Forum for Music Analysis

13.–18.7.2016

Zentralkonservatorium Beijing

Tagungsprogramm [Doctors forum]


Ariane Jeßulat


Vom 13. bis 18. Juli 2016 fand am Central Conservatory of Music in Beijing das Forum for Music Analysis (FAM) statt. Die diesjährige Tagung einer im Abstand von zwei Jahren von der Kompositionsabteilung des Zentralkonservatoriums veranstalteten Reihe profitierte vor allem von den künstlerisch-wissenschaftlichen Synergien mit dem gleichzeitig stattfindenden Beijing International Composition Workshop (BICW vom 9. bis 17. Juli), dessen Programm – zumindest aus europäischer Außenperspektive – mit dem der theoretischen Schwestertagung durchaus Berührungspunkte bot, auch wenn das analytische Interesse an Themen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dies zunächst nicht unbedingt vermuten ließ.

Das Beijing Forum for Music Analysis ist als Plattform für chinesische WissenschaftlerInnen angelegt und besteht im Kern aus Analyse-Workshops, die von einem Forum für DoktorandInnen und Post-DoktorandInnen begleitet werden. In diesem Jahr waren der Komponist und Performer Gao Yiming als Spezialist für die Peking-Oper und als europäische Gastdozentinnen Gesine Schröder und die Verfasserin eingeladen mit jeweils zwei ca. fünfstündigen Workshops.

Das Analyse-Forum (Composition/Music Theory Doctors Forum) fand ganztägig vor den Workshops mit rund 40 short papers von WissenschaftlerInnen vor allem chinesischer Musikkonservatorien und Universitäten statt, aber auch mit einem Beitrag einer an der Juilliard School forschenden Wissenschaftlerin. Die meisten Forschungsthemen verbanden zeitgenössische kompositorische Praxis sowie Aufführungspraxis mit verschiedensten Ansätzen der Theoriebildung. Nur sechs der Referate behandelten traditionelle ›westliche‹ Themen historischer Musikwissenschaft und -theorie, der weitaus größere Teil war zeitgenössischer chinesischer Musik gewidmet, sowohl im Verhältnis zu westlicher zeitgenössischer Musik als auch im Verhältnis zu traditioneller chinesischer Musik. Dabei scheint es für die Entwicklung von Forschungsansätzen zur Analyse zeitgenössischer chinesischer Musik und auch für den Austausch mit Europa von Vorteil zu sein, dass ein im deutschsprachigen Raum inzwischen standardisiertes, grundsätzlich ›historisch informiertes‹ Paradigma musiktheoretischer Forschung, das stilistische Probleme vor allem durch den Filter der Theorie ihres historischen Standorts aufzuarbeiten versucht, in aktueller chinesischer Musiktheorie nicht selbstverständlich, sondern ein inspirierendes Desiderat ist. Zudem – gerade aus der Perspektive der aktuellen Tagung – sorgen in der Gegenwart weiterhin angewandte traditionelle theoretische Ton- und Zeichensysteme und wie z.B. jene der Peking-Oper, so sehr deren ›Traditionen‹ auch Redaktionen unterzogen und teilweise ihren Ursprüngen entfremdet sind, doch durch ihre Anwendung in der zeitgenössischen Musik für eine positive Verstärkung systematischer Musiktheorie, die in der Lage ist, historische und kulturelle Distanzen zu bemessen, wenn nicht gar kreativ zu überbrücken.

Ein solcher Eindruck scheint eine historische Erklärung zu finden, blickt man auch nur flüchtig auf die besonders nach 1956 teilweise prekäre und forcierte Interaktion zwischen der Adaption einer ›westlichen‹, aber sowjetisch gefilterten Funktionstheorie und dem starken politischen Interesse, auf dieser Basis das wissenschaftliche Umfeld für eine neue nationale Harmonielehre und Harmonik zu entwickeln, die eben nicht nur heuristisch auf älteres Repertoire angewandt, sondern zum nationalen harmonischen Vokabular für neue (Opern-)Kompositionen werden sollte. Wie auch immer diese Interaktion zustande kam, ist doch ihr aus europäischer Perspektive beeindruckendes Resultat eine auf vielen Ebenen selbstverständliche Verbindung zwischen zeitgenössischer Komposition und musiktheoretischer Systematik.

Während der von Gao Yiming geleitete Workshop aktuelle Forschungen und Stilbildungen der Peking-Oper behandelte, war von den europäischen Gastreferentinnen ein spätromantischer Schwerpunkt erbeten worden: Gesine Schröder hielt Vorlesungen über Wiener Orchesterlieder des Fin de Siècle (Hugo Wolf, Alexander von Zemlinsky, Arnold Schönberg und andere) sowie über die musiktheoretische Diskussion musikalischer Exotica im deutschsprachigen Raum um 1900, während meine Vorlesungen Stilbrüche und intertextuelle Übertragungen in Richard Wagners mittleren und späten Musikdramen zum Thema hatten. Obwohl die Vorlesungstexte im Voraus übersetzt worden waren, erfolgte doch durch die überaus engagierte Arbeit und Vermittlung der Übersetzerinnen Xia Ran und Zhang Nan eine zwar subtile, aber doch merkliche Überarbeitung der Vorlesungsinhalte, sodass zumindest bei den Vortragenden der Eindruck entstand, mit den inhaltlichen Verschiebungen auf die Diskussionsrunden der jeweils vorausgehenden Vorlesung reagieren zu können.

Die Diskussionsblöcke kreisten um Themen wie die Übertragung sprachlich-syntaktischer Funktionen auf musikalische Formen bis hin zur Entwicklung sogenannter musikalischer Prosa, die konstruktiven und narrativen Komponenten eines historischen Raums, Vorstellungen von Distanz als Analogie von geographischer und historischer Ferne, intertextuelle Bezüge, die sich aus der Überformung musikalischer Vorbilder ergeben und nicht zuletzt die Aneignung von vermeintlich Fremdem. Boten die Workshop-Themen sicherlich den primären Anstoß, so besteht doch offensichtlich nicht erst seit Kurzem ein Interesse für Intertextualität als Produkt stilistischer Übertragungen und für Einblicke in den aktuellen, europäisch geprägten Diskurs zu diesem Themenfeld, was auch zahlreiche Einzelgespräche über Disputationsthemen und Forschungsliteratur bestätigten.

Einen Höhepunkt bildeten die Konzerte, die von drei Spezialensembles für zeitgenössische Musik präsentiert wurden, nämlich von der 1993 in Hannover gegründeten Gruppe Das Neue Ensemble unter der Leitung von Stephan Meier, dem Ensemble ConTempo Beijing sowie dem zum Beijing International Composition Workshop als Ensemble in Residence geladenen New Music Concerts Ensemble aus Toronto unter der Leitung von Robert Aitken. Das Ensemble ConTempo, dessen Mitglieder aus dem Umfeld des Zentralkonservatoriums kommen, verbindet das Spiel traditioneller chinesischer Instrumente und deren Spielkultur mit zeitgenössischer Komposition, um – wie es in der Selbstdarstellung heißt – aktuelle chinesische Komposition und traditionelle Aufführungspraxis zusammenzuführen sowie die Kommunikation zwischen China und der westlichen Welt künstlerisch zu vertiefen. Das Abschlusskonzert des Forum for Music Analysis, in dem Kompositionen der DozentInnen der veranstaltenden Kompositionsabteilung aufgeführt wurden, war eine beeindruckende Demonstration dieses künstlerischen Anliegens. Besonders in Jia Guopings Komposition Whispers of a Gentle Wind für erhu, sheng, pipa und zheng (2011) gelang es, den Instrumenten ihre traditionelle Identität zu belassen und zugleich die tonalen und rhythmischen Beschränkungen zugunsten teilweise überwältigender Übergänge zwischen Geräuschaktionen und Klängen mit konkreter Tonhöhe aufzulösen. Auch die Präsentation ausgewählter studentischer Kompositionen, deren Wettbewerbsthema die Verbindung traditioneller chinesischer und westlicher Instrumente war, zeigte in der Aufführung durch das hervorragende und ebenso virtuos wie entspannt spielende kanadische Ensemble sehr anspruchsvoll gearbeitete und inspirierte Musik, wobei die Arbeiten der Studierenden von Wen Deqing sich durch versiertes Materialbewusstsein und Reflektiertheit im Umgang mit ›traditionellen‹ und ›westlichen‹ Klischees auszeichneten.

Im direkten Vergleich mit europäischen Analysetagungen, sofern dieser sinnvoll ist, fiel der fließende Übergang zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis auf: Kompositionen von wissenschaftlichen Professoren wie Xiang Min und Yao Chen wurden selbstverständlich zusammen mit den Kompositionen ihrer künstlerischen KollegInnen aufgeführt, und umgekehrt war der Komponist Jia Guoping im dreiköpfigen Leitungsteam der Analyse-Tagung.

Ein letztes Wort zur Vorbereitung, Organisation und Durchführung der Tagung: Schon die Einladung von zwei Ensembles und zwei Gastdozentinnen aus dem Ausland für die Dauer von mehr als einer Woche zeigt den ungemein hohen finanziellen Aufwand, den sich vermutlich keine Hochschule leisten könnte, wäre sie nicht massiv staatlich gefördert und wäre die Veranstaltung nicht als ›konzertierte Aktion‹ eines sehr großen und um zentrierte Kommunikation bemühten Kulturbetriebs geplant. Keine Frage der finanziellen Unterstützung war jedoch die aktive und konzentrierte Zusammenarbeit des Kollegiums des Zentralkonservatoriums und der anderen chinesischen Konservatorien sowie die offensichtlich sehr gute Kommunikation zwischen ProfessorInnen und Studierenden. Da die meisten in beide Tagungen eingebunden waren, ist die durchgehend aktive und flexible inhaltliche wie administrative Arbeit und Energie umso mehr zu bewundern.

Die Workshops waren gut besucht und zählten teilweise ca. 130 TeilnehmerInnen. Gerade die Arbeit der hochqualifizierten Übersetzerinnen Xia Ran und Zhang Nan, die beide in Deutschland Komposition studiert haben, hervorragend Deutsch sprechen und auch auf inhaltlicher Ebene in zahlreichen zusätzlichen Arbeitstreffen nach vermittelnden Ideen zwischen einer weitgehend ahistorischen musiktheoretischen Basallehre des traditionellen Curriculums und den damit weitgehend inkommensurablen Workshop-Themen suchten, ließ auf nachhaltiges und gefiltertes Interesse schließen: Es ging bei diesem Forum nicht zuletzt um eine Standortbestimmung aktueller chinesischer Forschungsinteressen. Vertieft wurden, auch in den Analyse-Workshops zur Spätromantik, hauptsächlich Fragen der intertextuellen Übertragbarkeit verschiedener Stile und der handwerklichen Durchdringung des Materials in Instrumentation und Kontrapunkt. Fragen zum Weiterarbeiten – wissenschaftlich wie künstlerisch.