Anton Bruckner. Aufführungspraktiken gestern, heute, morgen. Internationales Symposion des Freiburger Forschungs- und Lehrzentrums Musik
Hochschule für Musik Freiburg
26.–28.2.2023
Tagungsprogramm
Benjamin Weinhold
Im Vorfeld des Bruckner-Jahres 2024 fand an der Musikhochschule Freiburg ein Symposion statt, das sich mit Fragen rund um Aufführungspraktiken der Werke Anton Bruckners beschäftigte. ›Aufführungspraktiken‹ wurde hier im weiten Sinne verstanden und schloss Aspekte von der Textkritik über konkrete Fragen des Musizierens bis hin zur kulturgeschichtlichen Rezeption ein.
Den Auftakt bildete ein Gesprächskonzert in der Sammlung Historische Tasteninstrumente Schloß Bad Krozingen. Wolfgang Brunner und Juliane-Sophie Ritzmann (beide Salzburg) spielten einen Pleyel-Flügel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Neben den Klavierwerken Bruckners erklangen Werke von dessen Lehrern und Vorbildern, namentlich Simon Sechter, Otto Kitzler und Richard Wagner. Brunners Erläuterungen zu den Werken und zu instrumentaltechnischen Fragen boten einen umfassenden Einblick in die Aufführungspraxis dieser Klavierwerke; so stellte Brunner insbesondere heraus, dass sich am Tonumfang der frühesten Klavierwerke Bruckners ablesen lässt, dass er für Instrumente der Mozartzeit komponierte, bis er in den 1840er Jahren einen Bösendorfer-Flügel erwarb, den er zeit seines Lebens behielt.
Die Vorträge des zweitägigen Symposions fanden in der Musikhochschule Freiburg statt. Den Beginn machte Andreas Lindner (Wien/Linz), der Notenarchivar der Wiener Philharmoniker. Er referierte über die Frage, welche Schlüsse sich aus dem historischen Notenmaterial des Orchesters, dessen Geschichte auf Engste mit der Person und dem Werk Bruckners verknüpft ist, für die Aufführungspraxis ziehen lassen. Neben Fragen der Besetzungsgröße sind direkte Einblicke in die Spielpraxis Brucknerscher Musik zu gewinnen: So lassen etwa ausnotierte Wiederholungen in den Stimmen den Schluss zu, dass zwei aufeinanderfolgende Sätze attacca musiziert wurden. Eintragungen in den Stimmen zum lokalen Umgang mit dem Tempo (z. B. ritardando) geben Hinweise auf die konkrete agogische Gestaltung.
Paul Hawkshaw (New Haven, CT) berichtete von seiner Arbeit an der Neuedition der 7. Sinfonie im Rahmen der Neuen Bruckner-Gesamtausgabe. Er legte dar, dass Bruckner im Kopfsatz nachträglich an einigen Stellen Vierviertel- bzw. alla-breve-Taktangaben einfügte sowie verbale Tempoangaben ergänzte. Hawkshaw zeigte darüber hinaus, dass sich diese Taktartwechsel analog den Formgrenzen befinden, jede thematisch-formale Gruppe also ihr Tempo hat. In der bisher maßgeblichen Edition Leopold Nowaks sind diese Taktartwechsel irreführend in Klammern wiedergegeben, also als vermeintliche Herausgeberzusätze gekennzeichnet, obwohl sie von Bruckners Hand stammen.
Daran anknüpfend sprach Benjamin Korstvedt (Worcester, MA) über Tempofragen in frühen Aufnahmen von Bruckner-Sinfonien. Einleitend stellte er fest, dass Bruckner sehr präzise Vorstellungen vom Tempo seiner Sinfonien gehabt habe, da er einige und genau ausgezeichnete Tempowechsel während eines Satzes forderte. Einfluss auf Bruckner besaß in dieser Hinsicht zudem Richard Wagners Schrift Über das Dirigieren (1869), dessen Musik Bruckners Tempo-Vorstellungen zugleich aber auch unmittelbar beeinflusste. So demonstrierte Korstvedt, dass Bruckner zahlreiche, sprachlich speziell formulierte Tempoangaben aus den Meistersingern übernahm. Bei einem Vergleich der Interpretationen zeigte sich insbesondere, dass es zwar ab den 1930er Jahren eine Entwicklung gab, die wegführte von einer früheren, sehr dynamischen und für heutige Ohren geradezu hektischen Temponahme zu einem uniformen, schwerfälligen und monumentalen Brucknerklang, dass diese Entwicklung aber nicht – wie vielfach angenommen – mit einem »nationalsozialistischen Brucknerklang« gleichzusetzen ist: Tatsächlich war die Interpretationsgeschichte vielfältiger, als derlei Etiketten suggerieren.
Christa Brüstle (Graz) gab einen Arbeitsbericht über ihre Forschungen zur Uraufführung von Bruckners 5. Sinfonie in Graz im Jahre 1894. Dabei untersuchte sie einerseits die Rolle, die die Brüder Joseph und Franz Schalk bei der Uraufführung spielten (Franz war ab 1889 an der dortigen Oper Dirigent, Joseph wurde für die Leitung der Uraufführung der Fünften engagiert). Daneben zeichnete Brüstle die Aufführungssituation im Theater am Stadtpark nach. In diesem Zusammenhang stellten sich unter anderem die Fragen, wie das Orchester im kleinen Orchestergraben dieses manegenartigen Raums überhaupt positioniert werden konnte und wie die in Franz Schalks Einrichtung des Werkes benötigten zusätzlichen Bläser aufgestellt bzw. woher diese Kräfte überhaupt akquiriert wurden.
Mit den sogenannten »Dunkelkonzerten«, die in Wien zwischen 1939 und 1944 unter der Leitung Hans Weisbachs stattfanden, stellte Anne Holzmüller (Marburg) eine besondere Episode der Bruckner-Rezeption vor. Während dieser Konzerte, in denen fast immer auch Werke Bruckners erklangen, wurde der Konzertsaal im Wiener Konzerthaus weitgehend abgedunkelt, nur die Pulte der Musiker waren beleuchtet. Holzmüller konzentrierte sich dabei auf das Hörerlebnis, das durch diese Maßnahme evoziert werden sollte, und verknüpfte es mit rezeptionsbezogenen Vokabeln wie ›Mystik‹ und ›Sakralität‹. Dabei zeigte sie, dass die Dunkelkonzerte keineswegs eine Erfindung der NS-Propaganda waren, sondern eine lange Vorgeschichte besaßen, etwa unmittelbar beeinflusst durch die Konzertreformbewegung um 1900. Dennoch fügten sich die Dunkelkonzerte nahtlos in die NS-Propaganda ein, nicht zuletzt da sich – wie Holzmüller darlegte – Parallelen zwischen ihnen und anderen nationalsozialistischen Inszenierungen ziehen lassen, beispielsweise der Bildsprache der von Albert Speer choreografierten Reichsparteitage in Nürnberg.
Im Anschluss stellten Clemens Wöllner und Geoff McDonald (beide Freiburg) eine empirische Untersuchung vor, in der sie der Frage nachgingen, inwiefern Bruckners langsame Sinfoniesätze als »prototypisch« angesehen werden können und wie sie unter diesem Aspekt wahrgenommen werden. Ihre methodische Grundlage war die wahrnehmungspsychologische Beobachtung, der zufolge das Maß an Durchschnittlichkeit von Phänomenen (z. B. Gesichtern) mit der Wahrnehmung als ästhetisch ansprechend korreliert. Im nächsten Schritt indizierten sie ein Korpus von über 200 langsamen Sinfoniesätzen nach verschiedenen Eigenschaften wie Tonartenverwandtschaft zum Kopfsatz, Dynamik am Beginn oder Form. Daraus ließen sich statistisch typische und untypische langsame Sätze herausdestillieren. Interessant hierbei war, dass der Bezug zu den langsamen Sätzen in Beethovens Sinfonien sichtbar wurde. Ebenso zeigte ein Experiment mit Musikstudierenden, dass sich die theoretisch erreichte Klassifizierung mit dem individuellen Erleben eines Satzes deckte.
Den zweiten Tag des Symposions eröffnete Klaus Petermayr (Linz) mit einem Überblick über Einspielungen von Werken Bruckners im Sinne der historischen Aufführungspraxis, womit hier Einspielungen mit historischem Instrumentarium gemeint waren. Er stellte heraus, dass Bruckners Musik eher spät in den Fokus der historischen Aufführungspraxis geriet, da sich diese seit ihren Anfängen quasi chronologisch von der Renaissance an vorwärts arbeitete. Die ersten Werke Bruckners, die ›historisch informiert‹ eingespielt wurden, waren jedoch nicht seine Sinfonien: Interessanterweise wurde sein Œuvre in dieser Hinsicht vom Streichquintett, den Klavierwerken und der geistlichen Musik aus erschlossen, während die Sinfonien eher spät ins Blickfeld gerieten.
Matthias Giesen (Linz) widmete sich in seinem Vortrag dem Organisten Anton Bruckner, allerdings nicht dem Improvisator, sondern dem Literaturspieler. Das Literaturspiel war für Bruckner offensichtlich eher nebensächlich, was sich unter anderem an der Begrenztheit seines Repertoires zeigt, das fast exklusiv in einigen Orgelwerken Bachs und Mendelssohns bestand. Aus den Eintragungen in den von ihm benutzten und erhaltenen Noten lassen sich Aspekte seiner Spielweise herauslesen. Der Einsatz des Pedals war beispielsweise in der österreichischen Tradition wenig virtuos, so dass Bruckner technisch anspruchsvolle Pedalpassagen in die Hände legte. An anderer Stelle deuten Fingersätze auf eine bestimmte Artikulation hin. Weiterhin konnte Giesen durch den Abgleich von eingetragenen Registernummern in Bruckners Noten mit der Disposition der Orgel, auf der er das Werk spielte, die gewählte Registrierung rekonstruieren.
Der sogenannten Wiener Schule des Violinspiels, geprägt durch den Violinpädagogen Joseph Hellmesberger, widmete sich Annkatrin Babbe (Bremen). Zunächst wies sie auf die enge Verbindung zwischen Hellmesberger und Bruckner hin, die nicht nur beide am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde als Lehrer sowie an der Hofkapelle tätig waren, sondern auch während der Entstehung von Bruckners Streichquintett miteinander in Kontakt getreten waren. Im Fortgang problematisierte Babbe den Begriff der Schule, die Hellmesberger durch seine Lehrtätigkeit angeblich etablierte: Aus zeitgenössischen Quellen lässt sich indes nur vage herauslesen, über welche Kriterien die Aspekte dieser Spielweise konkret zu fassen wären. Vielmehr scheint es sich bei dieser Wiener Schule um einen Mythos zu handeln, der auch im Zusammenhang von österreichischen kulturnationalistischen Strömungen zu sehen ist.
Thomas Seedorf (Karlsruhe) gab einen Überblick über Aufführungspraktiken der Brucknerschen Vokalmusik. Er stellte heraus, dass Bruckners musikalische Biografie eng mit dem Singen verbunden war: Bruckner war Sängerknabe in St. Florian, später Mitglied in mehreren Chören und selbst auch als Chorleiter tätig. Außerdem wohnte er Aufführungen in Bayreuth bei. Anschließend lieferte Seedorf Grundlagen zu verschiedenen Parametern vokaler Aufführungspraxis, etwa der Aussprache des Lateinischen, den Besetzungsgrößen, der Ensembleaufstellung oder der Bedeutung bestimmter Gesangstechniken wie falsetto.
Auch im Vortrag von Felix Diergarten (Freiburg) stand Bruckners Vokalmusik im Zentrum, und zwar mit Blick auf Notentext und Werkgestalt. Zunächst zeigte Diergarten, dass Bruckners letzte Motette, das Vexilla regis, bis heute in Konzerten und Aufnahmen fast ausschließlich in einer praktischen Einrichtung des frühen 20. Jahrhunderts gesungen wird, obwohl die Gesamtausgabe schon vor Jahrzehnten die originale Werkgestalt zugänglich gemacht hat. Andere Werke würden ähnlich entstellt aus praktischen Editionen gesungen, manche durch Verlagspolitik ganz unterdrückt. Als zugrundeliegendes Problem benannte Diergarten Defizite in der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Verlagswesen, künstlerischer Ausbildung (Hochschulen) und künstlerischer Praxis. Das Problem der Fassungen werde dabei im Bereich der Vokalmusik besonders virulent, da diese in der heutigen Aufführungspraxis institutionell eher im Laienbereich angesiedelt und dieser in noch höherem Maße auf verlässliche praktische Ausgaben angewiesen sei als ein professioneller Klangkörper.
Den Abschluss des Symposions bestritt Lars Laubhold (Linz) mit einem Einblick in die Bruckner-Rezeption im frühen österreichischen Film. Dabei konnte er einerseits auf einen Aspekt des Brucknerbildes hinweisen, der sich wohl bis heute mit am hartnäckigsten hält: Bruckner als Repräsentant einer ländlichen, vormodernen Welt, was sich in filmischer Umsetzung durch die Unterlegung ländlicher Szenen mit Bruckners Musik aufzeigen ließ. An anderen Beispielen konnte Laubhold aber zeigen, dass Bruckner immer wieder als Vehikel einer österreichisch-nationalen Identitätsbildung herhalten musste, die den Blick auf den Komponisten versperrt: In den frühen Bruckner-Filmen kommt die individuelle Gestalt Anton Bruckner kaum vor.
Durch die thematische Breite der Beiträge ergab sich ein äußerst vielfältiges Bild von Bruckners Musik und Person. Während der zwei Tage entstanden immer wieder Verbindungen zwischen den einzelnen Themenbereichen: So zeigen das mystisch-sakrale Brucknerbild der Dunkelkonzerte einerseits und das ländlich-barocke im österreichischen Film, wie vielschichtig der Komponist rezipiert wurde. Fragen der Aufführungspraxis ließen sich mit editorischen Überlegungen verbinden. So werden etwa die Herausgeber der neuen Bruckner-Gesamtausgabe, von denen sich manche an dem Symposium beteiligt hatten, auch vermehrt das Stimmenmaterial der Uraufführungen berücksichtigen und nicht nur die autographen Partituren. Der Tagungsband wird zu Beginn des Brucknerjahres erscheinen, sodass er mit seinen Anregungen und Erkenntnissen schon 2024 Anstöße für Aufführungspraktiken von heute und morgen geben kann.
Zum Autor
BENJAMIN WEINHOLD, geboren 1991, studierte Musikwissenschaft, Geschichte und Schulmusik in Tübingen, Würzburg und Stuttgart, außerdem dort Musiktheorie bei Hubert Moßburger sowie in Freiburg bei Felix Diergarten. Seit 2019 unterrichtet er Musiktheorie und Gehörbildung am Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt/Main.