Musiklehre – Wer macht’s? (… und wie??)

HMTM Hannover

12.11.2017


Tagungsprogramm


Anne-Kathrin Wagler


Auf Initiative des an der HMTM Hannover tätigen Netzwerks »Musiktheorie verbindet« fand am 12. November 2017 die diesjährige Herbsttagung unter dem Motto Musiklehre – Wer macht’s? (… und wie??) statt. Das Team des Netzwerkes hatte zu einem anregenden Tag mit Impulsreferaten, Werkstattberichten und Diskussionsrunden eingeladen. Die Teilnehmer*innen der Tagung kamen vorwiegend aus den Musikschulen der Region und damit aus dem Kreis der in diesem Fach tätigen Lehrer*innen.

Es ist weitgehend Konsens, dass ein fundierter Musiklehreunterricht, in dem es um die Förderung der Tonvorstellung im Rahmen einer elementaren Hörerziehung, um das Entwickeln des musikalischen Verständnisses, die Vermittlung von Grundlagen der musikalischen Fachsprache sowie um das Erlernen der Notenschrift geht, zu einer gelungenen Musikausbildung sowohl im Laien- als auch im professionellen Bereich gehört. Zumindest in der deutschen Musikerziehungslandschaft fehlt jedoch eine koordinierte Gewährleistung dieses Aspekts der Ausbildung: An welcher Stelle (oder an welchen Stellen) soll Musiklehre betrieben werden? In der Früherziehung? Im Instrumentalunterricht? Im Chor? In Spezialkursen? Oder an der Hochschule? Ebenso stellen sich Fragen nach der inhaltlichen und methodischen Ausrichtung eines solchen Unterrichtes: Welches Niveau kann man an welcher Stelle erwarten? Welche Theorien und Begriffssysteme eignen sich für welchen Bereich? Welche Methoden sind einsetzbar und wo kann man sich als Lehrkraft fortbilden?

Während eine flächendeckende, systematische Begleitung des Musikunterrichts an Musikschulen und allgemeinbildenden Schulen durch Angebote aus dem Bereich der Musiklehre und Hörerziehung in Deutschland fehlt, gibt es eine große Vielfalt an Persönlichkeiten, die mit ihren Lehrangeboten an unterschiedlicher Stelle und auf unterschiedliche Weise, oft wenig bekannt und kaum vernetzt, Musiklehre vermitteln. Menschen in diesem Bereich zusammenzubringen und ihre Methoden und Ideen bekannter zu machen, ist das Ziel der Initiatorin des Netzwerks »Musiktheorie verbindet«, Prof. Dr. Laura Krämer – zuständig für Musiktheorie und ihre Methodik an der HMTM Hannover – sowie ihrer beiden Mitarbeiter*innen Tanja Spatz und Marcus Aydintan.

Im ersten Vortrag des Tages demonstrierte Olga Tchipanina, Dozentin für Musiktheorie und Gehörbildung an der Vorklasse des Instituts zur Früh-Förderung Hochbegabter (VIFF) in Hannover, sehr anschaulich ihre Unterrichtsinhalte und -methoden. Frau Tchipanina erreicht anhand sehr übersichtlicher Anschauungsmaterialien (wie z.B. einer grafischen Darstellung der Intervallverhältnisse von Dur- und Molltonleiter), die singend erarbeitet werden, Schritt für Schritt eine Orientierung im Tonraum verschiedener Skalen. Die Skalentöne werden dabei durch römische Ziffern repräsentiert. Darauf aufbauend werden harmonische Fähigkeiten vermittelt. In ihrem Unterricht wird viel gesungen und komponiert, woran sich im Laufe des Vortrages auch die Teilnehmer*innen der Tagung versuchen durften: Gemeinsam wurden die Stimmen eines Quodlibets eingeübt und improvisatorisch erweitert. Die Dozentin berichtete, dass ihre jungen Schüler*innen nicht nur an den kreativen, sondern auch an den eher strukturell-theoretischen Aufgaben und besonders an Aktivitäten mit Wettbewerbscharakter viel Spaß haben und sehr gerne zum Musiktheorieunterricht kommen. (Ein Übungsbuch zu ihrer Unterrichtsmethode kann bei Olga Tchipanina direkt bezogen werden.)

Friederike Stahmer, Professorin für Kinder- und Jugendchorleitung an der HMTM Hannover, stellte in ihrem Vortrag unter anderem an Hand aussagekräftiger Videobeispiele aus der Praxis die musikpädagogischen Konzepte vor, die sie in ihrer Arbeit mit Kinderchören anwendet. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die umfassende Lehre der Music Learning Theory von Edwin E. Gordon. Ziel dieser Methode ist die Entwicklung des inneren Hörens, Audiation genannt. Eine starke Verinnerlichung musikalischer Strukturen wird unter anderem mit Hilfe indirekter Methoden erreicht: So wird im Kinderchor ein neues Lied nicht, wie sonst üblich, durch abschnittweises Vor- und Nachsingen vermittelt, sondern zunächst mehrmals im Ganzen gehört. Dazu erhalten die Kinder – scheinbar zur ›Ablenkung‹ – verschiedene Bewegungsaufgaben. Im Anschluss singen sie die Melodie still in ihrer Vorstellung und erst im letzten Schritt wird das neue Lied gemeinsam gesungen. Auf diese sehr behutsame und spielerische Weise entwickeln die Kinder nach und nach eine Vorstellung von Tonräumen, harmonischen Zusammenhängen und rhythmisch-metrischen Strukturen. Elementarer Bestandteil der Unterrichtsmethodik ist die Anwendung der relativen Solmisationssilben, die vor allem im Rahmen tonaler Pattern, die von den Kindern nachgesungen und identifiziert werden sollen, zum Einsatz kommen. Hier erfolgt auch die Verbindung zur Notenschrift, die jeweils altersgerecht in die Singübungen einbezogen wird. In den vorgestellten Videosequenzen wurde sichtbar, mit wieviel Spaß die Kinder bei der Sache waren und wie aufmerksam sie sich hörend und singend im Tonraum bewegten.

Prof. emeritus Christoph Hempel, bekannt durch seine Veröffentlichungen gerade im Bereich der Allgemeinen Musiklehre, berichtete aus seiner Tätigkeit als Lehrer für Hörerziehung und Musiktheorie im Regionalbereich der Vorklasse des Instituts zur Früh-Förderung Hochbegabter (VIFF regional). Das ideale Lernfenster für die musikalische Gehörbildung liegt Hempel zufolge zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr – die Kinder in der Vorklasse befinden sich also mitten darin. Hempels Vortrag befasste sich ganz konkret mit den Aktivitäten und Methoden seines sehr spielerisch und kreativ ausgerichteten Unterrichts. Die Tonleiterstufen werden beispielsweise als Familienmitglieder eingeführt; in kleinen Gehörbildungsübungen sollen die Kinder dann herausfinden, welche Person in einer Tonkonstellation jeweils fehlt. Zentraler Bestandteil des Unterrichtes sind Kompositions- und Gestaltungsaufgaben, deren Ergebnisse die Kinder dann selbst (mit Hilfe eines Tablets und entsprechender Software) aufnehmen und bearbeiten können. So entstehen kleine Musikvideos wie die selbstgedichteten und -vertonten Limericks, die als Arbeitsergebnisse auf der Tagung gezeigt wurden.

Dr. Juliane Brandes, Vertretungsprofessorin für Musiktheorie an der Hochschule für Musik »Carl Maria von Weber« Dresden, nahm in ihrem Vortrag die Vogelperspektive ein und versuchte eine Zustandsbeschreibung. Sie konstatierte einen eklatanten Ausbildungsrückstand der Hochschulbewerber*innen im Bereich der allgemeinen Musiklehre, der Musiktheorie und der Gehörbildung, den man leider allzu oft in den Eignungsprüfungen der Musikhochschulen erlebt. Vielen der Bewerber*innen – die doch über Jahre ein oder mehrere Instrumente intensiv geübt und professionellen Musikunterricht genommen haben – fehlen die elementarsten Kompetenzen eigenständiger musikalischer Hör- und Sprachfähigkeit. Im Rahmen des Musikstudiums können diese Defizite oft gar nicht mehr professionalisierend aufgearbeitet werden. Von diesem Sachstand ausgehend stellte Brandes Forderungen auf, um die Musikausbildung nicht nur in, sondern auch außerhalb der Musikhochschule auf eine breitere Basis zu stellen und die Zusammenarbeit von Musikhochschule und Institutionen wie Schule und Musikschule zu verbessern. Sie berichtete von den dahingehenden Maßnahmen, die sie selbst in Dresden bereits in die Wege geleitet hat und gab damit einen Impuls für die anschließende Diskussion zur Formulierung und Ausarbeitung weiterer Ideen und Konzepte.

Nach dem Mittagessen verteilten sich die Gäste je nach Interesse auf die angebotenen Arbeits- und Diskussionsgruppen. Als Themen standen zur Auswahl:

  1. Musiklehre und Kreativität (Moderation: Biljana Wittstock, Aaron Bredemeier, Tanja Spatz) Kreatives Gestalten, relative Solmisation und Notation – mit diesen drei Schwerpunkten des Musiklehreunterrichtes befasste sich diese Arbeitsgruppe. Die Teilnehmer*innen tauschten sich über ihre Erfahrungen aus und diskutierten über Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Tonsilben, die Wichtigkeit gestalterischer Ansätze wie z.B. der Improvisation im Musiktheorieunterricht und über sinnvolle Wege zur Verknüpfung des Hörens mit der Notenschrift.

  2. Unterrichtsinhalte und -methoden für verschiedene Zielgruppen (Moderation: Britta Giesecke von Bergh) Musiktheorieunterricht findet in vielen verschiedenen Kontexten und Lernsituationen statt – an Schulen und Musikschulen, im Instrumentalunterricht, mit erwachsenen Laienmusiker*innen, an Hochschulen etc. Die Arbeitsgruppe befasste sich mit den je nach Zielgruppe unterschiedlichen Bedürfnissen der Lernenden und den erforderlichen Unterrichtsangeboten. Benannt wurden auch die Schwierigkeiten, vor denen Lehrende häufig stehen (wie bspw. großen Unterschieden im Wissensstand der Schüler*innen oder unterschiedlichen Terminologien in der Fachsprache).

  3. Unterrichtsformate (Moderation: Arvid Ong) Diese Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit den strukturellen Aspekten des Unterrichtsangebotes im Bereich des vorhochschulischen Musiktheorieunterrichtes: Wo wird Musiklehre nachgefragt bzw. angeboten? Wie sind die Lehrpläne gestaltet? Wie finden die Unterrichtsangebote Verbreitung? Kann man die Musiktheorie quasi »nebenbei« im Instrumentalunterricht erledigen? Oder sollte sie (wieder) zum Pflichtfach werden? Wie sinnvoll ist eine projektbezogene Ausbildung? Und was kann man online lernen? – All diese Fragen wurden (kontrovers) diskutiert.

Im Anschluss an die Arbeitsgruppenphase wurde die Diskussion ins Plenum getragen: Auf großen Folien hatte jede Arbeitsgruppe ihre Gedanken, Fragen und Lösungsansätze notiert. Diese wurden nun ausgestellt, und die Teilnehmer*innen nutzten die Gelegenheit zum lebhaften informellen Gedankenaustausch. Zum Abschluss der Tagung stellten die Protagonist*innen des Netzwerkes »Musiktheorie verbindet« noch einmal ihre Intentionen vor. Dabei wurde die grundlegende Idee dargelegt, dass das Fach Musiktheorie ein großes verbindungsstiftendes Potential hat: Musiker*innen, die gut hören, die transponieren, improvisieren und kompetent über Musik sprechen können, verfügen damit über essentielle Fähigkeiten zu einem flexiblen gemeinsamen Musizieren mit anderen und zur Verständigung über die Musik. In diesem Sinne bleibt es zu wünschen, dass die Arbeit des Netzwerkes erfolgreich weitergeführt und die Fragen nach der inhaltlichen Ausrichtung und der strukturellen Ausgestaltung des vorhochschulischen Musiktheorie- bzw. Musiklehreunterrichtes weiterhin erörtert und an die Verantwortlichen herangetragen werden. Ein großer Dank an die Initiator*innen für die Gelegenheit, sich in diesem Rahmen institutionsübergreifend austauschen und gemeinsam Pläne schmieden zu können. Eine Fortsetzung ist ausdrücklich erwünscht …

Kontakt:
laura.kraemer@hmtm-hannover.de
tanja.spatz@hmtm-hannover.de
marcus.aydintan@hmtm-hannover.de