Gatz, Almut (2021), »Laura Krämer, Musik verstehen und erfinden. Übungs- und Spielbuch für Melodieinstrumente (= Spezialheft aus der Reihe üben & musizieren), Mainz: Schott 2021«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 18/2, 243–246. https://doi.org/10.31751/1157
eingereicht / submitted: 28/12/2021
angenommen / accepted: 28/12/2021
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 30/12/2021
zuletzt geändert / last updated: 23/07/2022

Laura Krämer, Musik verstehen und erfinden. Übungs- und Spielbuch für Melodieinstrumente (= Spezialheft aus der Reihe üben & musizieren), Mainz: Schott 2021

Almut Gatz

Schlagworte/Keywords: didactics of music theory; Didaktik der Musiktheorie; Improvisation; partimento; Solmisation; solmization

In ihrem kompakten Unterrichtsbuch bietet Laura Krämer Arbeitsweisen für den Instrumentalunterricht an, die es erleichtern, in früheren Jahrhunderten selbstverständlich dazugehörige musikalische Bildungsinhalte von der inzwischen oft abgespaltenen ›Theorie‹ zurück in die musikalische Praxis zu holen, darunter Orientierung im Tonsystem, Notation, Erfinden und Bearbeiten von ebenso wie Sprechen über Musik. Es richtet sich explizit an Lehrende und Lernende von Melodieinstrumenten und betont auch durch den Verzicht auf die Veranschaulichung am Klavier die wechselseitige Durchdringung von Melodie, Kontrapunkt und Harmonie. Ziel ist das Anlegen einer »Vorratskammer« musikalischer Topoi, die spielerisch erkundet, geübt und verinnerlicht werden, bis sie unmittelbar verfügbar sind (7). Dabei sollen »Hören, Greifen/Körpergedächtnis, Sehen/Notenlesen, kognitives Verstehen und mentale Repräsentation der Musik […] beim Erwerb des musikalischen Besitzes ineinander [fließen]. Ob eine Schülerin dann Harmonien zu einem Lied ›nach Gefühl‹ findet oder ob ihr dabei die musiktheoretische Begründung präsent ist, ist nicht wichtig. Voraushören, Verstehen und Anwenden gehören zusammen, und Voraushören und Anwenden sind eine Art des Verstehens« (8).

Die Inhalte umfassen »grundlegende Elemente und Verfahrensweisen der harmonisch-tonalen Musik« (8) und sind nach musiktheoretischen Themenbereichen gegliedert:

(1) Funktionale Leiterstufen/Harmonik 1 (Klauseln, Hauptstufen/-Funktionen, Tonleiterharmonisierung, Kadenz),

(2) Form (Anfangen, Antworten, Entwickeln im Sinne kleiner klassischer Formen),

(3) Harmonik 2 (Nebenstufen in Dur und Moll, Quintenreihe und Paralleltonarten, einfache Modulationen).

Die Kapitel sind mit aufeinander aufbauenden Übungen und Inhalten schlüssig strukturiert, wobei Sprünge innerhalb des Buchs ebenso angeregt werden, wie das Herausgreifen einzelner Einheiten möglich ist. Das Form-Kapitel führt anschaulich in grundlegende formale Gestaltungsprinzipien auf motivischer und harmonischer Ebene ein und bietet sinnvolle Spielanleitungen zum Erfinden kleiner klassischer Formen. Dass die letzten Kapitel zu Nebenstufen, Quintenreihe und Modulation deutlich knapper gehalten sind, zeigt eine Priorisierung des praktischen Erarbeitens und Verstehens der Grundlagen, auf deren Basis sich analoge Übungen und Erfindungsaufgaben auch für anspruchsvollere Gegenstände selbst entwickeln lassen.

Laura Krämer arbeitet mit Relativer Solmisation und verwendet sowohl die Handzeichen der Kodály-Methode als auch den Do-Schlüssel. Daneben werden Techniken historischer Improvisation (cantus super librum, barocke Diminutionspraxis) spielerisch verknüpft mit einfachen Verständnis- und Weiterentwicklungs-Übungen zu dur-moll-tonaler Musik. Mit Bezug auf Edwin Gordon und den durch ihn geprägten Begriff der »Audiation«[1] wird in jedem Abschnitt durch die Abfolge der Übungen eine Verknüpfung von Singen – Handzeichen und inneres Hören – Spielen – Hören – Beschreiben – Nachspielen, Variieren, Improvisieren – Analysieren hergestellt. Von Hand gezeichnete Illustrationen veranschaulichen wesentliche Konzepte.

Das Buch ist eher ein Lehrer*innen-Band als ein Spielbuch für Kinder, eignet sich aber für ältere Schüler*innen auch zum Selbststudium. So richten sich die Zeichnungen und (je nach Alter) auch die Erklärungen in den »Theoriekästen« an Schüler*innen, gleichzeitig scheinen viele Handlungsempfehlungen explizit an die lehrende Person adressiert (»Erfinden Sie…«). Das Nachdenken und Sprechen über Musik wird angeregt durch exemplarische Reflexionsfragen, die je nach Schüler*in individuell formuliert werden können, so z. B. zum Kadenzieren auf unterschiedlichen Stufen der Tonart mit Ganz- und Halbtonschritten in den Primärklauseln: »Fragen Sie Ihre Schülerin nach der Wirkung. Welche Endigungen klingen nach einem normalen Schluss, welche klingen eher nach Öffnung, welche klingen schön, spannungsvoll, entspannt?« (15)

Ein unterschiedliches (technisches wie kognitives) Niveau der Schüler*innen wird stets mit einkalkuliert: So sind viele Übungen in sehr schlichter Form ausführbar, Vorschläge zur Übertragung und Vertiefung werden aber immer mitgeliefert. Auch speziell geigenspezifisch konzipierte Beispiele sind leicht an andere Instrumente anpassbar.

Aus den dargestellten Phänomenen sollen ebenso eigene Übungen abgeleitet werden, wie sie an anderen Liedern, aktuell erarbeiteten Stücken u.ä. nachvollzogen, vertieft, angewandt werden sollen. Immer wieder wird die Lehrperson auch zum Erfinden eigener Stücke und Improvisationsspiele aufgefordert, sodass – als guter Nebeneffekt – von den Lehrenden Ähnliches gefordert wird wie von den Lernenden, nämlich Material und Phänomene zu verstehen, sie auseinanderzunehmen, damit zu spielen oder sie in kreativer Weise weiterzuführen und für die jeweiligen Unterrichtssituationen zu erschließen.

Dabei setzt Laura Krämer voraus, dass sich die Leserinnen und Leser des Buches ggf. wenig vertraute Inhalte und Arbeitsweisen aus anderen Quellen aneignen. So wird etwa die Kodály-Methode einschließlich der Silben und Handzeichen genannt, jedoch werden die Prinzipien, Methoden und Entscheidungsnotwendigkeiten[2] der relativen Solmisation vor allem implizit in der Anwendung evident gemacht. Auch wenn es für den Gebrauch des Buchs nicht unbedingt notwendig ist, könnten für viele Instrumentallehrende zusätzliche Hintergrundinformationen, ein Quellenverzeichnis und Angaben zu weiterführender Literatur bereichernd sein, so z. B. zum Begriff der Audiation,[3] zu Methoden Relativer Solmisation,[4] zu Improvisations- und Spielanleitungen mit Beispielen wie bei Barnabé Janin, Martin Erhardt oder Pascale Boquet und Gérard Rebours,[5] zur Oktavregel, zu den genannten Instrumentalschulen des 18. und 19. Jahrhunderts (51) oder zur Formenlehre.[6] Es ist eine pragmatische Entscheidung der Autorin, auf diese Referenzen zu verzichten, die möglicherweise die didaktisch begründete spielerische Leichtigkeit des Lehrgangs gestört hätten.

Das Buch ist weder Violinschule noch Improvisationsanleitung oder reines Theoriebuch, es belegt eine Schnittstelle dazwischen. Dabei zielt es direkt auf die Beschaffenheit der dur-moll-tonalen Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, wobei historische Ursprünge wie die Herkunft der Klauseln aus der Renaissance angedeutet werden. Durch diese klare Fokussierung sind die Gegenstände stilistisch weniger vielfältig als in verwandten Publikationen,[7] dafür werden sie dem Anspruch gerecht, eine geordnete Vorratskammer zu füllen, deren Inhalte nicht nur entdeckt und erkundet, sondern auch benannt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. »Verstehen« steht dabei im Vordergrund vor dem (freien) »Erfinden«, das durch den stilistischen Rahmen und die deutlich auf ein spezifisches Lernziel ausgerichteten Improvisations- und Kompositionsaufgaben bestimmt ist.

Dass als Bezeichnungssysteme je nach Zielsetzung sowohl Funktionen als auch oktavregelbezogene Bassstufen sowie (erst bei den Nebendreiklängen) römische Stufen eingeführt werden, kommt zum einen den Lehrenden entgegen, die mit mindestens einem der Systeme vertraut sein dürften, zum anderen sind Schüler*innen damit nicht nur gut vorbereitet auf unterschiedliche Anschlussausbildungen, sondern haben von Anfang an die Bedingtheit und Wandelbarkeit analytischer Herangehensweisen kennengelernt. So gelingt es Laura Krämer, die Perspektive hochschulischer Musiktheorie greifbar zu machen für das frühe Musikverstehen am Instrument.

Die Arbeit mit dem Buch ist sicherlich fordernd, aber ebenso lohnend für Lehrende, die neben zusätzlicher Vorbereitung (Hörbeispiele suchen, Melodien komponieren) auch Flexibilität, Fachwissen, Hörvermögen und Improvisationsfähigkeit einbringen sollen. Zwar finden sich diese Kompetenzen in den meisten instrumentalpädaogischen Studiengängen als wichtige Ziele neben der Kernfachausbildung, sei es in musiktheoretischen, ensemblepraktischen oder fachmethodischen Lehrveranstaltungen. Gerade für die Verbindung mit und Anwendung in der eigenen Spiel- und Unterrichtspraxis fehlen aber häufig Räume, Anlässe und Anregungen, während gleichzeitig bei jungen Musiker*innen das Musikverstehen dem instrumentalen Können oft weit hinterherhinkt. Hier kann Laura Krämers Unterrichtsbuch ein wichtiger Impulsgeber nicht nur für den konkreten Unterricht, sondern ebenso für instrumental- und musiktheoriedidaktische Konzeptionen sein.

Anmerkungen

1

Auch in pragmatischer (etwa auf Leistungsabzeichen von Blasmusikverbänden hin) orientierten Lehrwerken spielt Audiation (inzwischen) eine wichtige Rolle. Vgl. Stecher 2016.

2

Insbesondere die Problematik in Bezug auf den Mollgrundton (do oder la) wird angerissen (18), aber kaum weiter vertieft. So heißt die Tonika do – mi – so, die Dominante so – ti – re (Einführung 20–22), die Übertragung geschieht nur in der letzten Übung des Abschnitts mit der Mollterz ma. Auch im Folgenden wird mit Tonika = do gearbeitet, erst im letzten Kapitel zu den Nebenstufen wird die Molltonika la erklärt und eingeführt (90 f.).

3

Gordon 1997.

4

z.B. Heygster/Grunenberg 1998, Losert 2011.

5

Janin 2014, Erhardt 2011; Boquet/Rebours 2007.

6

Gerade für die Einführung speziellerer Begriffe zur Themenbildung wie »Hybrid 1« (83) wäre ein Quellenhinweis möglicherweise sinnvoll gewesen. Vgl. Caplin 1998.

7

Vgl. etwa Naumann 2015.

Literatur

Boquet, Pascale / Gérard Rebours (2007), 50 Renaissance & Baroque Standards. With Variants, Examples & Advice for Playing and Improvising on any Instrument, Bressuire: Fuzeau.

Caplin, William (1998), Classical Form: A Theory of Formal Functions for the Music of Haydn, Mozart, and Beethoven, Oxford: Oxford University Press.

Erhardt, Martin (2011), Improvisation mit Ostinatobässen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, Magdeburg: Biersack.

Gordon, Edwin (1997), Learning Sequences in Music: Skill, Content, and Patterns. A Music Learning Theory, Chicago (IL): GIA Publications.

Heygster, Malte / Manfred Grunenberg (1998), Handbuch der Relativen Solmisation, Mainz: Schott.

Janin, Barnabé (2014), Chanter sur le livre. Manuel pratique d’improvisation polyphonique de la Renaissance, Lyon : Guéniot.

Naumann, Sigrid (2015), Spielräume – Spielregeln. Leichte Klavierstücke aus vier Jahrhunderten. Entdecken, Erforschen, Erspielen, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel.

Losert, Martin (2011), Die didaktische Konzeption der Tonika-Do-Methode. Geschichte, Erklärungen, Methoden, Augsburg: Wißner.

Stecher, Michael (2016), Musiklehre Rhythmik Gehörbildung, 2 Bde., Kraichtal: HeBu Musikverlag GmbH.

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