Musik-/Theorie und Zukunft in der Vergangenheit und Gegenwart

Hochschule für Musik und Theater Hamburg (digital)

7.–8.5.2021


Tagungsprogramm


Reinhard Bahr

Musiktheorie geht der Ruf voraus, sich vor allem mit Musik und Kompositionspraxis der Vergangenheit zu beschäftigen und der eigenen Zeit ›hinterherzuhinken‹. Allenfalls gelingt es, am zeitgenössischen Diskurs teilzuhaben und im Austausch mit der Kompositionspraxis der jeweiligen Epoche zu sein. Um zu zeigen, dass die Reflexion von Zukunft in unterschiedlichen Formen auch Gegenstand von Musiktheorie sein kann und immer schon gewesen ist, veranstalteten Anne Hameister und Jan Philipp Sprick im Mai 2021 an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg ein kleines, doch inhaltlich gewichtiges Symposion zu Zukunftsfragen der Musiktheorie. Unter dem etwas sperrigen Tagungstitel »Musik/-Theorie und Zukunft in der Vergangenheit und Gegenwart« sollte die grundsätzliche Frage zum Verhältnis von Musiktheorie und Zukunft sowie zum Einfluss von »Zukunft« auf Themen, Inhalte und Denkrichtungen von Musiktheorie sowohl historisch als auch zeitgenössisch in den Blick genommen werden: historisch aus den Perspektiven unterschiedlicher (Nachbar-) Disziplinen, mit einem Fokus auf die vergangene Zukunft in der Geschichte der Musiktheorie im 19. und 20. Jahrhundert, zeitgenössisch auf die gegenwärtige Zukunft in heutiger Musik und Musiktheorie.

Wie von den Veranstaltenden in ihren Eingangsstatements ausgeführt, sollte die Tagung in einem Forschungsbereich angesiedelt sein, an dem sowohl Musiktheorie als auch Musikwissenschaft partizipieren konnten, und die Musiktheorie an philosophisch-ästhetische, historische und kulturwissenschaftliche Diskurse angeschlossen werden. Durch die Teilnahme des Historikers und Begründers der historischen Zukunftsforschung Lucian Hölscher, von dessen Referat und Diskussionsbeiträgen eine besondere inhaltliche Strahlkraft ausging, wurde der Blick der Tagung auch hin zur allgemeinen Geschichtswissenschaft geöffnet. Historische Zukunftsforschung bietet die Chance, vergangenen Entwicklungen ihre vormalige Offenheit, ehemaligen Zukunftsentwürfen ihr früheres Hoffnungs- und Möglichkeitspotential zurückzugeben und kann uns so auf eine neue Weise den Wunsch erfüllen, uns in der Vergangenheit unserer Gegenwart und Zukunft zu vergewissern. Denn beides, Vergangenheit und Zukunft, sind Gegenwartsentwürfe, – und bei beiden stellt sich das vermeintliche Wissen in der Regel als fehlbarer Entwurf heraus. Als unbestreitbare Tatsache erscheint aber die Beobachtung, dass Zukunftsentwürfe eine große Wirkmacht entfalten können – und zwar völlig unabhängig davon, ob sich diese letztlich realisiert haben oder nicht.

Die Tagung war zu vier thematischen Teilen gebündelt. Im Thementeil I des ersten Tages wurden exemplarisch die drei »Perspektiven« aus Geschichte (Lucian Hölscher), Musiktheorie (Jan Philipp Sprick) und Musikwissenschaft (Julia Freund) vorgestellt, die anschließend in einem II. Teil (»Horizonte«) zu Grenzbereichen hin ausfransten. Die Vorträge des III. und IV. Thementeils am Sonnabend wurden als »Fluchtpunkte« gekennzeichnet, gleichsam Fallbeispiele musikhistorischer Zukunftsforschung des 19. und 20. Jahrhunderts, an denen die zuvor aufgezeigten Perspektiven ausdifferenziert werden sollten.

Gerade weil er nicht aus dem Kernbereich von Musiktheorie oder -wissenschaft stammte, erwies sich Lucian Hölschers eröffnender Beitrag Zukunftsmusik um 1900? Eine kulturpolitische These und Fragestellung am ersten Tag als für die Tagung richtungsweisend. Hölscher konkretisierte den historiographischen Zukunftsbegriff anhand der Situation des Umbruchs um 1900, als durch die Rezeption von Wagners ›Zukunftsmusik‹ über die normalen Wandlungsprozesse hinaus »im heute schon eine Musik von morgen« entwickelt wurde. In seinem Beitrag Zum Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts unterschied Jan Philipp Sprick einen »expliziten Vergangenheitsbezug«, der in den einschlägigen Lehrwerken, Harmonie- und Kompositionslehren des 19. Jahrhunderts zu finden ist, von »einer impliziten Zukunftsorientierung«. In Georg Capellens Fortschrittliche[r] Harmonie- und Melodielehre (1908) und Hugo Riemanns Ideen zu einer ›Lehre von den Tonvorstellungen‹ (1916) wird Zukunftsorientierung auf unterschiedliche Art wirksam. Bei Capellen weist etwa, im Gegensatz zu Riemanns funktionstheoretischem Ansatz, der Verzicht auf eine Tonika-Zentrierung zugunsten vielfältiger lokaler harmonischer Beziehungen auf neuere harmonische Konzepte. In Riemanns später Schrift ist es die Preisgabe physikalischer Implikationen, die sein musiktheoretisches Denken bis dahin stets bestimmt haben. Der Ansatz von Hermann von Helmholtz’ ›Tonempfindungen‹ wird dabei gedreht und durch eine musikalische Wahrnehmung ersetzt, in der das Hören als eine bewusste geistige Aktivität erscheint, die die Hörer*innen befähigt, musikalische Zusammenhänge zu konstruieren. Die Musikwissenschaftlerin Julia Freund setzte sich anhand von Selbstbeschreibungen von Komponist*innen mit Zukunftsbildern in der Nachmoderne auseinander und kam zu dem Ergebnis, dass Zukunftsperspektiven (notwendig) für die kompositorische Praxis nach wie vor eine Rolle spielen, jedoch ergänzt durch Formen nicht-hierarchischer Zusammenarbeit.

In Teil II der Tagung »Horizonte« nahm Benjamin Sprick mit seinem Beitrag Zukunft ohne Horizonte – Aktuelle Musiktheorie im Zeichen hegemonialer Linearisierung die gegenwärtige Situation der Musiktheorie in den Blick und warf die berechtigte Frage auf, ob die Musiktheorie als Disziplin nicht auch eine gesellschaftliche Standortbestimmung einfordern sollte – ohne allerdings dazu konkrete Antworten bereitzustellen. Bei Ariane Jeßulat ging es um den Begriff ›Kontrapunkt‹ (Punctus contra punctum) im zeitgenössischen Musiktheater. Sie schlug einen Bogen vom Kontrapunktbegriff des 15.–18. Jahrhunderts zu befreiten Bedeutungen eines ›punctus contra punctum‹: Anstelle von Einzelton und Linie können Klangfläche, Geräusch und optisches Signal treten. Johannes Kreidler, selbst Komponist und Musiktheoretiker in einer Person, forderte von der Theorie ein Voranschreiten vor der musikalischen Praxis, ein »dickes Buch«, in dem eine zukünftige Praxis zu entwerfen sei. Dabei blieb auch die Problematik nicht außen vor, dass eine vorauseilende Theorie die anschließende Produktivität durchaus gefährlich begrenzen könnte.

Am 2. Tag wurden unter III. und IV. »Fluchtpunkte« im 19. und 20. Jahrhunderts ausgelotet. Zunächst spürte Alexander Rehding den Zukunftsideen des elsässischen Musikgelehrten und Komponisten Johann Georg Kastner nach, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner »chemischen Musik« eine durch Dampf- und Elektrizität erweiterte alternative Klangerzeugung mit musikalischen Visionen verbunden hat. Mit einem Fokus auf den biografischen Hintergrund stellte Oliver Korte den Musiktheoretiker Carl Friedrich Weitzmann als einen »Theoretiker der Zukunft« vor, dessen Erweiterung der Tonalität auf Basis des übermäßigen Dreiklangs und verminderten Septakkords nicht nur von den Neudeutschen um Franz Liszt dankbar aufgenommen wurde, sondern bekanntlich auch in der jüngeren nordamerikanischen Musiktheorie besondere Beachtung gefunden hat. In ihrem Beitrag zu Zukunftsvorstellungen in der Harmonielehre um 1900 entwarf Anne Hameister ein Panoramabild harmonischer Theorien der Zeit und nahm dabei auch Theoretiker der zweiten Reihe in den Blick, wie Bernhard Ziehn, der mit viel Polemik und vagen Desideraten sichtlich bemüht war, sich von den wirkmächtigen Zeitgenossen Riemann und Capellen abzugrenzen. Die »Fluchtpunkte«-Vorträge im 20. Jahrhundert führen von der ersten Jahrhunderthälfte bis in die Jetztzeit. Der Harvard-Doktorand Lee Cannon-Brown sah in der vom russischen Futurismus beeinflussten Musiktheorie Ivan Wyschnegradskys einen russischen Gegenentwurf zur mit hegemonialem Anspruch aufgetretenen Theorie und Ästhetik der Schönbergschule in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einen musiksoziologischen Akzent setzte Golan Gurs Vortrag Neue Musik dem neuen Menschen, der Fortschrittskonzepte im ›Roten Wien‹ vor der Machtergreifung in Österreich beleuchtete. Eine der gestaltenden Persönlichkeiten war David Josef Bach, dem es u.a. mit den ›Arbeiter-Symphoniekonzerten‹ (ab 1905) gelang, Arbeiterkultur und marxistische Ästhetik mit der musikalischen Hochkultur der Nachromantik zusammenzubringen. Komponisten wie Arnold Schönberg, Anton Webern und Hanns Eisler waren in die Aktivitäten eingebunden. Den Abschluss bildete Nina Noeskes Referat Der Sound der Zukunft im Film, in welchem die unterschiedlichen filmisch-dramaturgischen Funktionen von ›Zukunftsmusiken‹ hinterfragt wurden. Auch ging es darum, welche Rückschlüsse diese Musiken auf das jeweilige musikalische Selbstbild einer Epoche liefern können.

Im Anschluss an die jeweils letzten Vorträge der Tage gab es offene Diskussionsrunden im Plenum, die in zwei Themenbereiche vorstrukturiert wurden, nämlich an den Vortrag von Johannes Kreidler anschließende, durchaus auch pragmatisch zu verstehende Frage, ob Musik oder Musiktheorie »zukünftig« sein kann, und am zweiten Tag unter dem Eindruck der »Fluchtpunkte«-Vorträge die historisch-historiographisch angelegte Frage zum Potential einer historischen Zukunftsforschung für die Geschichte der Musik und Musiktheorie. Diese Abend-Diskussionen legten sowohl Chancen als auch Gefahren offen, wenn man ›Zukunft‹ als Umbrella-Term mit sehr heterogenen Fragestellungen und Prämissen diskutiert und die Abstrakta Musik und Zukunft zusammenbringt. Allerdings konnten die zentrifugalen Fliehkräfte des Tagungs-Themas und der Diskussion am ersten Abend in der Abschlussdiskussion des zweiten Abends eher zentripetal verdichtet werden und – auch aus Sicht der Veranstaltenden – in dieser Ambivalenz zu gelungenen Ergebnissen führen. Im Austausch zwischen Musikwissenschaft und Musiktheorie ging es gegen Ende der Diskussion insbesondere um die Frage nach dem zukünftigen Verständnis des Faches Musiktheorie im Kontext der akademischen Hochschulfächer, um Musiktheorie als universitäres geisteswissenschaftliches Fach und um den Musik- und Werkbegriff zwischen historischer Partitur und aktualisierter Interpretation. Gerade durch die Tagungsfrage zum Verhältnis von Musiktheorie und Zukunft wurde abermals deutlich, wie eng vermeintlich hermetische musiktheoretische Sachverhalte mit gesellschaftlichen Zusammenhängen verknüpft sind, deren ›Zeitlichkeit‹ aber oft nur implizit zum Vorschein kommt.

Dass die Tagung anders als geplant nur in einem Online-Format stattfinden konnte, bot gegenüber einer Präsenzveranstaltung nicht ausschließlich Nachteile: So konnte der Radius der aktiv und passiv Teilnehmenden erheblich weiter gefasst werden, als dies unter Live-Bedingungen der Fall gewesen wäre. Die Veranstaltung hatte durchweg 40–50 Teilnehmer*innen; und das Online-Format erlaubte es, auch Referenten von Übersee (Rehding und Cannon-Brown, Harvard University, Cambridge/Mass.) zu gewinnen.