Kontrapunkt-Traditionen (I) – Johann Joseph Fux und der Kontrapunkt im 18. Jahrhundert

Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

2.6.2023

Tagungsprogramm

Britta Giesecke von Bergh

Bereits für 2020 geplant und pandemiebedingt verschoben, fand nun am 2. Juni 2023 am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) der Auftakt zur Symposienreihe Kontrapunkt-Traditionen statt. Die dreiteilige Symposienreihe führt die mdw in Kooperation mit der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Universität Mozarteum Salzburg durch. Im Fokus der Wiener Auftakt-Veranstaltung standen die Entwicklung und Bedeutung des Kontrapunktbegriffs, die Synopse von Kontrapunktlehren vornehmlich des 18. Jahrhunderts sowie wechselseitige Wirkungen zwischen ihnen und der Kulturgeschichte und Kompositionspraxis ihrer Zeit.

Die Begrüßung der ca. 25 teilnehmenden Gäste und fünf Referent*innen übernahm Patrick Boencke (Wien). Er zeigte sich erfreut über die postpandemische Situation, die die Durchführung des Symposiums nun gestattete.

Der Titel der Wiener Veranstaltung verweist namentlich auf jenen Komponisten und Theoretiker, dessen Lehrdialog Gradus ad Parnassum (1725) unzweifelhaft ein Meilenstein der Kontrapunktlehre des 18. Jahrhunderts und weit darüber hinaus ist. Dabei steht Johann Joseph Fux nicht nur für eine bis heute vielfach reflektierte und diskutierte Unterrichtsmethodik, sondern in dem Zusammenhang auch für ›Glaubensfragen‹ in Sachen Kontrapunkt. Mit Blick auf die unterschiedlichen Schwerpunkte der Vortragsthemen wurde jedoch schnell deutlich, dass die Veranstaltung viel mehr versprach als eine erneute Beschäftigung mit dem Gattungskontrapunkt.

Hinsichtlich unzähliger, Bibliotheken füllender Publikationen – theoretisches, praktisches, pädagogisches Schrifttum und allerlei dazwischen – und nicht zuletzt des großen GMTH-Kongresses zum Thema »Kontrapunkt« 2018 in Bremen scheint die Frage, die Reinhard Kapp (Wien) zu Beginn seines Eröffnungsvortrags aufwarf, berechtigt: »Was ist da noch zu tun?« Eine Menge. Dies wurde in dem sich dieser Hauptfrage anschließenden scheinbar unendlichen Fragenkatalog mehr als deutlich: Um welchen Gegenstand handelt es sich, wenn wir den musiktheoretischen Komplex Kontrapunkt erforschen? Um kompositorische Praxis und deren Analyse? Um (historische) Wissenschaft? Systematik? Philosophie? Pädagogik? Wie steht es um das Verhältnis zwischen Regelwerk und Werkverständnis? Wer sind die Musiktheoretiker*innen der Werke, die wir lesen, eigentlich? Techniker*innen? Philosoph*innen? – Eine Antwort im Urwald des gewaltigen Themenfeldes erwartete wohl niemand im Auditorium, daher ging es Kapp vielmehr darum, für die Komplexität des Themas zu sensibilisieren, die historische Informiertheit des Publikums etwas »aufzuwühlen« und so schließlich die Aufmerksamkeit auf Definitionsversuche zu lenken: Was ist Kontrapunkt? Dazu holte er weit aus: Beginnend mit Quellen zur frühen Mehrstimmigkeit legte er den Fokus auf einige Termini der Musica enchiriadis (9. Jahrhundert). Das Verhältnis von vox principalis und vox organalis eines Quartorganums beispielsweise wirft grundsätzliche Probleme der Kontrapunktdefinition auf: Liegt der Entstehung der Stimmen das Prinzip der Gleichzeitigkeit zugrunde, des Konsonierens verschiedener zusammenklingender Töne? Oder geht es um die in einer Gegenstimme (contra!) ausgedrückte Reaktion auf einen bestehenden cantus im Sinne eines Respondierens? Anregend für die sich dem Vortrag anschließende kurze Diskussion zum Kontrapunktbegriff war sicherlich die offenkundige Beliebigkeit des Wortgebrauchs von punctus und nota, die in dem Traktat Cum nota sit (1350) suggeriert wird. Anhand dieser Schrift, die die erste gängig gewordene Definition von Kontrapunkt enthält, stellte Kapp insbesondere mit dem Begriffspaar ponere vel facere heraus, was die Kontrapunktforschung und -praxis bis heute beschäftigt: Den Ton, die Note zu setzen, festzuhalten, auszuführen oder zu notieren – schon hieran knüpfen unzählige der eingangs von Kapp aufgeworfenen Fragen und Themenfelder an, wie beispielsweise die Bestimmung des (Unterrichts-)Gegenstandes von Improvisation. Von der Frage nach der Hierarchie der Stimmen im gesungenen oder instrumental ausgeführten Stimmenkomplex über verschiedene Kontrapunktstile und -schreibarten, das Zusammentreffen der Stimmen in Akkorden, die direkte Konfrontation von Kontrapunkt mit der musiktheoretischen Säule ›Harmonielehre‹ im sogenannten Generalbasszeitalter bis hin zu Fragen nach Zweck und Affekt des Kontrapunktes beleuchtete Kapp exemplarisch die Entwicklung des Kontrapunktbegriffs anhand einschlägiger Traktate wie Johannes Tinctoris’ Liber de arte contrapuncti (1477), Gioseffo Zarlinos Istitutioni harmoniche. La terza parte (1558), Christoph Bernhards Tractatus compositionis augmentatus (um 1650) und schließlich im 18. Jahrhundert Fux’ Gradus ad Parnassum. Neben Feinheiten der Definitionen und terminologischer Fülle zeigte Kapps Überblick auch dies: Eine präzise Lektüre der Schriften zum Kontrapunkt seit dem Mittelalter spricht für die Aufhebung der so oft postulierten Trennung von Harmonielehre, Formenlehre und Kontrapunkt oder von Palestrina- oder Bachstil etc. Kapp schlug stattdessen eine soziologische, auch das kulturelle Umfeld einbeziehende Betrachtungsweise des Kontrapunktes in all seinen historischen und gegenwärtigen Facetten vor. Jenseits von Epochengrenzen würden solcherart viele der eingangs gestellten (Leit-)Fragen aufgegriffen und die Beschäftigung mit Kontrapunkt in ein komplexes, theoretisch-praktisches System von Kompositionswissenschaft und Kompositionslehre eingebettet. Auch darum gab Kapp zu guter Letzt einen Ausblick auf Schriften auch des 19. und 20. Jahrhunderts.

Ausgestattet mit diesem umfassenden Einblick in das den Kontrapunkt betreffende Schrifttum über die Jahrhunderte hinweg und mit vielen Anregungen versorgt, stieg die Neugier der Zuhörer*innen auf den anschließenden Vortrag von Daniel Fulda (Halle). All die aufgeworfenen Fragen schienen hier zunächst aus dem Blick zu geraten, denn im Zentrum des Vortrags stand der Roman Aufklärung (2022) von Angela Steidele. Aus einer dezidiert germanistischen Perspektive beleuchtete Fulda Aspekte von Erzähltechnik, soziologische Aspekte der Figurenkonstellationen und genderrelevante Themenstellungen in dem Roman. Der ausgewiesene Aufklärungsforscher Fulda stellte einen Roman vor, der in seiner Erzählweise und vom Sujet her buchstäblich Licht- und Schattenseiten der Aufklärung nachgeht. Wo blieb da aber der Kontrapunkt? Fulda zeigte auf, dass zwischen einer Epochenströmung auf der einen und einer musiktheoretischen Disziplin auf der anderen Seite eine Art koinzidente Verbindung bestand, die sich in dem Roman musikliterarisch zwar kaum konkret niederschlägt (wie beispielsweise die Zwölftontechnik in Thomas Manns Doktor Faustus), die dafür den »Sitz des Kontrapunkts«, wie Kapp es zuvor genannt hatte, gesellschaftlich verortet. Johann Sebastian Bachs Hauptwerke, auf die der Roman immer wieder referiert, sind direkt und indirekt musikalische Kulisse der Stadt Leipzig zur Zeit der Aufklärung. Geschrieben aus der Sicht von Dorothea Bach, verwirklicht der Roman laut Fulda Kontrapunkt, indem eine frauenzentrierte, kritische Perspektive dem »Gelehrtentum« der Aufklärungsepoche entgegensetzt wird bzw. es kontrapunktiert. Der Diskurs zur Wechselwirkung von Literatur und Musik mag ein alter Hut sein, doch ergab die sich Fuldas Vortrag anschließende Diskussion, dass der Verdacht, literarisch zum Klingen gebrachte Musik solle die Literatur in gewisser Weise aufwerten, im Hinblick auf diesen Roman nachvollziehbar ist, zumal im Falle von Steideles Roman das Hörerlebnis mittels Fußnotenverweisen auf YouTube-Aufnahmen und andere audiovisuelle Quellen ganz unmittelbar dem Lesevergnügen aufhelfen kann – technische Errungenschaften des 21. Jahrhunderts wirken sich so auf das literarische Erleben natürlich in hohem Maße aus.

Melanie Unseld (Wien) fokussierte in ihrem Vortrag mit dem Titel »Von der Praxis des Kontrapunktlernens und -lehrens im 18. Jahrhundert« das eng geknüpfte Netz aus Schüler- und Lehrerpersönlichkeiten. Sie nahm das in den Blick, was im engeren Sinne als Kontrapunktlehre des 18. Jahrhunderts bezeichnet werden darf. Das Astwerk des Stammbaums aus Komponist*innen, Lehrer*innen und Schüler*innen, aber auch passiven Rezipient*innen der Lehrbücher mag unüberschaubar erscheinen. Unseld zeichnete daher einige Verzweigungen genauer nach, so beispielsweise den Kontrapunktunterricht, den die Sängerin und Komponistin Marianna Martines bei Giuseppe Bonno (Kapellmeister der Wiener Hofkapelle von 1774–1788) genommen hatte. In einem Brief von 1773 hatte Martines von täglichen Übungen und Studien der Werke Georg Friedrich Händels oder Antonio Caldaras berichtet. Quellen zu berühmten Lehrer-Schüler-Konstellationen wie Johann Georg Albrechtsberger und Ludwig van Beethoven, denen noch ein späterer Vortrag gewidmet war, oder Thomas Attwood und Wolfgang Amadé Mozart wurden in Unselds Vortrag nur gestreift. Erwähnung fand aber eine Skizze von Mozarts Schülerin Barbara Ployer am Rande einer Ausgabe von dessen Klaviersonate KV 448; diese Skizze gab einen lebendigen Einblick in die Lehr- und Lernatmosphäre im 18. Jahrhundert – ein weites Feld mit lauter bunten Blumen, bei denen die Unterscheidung zwischen kontrapunktischen und harmonischen Blüten nicht immer leichtfällt.

»In welchen Narrativen und Wertesystemen ist ›Kontrapunkt‹ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verortet?« Dieser Frage ging detailgenau und zugleich enzyklopädisch Oliver Wiener (Würzburg) nach. Er steckte eingangs den semantischen Rahmen ab, den der Begriff ›Kontrapunkt‹ über seinen engeren Sinn als Satztechnik, Handwerkslehre und Pädagogik hinaus hat. Ähnlich umfassend wie bereits Kapps Fragenkatalog zu Beginn des Symposiums führte Wiener ganz unterschiedliche Stränge von ästhetischen und historischen Betrachtungsweisen an, in die Kontrapunkt im weiteren Sinne Eingang fand, neben Kontrapunkt als Satztechnik und als Lehrart auch Kontrapunkt als Gattung und/oder als Konglomerat von Teilen und Techniken der Fuge, als Stil oder als kulturelles Kapital, nicht zuletzt auch Kontrapunkt als musiktheoretische Teildisziplin und als entwicklungsgeschichtliche Etappe. Um eine Schneise ins Dickicht dieser Bedeutungen zu schlagen, begann Wiener seine Ausführungen mit einer Synopse von Christian Ludwig Bachmanns Entwurf zu Vorlesungen über die Theorie der Musik (1785) und Johann Nicolaus Forkels Über die Theorie der Musik (1777). Im direkten Vergleich der Inhaltsverzeichnisse dieser Schriften wird u.a. eine unterschiedliche Adressierung durch die beiden Autoren deutlich. Bachmann schrieb offenbar weniger für den theoretisch anspruchsvollen Liebhaber, an den sich Forkel gewendet hatte. Interessanterweise umging Forkel zudem den Begriff ›Kontrapunkt‹, während Bachmann dem Begriffspaar ›homophonisch – polyphonisch‹ das eigenständige Kapitel »Vom Kontrapunkt« widmete. Wiener verglich weiters Schriften Johann Philipp Kirnbergers, Johann Georg Sulzers und Friedrich Wilhelm Marpurgs hinsichtlich einer Kontrapunktdefinition und ihrer bedeutungshistorischen Veränderungen. Meint beispielsweise Marpurg in seiner Abhandlung von der Fuge (1753) mit Kontrapunkt die »Setzkunst und alle Arten musikalischer Stücke überhaupt«, so distanziert sich Sulzer wiederum von diesem Verständnis mit einem eher historischen Blickwinkel auf diese Art der Definition. Verschiedene Ausprägungen von Oralität in konkreten Lernsituationen, wie sie durch Lehrbücher repräsentiert sind (beispielsweise bei Fux oder anders bei Joseph Riepel), zeigte Wiener mittels Gegenüberstellung der entsprechenden Schriften auf. Zuletzt stellte er in einer überblicksartigen Tabelle weitere Oppositionen und Narrative zusammen, die insgesamt den verworrenen Diskurs erahnen lassen, in dem sich Kontrapunkt im 18. Jahrhundert bewegt, einem Spannungsfeld zwischen modern – veraltet, Tradition – Innovation, vokal – instrumental, Spielerei – Kunst, künstlich – natürlich, streng – frei, um nur einige wenige Gegensätze zu benennen.

Einblicke in ihre Quellenarbeit gab zu guter Letzt Julia Ronge (Bonn). In ihrem Vortrag »Wenn Meister von Meistern lernen. Beethoven lernt Kontrapunkt bei Albrechtsberger« zeichnete sie anhand reicher Quellen nach, dass Albrechtsberger Methode darin bestand, Kontrapunkt als elementar für den Kompositionsunterricht im Dialog zwischen Lehrer und Schüler zu lehren. Dabei umfassten die Belege für diesen Unterrichts ein Korpus von Fugen- und Kanonversuchen in Form von Skizzen, Lückentexten und Übungen, die auch direkt im Beisein des Lehrers entstanden sein dürften. Welches Fazit sich aufgrund der Quellenlage über die Art des Unterrichts ziehen lasse, zeigte Ronge klar auf: Es müsse einen wertschätzenden, intensiven und ertragreichen Dialog zwischen Lehrer und Schüler gegeben haben, wie sich an simultanen Eintragungen nachweisbar beider Personen zur selben Sache zeige. Gustav Nottebohms 1873 zuerst öffentlich geäußertem und viel zitiertem vernichtenden Urteil zu Beethovens Unterricht bei Albrechtsberger – »Es läuft darauf hinaus, dass der Eine nicht konnte, der Andere nicht wollte.« – trat Ronge aufgrund ihrer quellenbasierten Forschung deutlich entgegen. Auch humorvolle Kommentare zu Beethovens offensichtlichem Scheitern an gewissen Engführungstechniken fehlten in dem Vortrag nicht. Die sich anschließenden Fragen aus dem Auditorium, ob die Skizzen oder auch vereinzelte Motive als Materialsammlung oder direkte Vorstudien zu Beethovens Kompositionen fungiert hätten, wurden von Ronge verneint. Das Kontrapunktstudium bei Albrechtsberger scheint vornehmlich ein wechselseitiger Austausch im Kontext des Unterrichts gewesen zu sein, der sich zahlreicher für die Kontrapunktlehre des 18. Jahrhunderts signifikanter Methoden bediente. Nicht zuletzt die von Ronge so benannte »Input-Output-Matrix« – also »Wenn-dann-Formeln« – zeugt von einem Unterricht ganz im Sinne der Fuxschen Lehre, wobei das kontrapunktische Arbeiten aus einer Problemstellung und verschiedenen Lösungsversuchen mit Übungscharakter entsteht.

In der abschließenden Diskussionsrunde wurden Fragen nach Gründen für Kontrapunktunterricht, nach seinem Wert für das Komponieren insgesamt und nach Analysemethoden angerissen: Warum sollte man Kontrapunkt heute noch unterrichten? Wie ertragreich war beispielsweise der Kontrapunktunterricht für Beethoven? Außerdem diskutiert wurde eine Methodik der Kontrapunktanalyse. Die thematische Vielfalt der Beiträge warf Schlaglichter auf einen umfassenden Themenkomplex und machte Lust auf mehr. Fortgesetzt wird die Symposienreihe am 23.–25. November 2023 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und am 6.–8. Juni 2024 an der Universität Mozarteum Salzburg. Dabei richtet sich der Blick zunächst auf Schriften des 19. Jahrhunderts, sodann auf die internationale Verbreitung von Kontrapunktlehren, verbunden mit Fragen des kulturellen Austauschs.


Zur Autorin

BRITTA GIESECKE VON BERGH, geboren 1988, studierte zunächst Schulmusik, dann Musiktheorie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Als Lehrbeauftragte lehrte sie 2016 das Fach Musikalische Analyse an der Universität Kassel, von 2016–2022 unterrichtete sie musiktheoretische Fächer an der HMTM Hannover und von 2017–2022 als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig. Seit 2022 ist sie als Senior Lecturer am Fritz Kreisler Institut der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien tätig. An der HMTM Hannover arbeitet sie an einer Dissertation über Jean Sibelius’ Instrumentation.