nahmen Betrachtungen zur persisch geprägten Musikkultur ein. Ehsan Mohagheghi Fard (Leipzig) berichtete über Strömungen persischer Kunstmusik im 20. Jahrhundert, insbesondere über »Ney-Nava« für Ney und Streichorchester (1985) von Hossein Alizadeh, bei dem traditionelle Instrumente eine klassisch anmutende Partitur anreichern. Fojan Gharibnejad (Leipzig) umriss zunächst die Geschichte der Teheraner Spezialmusikschule, an der noch heute die westlichen Instrumente gegenüber den traditionellen persischen Instrumenten als höherwertig begriffen werden, und fasste das dort verwendete Buch der Elementarlehre persischer Musik zusammen. Parang Farazmand (Halle/Saale) führte kurz in den kurdischen Sprachraum ein und verwies darauf, dass aufgrund der vielen kurdischen Subkulturen kein universelles musiktheoretisches System existiert. Beispielhaft für ihre Darstellung zur »Kurdish Diasporic Music« in Schweden sei der »Kurdish-Western-Song« erwähnt, bei dem aufgrund der Akkulturation allein im Gesang noch kurdische Wurzeln identifizierbar sind. Wie man sich einer anderen Musikpraxis ohne Vorkenntnisse nähern kann, verdeutlichte Johanna Richter (Weimar) am Beispiel von indischen Ragas. Im anschließenden Pausengespräch entspann sich eine Diskussion darüber, inwiefern zum Einbezug weit entfernter Musikpraxen in den musiktheoretischen Unterricht Tandemlösungen, also gemeinsames Unterrichten mit hinzugezogenen Expert*innen sinnvoll wäre. Claus-Steffen Mahnkopf (Leipzig) berichtete von seinen Lehrerfahrungen als Professor für Komposition an der Leipziger Hochschule im Umfeld von internationalen Studierenden und den Erwartungen an ein Studium, die diese mitbringen. Im abendlichen musiktheoretischen Streitgespräch, moderiert von Fojan Gharibnejad, diskutierten Sarvenaz Safari (Leipzig), Hristina Šušak (Leipzig), Jörn Arnecke (Weimar), Claus-Steffen Mahnkopf sowie Jens Marggraf (Halle) über unbewusste Aneignungsprozesse beim Komponieren und daraus abzuleitende Herausforderungen für die Hochschulbildung. Der Samstagabend klang pianistisch aus: Yuko Ueda (Hiroshima) spielte Werke von Toshio Hosokawa, Dai Fujikura u.a. und führte diese jeweils ausführlich ein. So erklärte sie die rhythmische Nachahmung des Kinderspiels Ayatori bei Fujikura. Während des Schlussplenums wurden wiederholt die Vorteile einer Präsenzveranstaltung und die gute Organisation gelobt. Nächstes Jahr findet die Tagung erneut im späten Winter in Weimar statt, voraussichtlich zum Themenkomplex »Stilgebundene Komposition«.