Edler, Florian / Ariane Jeßulat / Ullrich Scheideler (2021), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 18/2, 5–11. https://doi.org/10.31751/1156
eingereicht / submitted: 30/12/2021
angenommen / accepted: 30/12/2021
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 30/12/2021
zuletzt geändert / last updated: 26/07/2022

Editorial

Im Jahr 2018 veröffentlichte der Schriftsteller und Philosoph Wolfram Eilenberger ein weithin beachtetes Buch mit dem Titel Zeit der Zauberer, dem er als Untertitel Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929 beifügte. Der Verfasser argumentierte darin, dass in dem Jahrzehnt unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (letztmalig) in der deutschsprachigen Philosophie eine umfassende und bis heute nachwirkende Erneuerung philosophischen Denkens gelang, die sich von älteren Mustern etwa der Nietzsche-Nachfolge zu lösen vermochte und zugleich die Umbrüche in den Naturwissenschaften und der Psychologie reflektierte. Eilenberger bezog sich bei seiner These auf so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Ernst Cassirer, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin, wobei er annahm, dass sich die vier zwar in ihren Auffassungen und Antworten, nicht aber hinsichtlich ihrer philosophischen Fragen deutlich voneinander unterscheiden.[1]

Hat es auch auf dem Gebiet der Musiktheorie dieser Zeit einen womöglich vergleichbaren Aufbruch, eine Verabschiedung traditioneller Denk- und Lehrweisen gegeben? Diese Frage liegt angesichts im gegenwärtigen musiktheoretischen Diskurs so präsenter Namen wie Ernst Kurth, Heinrich Schenker oder Arnold Schönberg nahe, auch wenn deren Konzepte im Kontext einer sich als historisch informiert begreifenden Musiktheorie heute bisweilen weniger euphorisch rezipiert werden. Dennoch ist ihre Strahlkraft ungebrochen, wie etwa das große Interesse an Fragen des musikalischen Hörens beweist, das sich auf wichtige Impulse bei Ernst Kurth berufen kann.

Bei aller Unterschiedlichkeit der in den 1920er Jahren entwickelten musiktheoretischen Ansätze besteht das Verbindende in jener Zeitstimmung, wie sie beispielsweise der Titel der für die damalige Wiener Moderne so wichtigen Musikblätter des Anbruch zum Ausdruck bringt: dem Bewusstsein, nach der universellen Katastrophe des Weltkriegs an einem Neubeginn zu stehen, der die Chance bietet, Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu überwinden und die kulturellen Verhältnisse von Grund auf zu reformieren. Dabei bestehen auf musikalischem Gebiet etliche Parallelen und Vernetzungen zwischen kompositorischen, pädagogischen und eben theoretischen Ansätzen. Mit Blick auf Musiktheorie wurde auf der einen Seite eine Vertiefung des Reflexionsniveaus und Erklärungspotentials angestrebt, indem die traditionelle propädeutische Funktion des Fachs im Rahmen der Kompositionsausbildung zurücktrat gegenüber dem Anspruch, musikalische Phänomene umfassend zu deuten und zu durchdringen. Stilübergreifende universelle Theoriebildung ist in diesem Sinne ebenso zeittypisch wie die Einbeziehung philosophischer und psychologischer Ansätze. Auf der anderen Seite führten die Abwendung von der vermeintlich dekadenten, gefühls- und pathosgesättigten Attitüde des Fin de Siècle, der Hoch-, Spät- und Nachromantik und die gleichzeitige Aufwertung des Mechanischen, des Handwerks sowie der Technik und Sachlichkeit zu einer Hinwendung zu bestimmten musiktheoretischen Themen und Schwerpunkten. So sind das erwachende Interesse an alten und neuen Modi und Skalen, an Gestaltungsweisen der Wiener Klassik, an satztechnischer Analyse und deren graphischer Visualisierung, an der Theoriebildung über Parameter wie Rhythmus und lineare Melodik, die polemisch gegen das bisherige Übergewicht der Harmonielehretradition ausgespielt werden konnten, gleichermaßen symptomatisch für den um 1920 einsetzenden partiellen Bruch mit dem Erbe des langen 19. Jahrhunderts.

Wenn wir in aktuellen musiktheoretischen und musikwissenschaftlichen Fragestellungen Theorien Kurths, Halms, Schenkers und Schönbergs anwenden oder als Diskursstränge verstehen, dann geschieht dies aus spezifischen historischen, kulturellen und geographischen Perspektiven: So ist es kaum möglich, Heinrich Schenker ohne die Schenkerian Analysis, Ernst Kurth ohne Vorstellungen von Energetik oder Arnold Schönbergs Gedanken ohne bestimmte Ideen von Tonalität in ein etabliertes Koordinatensystem des 20. Jahrhunderts einzufügen. Mit dem Schwerpunkt auf einer Musiktheorie der 1920er Jahre – hier ist der re-konstruktive Charakter im unbestimmten Artikel ernst zu nehmen – wird dieses etablierte Koordinatensystem in seinen Achsen verändert: Indem musiktheoretische Ideen näher an ihrem historischen Ursprung aufgegriffen werden, indem historische Situationen rekonstruiert werden, in denen die prägenden Deutungsmuster nach 1945 noch nicht ausgereift, dafür allerdings heute weniger präsente theoretische Verbindungslinien und möglicherweise aus (west)europäischer Perspektive wirkungsgeschichtlich weniger einschlägige Aspekte von Musiktheorie noch nicht verschüttet waren, ergeben sich Blickwinkel auf ein offenbar komplexeres 20. Jahrhundert.

Vor diesem Hintergrund kann und will sich die vorliegende Ausgabe der ZGMTH nicht allein auf die großen Namen konzentrieren, sondern strebt – ohne Bemühen um Vollständigkeit – ein breiteres Panorama des so innovativen ersten Jahrzehnts der Zwischenkriegszeit an, in dem heute weniger bekannte Stimmen zu Wort kommen und nicht zuletzt auch der Diskurs jenseits der im deutschsprachigen Raum wirkenden Autor*innen Berücksichtigung findet.

In den 1920er Jahren waren es nicht nur die naturwissenschaftlichen Evaluationen der spekulativen Richtung innerhalb der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts durch die moderne Tonpsychologie (die der Energetik implizite Theorie innerer Vorstellungen) oder ein immer stärker durch die sogenannten exakten Wissenschaften inspiriertes Entwerfen tonaler Denkmodelle (z. B. die Affinität zur Feldtheorie in den energetischen Metaphern[2] bei Ernst Kurth und August Halm, die Schichtenlehre nach Heinrich Schenker sowie die phänomenologischen Einflüsse auf die Intonationslehre nach Boris Asafyev), sondern gerade die Annäherung zwischen Kompositionslehre, Analyse und Geisteswissenschaften, die den Horizont musiktheoretischer Arbeit aus der relativen Enge der musikalischen Fachwelt heraus auf die gesamte Palette menschlicher Bildung ausweitete. So verschieden und inkommensurabel theoretische Ansätze – Hans Mersmanns Höranalysen, Kurths Arbeiten zu Bach und Wagner, Halms Beethoven- und Bruckneranalysen, die ungarische Musiktheorie ausgehend von Béla Bartók und Zoltán Kodály oder Asafyevs Intonationstheorie – auch sein mögen, der Einfluss von Philosophie und Literatur, von Psychologie, Anthroposophie, Reformpädagogik, Lebensreform und der frühen Kulturwissenschaft Aby Warburgs[3] und schließlich ein enger Austausch verschiedener Künste und Kunstsparten bilden die Basis für Gedanken, die in ihrer mitunter spekulativen Großartigkeit und weltanschaulichen Prägung[4] nichts weniger waren als bloße Beiträge zur Musikausbildung.

Den Fragestellungen in aktueller Philosophie und Kognitionswissenschaft[5] durchaus vergleichbar stellen die Theorien der 1920er Jahre die Validität sprachlich basierter Erkenntnis in Frage: Erlebnis, Intuition, Tonfälle oder »Tendenzen« sowie die Zuhilfenahme komplexer, perspektivischer oder dynamischer Modelle verdeutlichen diesen Innovationsschub, der mit einer differenzierten Idee menschlichen Bewusstseins auch die musiktheoretischen Methoden erfasste. So wurde – nach eher weniger beachteten Anfängen bei Gottfried Weber[6] – unter dem Einfluss der modernen Wahrnehmungspsychologie dem Akt des Hörens der Rang einer produktiven Leistung zuerkannt, wie auch in der Phänomenologie das sinnliche Erleben Ort genuiner Erkenntnis ist. Und so sind die mitunter aus kompositionstechnischer Perspektive befremdenden Analysen Ernst Kurths[7] nicht nur Indiz für sein eventuelles Desinteresse an kompositorischem Handwerk, sondern die Suche nach einer neuen Wahrnehmungstiefe, die nicht dasselbe ist wie die Reproduktion des klingenden Kunstwerks oder die Rekonstruktion seiner Entstehung. Ebenso belegt die Metaphorik musikanalytischer Prosa[8] der 1920er Jahre, wie sich im Zusammengehen von Psychologie und dem Stil der analytischen Paraphrase in der Tradition musikalischer Fachzeitschriften und Leitfadenliteratur ein wissenschaftliches Idiom herausschälte, das auch zur verbalen Erfassung modernster Musik die nötige Erlebnisnähe und Flexibilität bot. Nicht zuletzt entstand die Musiktheorie der 1920er Jahre in einem europäischen Kulturraum, der besonders mit seinen Zentren im heutigen Ungarn, Tschechien und Russland aus zeitgenössischer Perspektive kaum mehr rekonstruiert werden kann, sodass sich mit dem leichten Schwerpunkt auf Dokumenten ost- und ostmitteleuropäischer Musiktheorie die traditionell eher auf den deutschsprachigen Raum gerichtete Perspektive zumindest ein wenig verschoben hat.

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Einen Überblick gibt Felix Wörner in seinem Text »Zu einigen Paradigmen musiktheoretischen Denkens in den 1920er Jahren« und diskutiert wesentliche Gegenstände von Musiktheorie dieser Zeit im Kontext sowohl eines veränderten Komponierens als auch einer neuen Diskurslage, die mehr noch als in den vorangehenden Jahrzehnten auch von polemisch geführten Auseinandersetzungen geprägt war. Gezeigt wird, dass der bei einem Teil der Komponisten vollzogene Übergang zur Atonalität nicht nur neue Ideen auf dem Gebiet der Harmonik mit sich brachte, die auch Fragen nach der Melodiebildung sowie nach dem Verhältnis von Melodik und Harmonik berührten, sondern auch zur Entwicklung neuer Kategorien wie dem musikalischen Raum führten. Nicht zuletzt rückte bei einigen Autoren das musikalische Hören als zentraler Gegenstand der Musiktheorie in den Vordergrund.

In ihrem Aufsatz »Das Menschliche in der Musik. August Halms prozessuale Metaphorik im Brennpunkt analysetheoretischer Fragestellungen« untersucht Astrid Bolay Halms Analysen Beethoven’scher Klaviersonaten aus kognitivistischer Perspektive im Anschluss an George Lakoff und Mark Johnson. Dabei tritt Halms Neigung zu einer prozesshaften, Musik mit Bewegungsverläufen assoziierenden Metaphorik zu Tage, die sich nicht immer widerspruchsfrei mit seiner formalästhetischen Position in Einklang bringen lässt. Das spezifische Profil von Halms Analysesprache zeigt sich umso klarer in der Gegenüberstellung mit Heinrich Schenkers primär strukturell-räumlicher Metaphorik, bei der Bewegungselemente zurücktreten. Abschließend plädiert Bolay für eine angemessene Verwendung von prozessualer Metaphorik auch in heutiger musikalischer Analyse.

Patrick Becker-Naydenovs Artikel zu Boris Asafyevs Intonationstheorie zeigt auf den ersten Blick eine erstaunliche Nähe zu den Vorformen einer musikalischen Toposforschung, wie sie z. B. von Paul Mies und Heinrich Tappert auf der Suche nach prägenden musikalischen Formeln vorgenommen wurde. Bei allen Gemeinsamkeiten zeichnet sich Asafyevs Ansatz jedoch durch einen starken Fokus auf die Repräsentation (nonverbaler) Tonfälle aus und bietet relevante methodische Perspektiven für die Detailanalyse nicht nur russischen Opernrepertoires der Spätromantik und Moderne. Der mit der Lebensphilosophie gemeinsame Anspruch, im musikalischen Kunstwerk menschliche Wirklichkeit phänomenologisch zu erfassen, bot die Voraussetzungen für die spätere ideologische Instrumentalisierung, weist aus der historischen Distanz allerdings auf die verblüffende inhaltliche Nähe zur Energetik und Toposforschung hin.

Heinrich Schenker und Arnold Schönberg gelten gemeinhin als Antipoden. Der Aufsatz »Urlinie und Zwölftonreihe als Zeitgenossinnen« von Martin Eybl zeigt, dass ihre Konzepte, so verschieden auch die Musik war, auf die sie sich bezogen, doch von ähnlichen Prämissen bestimmt waren. Gemeinsam ist beiden Theoretikern etwa die Vorstellung, dass der musikalische Zusammenhang durch eine spezifische Organisation der Tonhöhenordnung erreicht werde und dass das musikalische Werk aus elementaren Bausteinen erwachse ‒ Aspekte, die sich aber gleichermaßen erst in der Analyse erschließen lassen. Zugleich gibt es auffällige Parallelen sowohl in der Biographie als auch in der radikalen Stoßrichtung ihrer Theorie, strebten beide doch nichts Geringeres als die Rettung der deutschen Kultur an.

Im Beitrag zu »Hugo Kauders Skalentheorie in seinem Entwurf einer neuen Melodie- und Harmonielehre« von Clara Maria Bauer, der 2020 im 10. Aufsatz-Wettbewerb der GMTH den 2. Preis gewann, wird mit Hugo Kauder ein Musiktheoretiker vorgestellt, der im Wien der 1920er Jahre wirkte, auf die kompositorische Entwicklung aber anders als seine prominenten Wiener Zeitgenossen mit dem Versuch reagierte, eine tonale Musiksprache ausgehend von einer älteren dualistischen Harmonielehre zu entwickeln, die er in eigenen Werken auch umzusetzen suchte. Das Ineinander von Theorie und kompositorischer Praxis wird in dem Aufsatz durch eine Vorstellung und Kontextualisierung der musiktheoretischen Konzepte zu einer Skalentheorie und Melodielehre entfaltet. Hieran schließt sich die Untersuchung einer Komposition Kauders an, die deutlich macht, auf welche Art die Konzepte in das Komponieren Eingang fanden.

Miloš Hons’ Studie »Karel Janeček − a leading figure in Czech music theory and pedagogy: his theoretical writings from the 1930s and 1940s« geht, wie der Titel erkennen lässt, über den zeitlichen Rahmen der 1920er Jahre hinaus, berücksichtigt aber Vorbilder, Lehrer und Vorgänger des hauptsächlich an der Prager Musikakademie wirkenden Janeček wie unter anderem Josef Förster, Otakar Zich oder Otakar Šín. Somit bietet der Beitrag Einblicke in die Entwicklung des Musiktheoriediskurses in der tschechoslowakischen Republik vor allem im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts. Ein allmählicher Wandel wird etwa im Kontrapunktunterricht erkennbar, den Janeček im Unterschied zu seinen Vorgängern auf Literaturbeispielen aufbaute, oder auch bei unterschiedlichen grafischen Darstellungen dynamischer Formverläufe in sinfonischer Musik von Bedřich Smetana. Janeček erweist sich als vielseitiger Musiktheoretiker, der die Zwölftonmusik verteidigte und eine besonders mit einer Methode der Akkordklassifizierung an Allen Fortes Pitch-Class Set Theory erinnernde, wiewohl eigenständige Theorie über ›moderne Harmonik‹ konzipierte.

Anna Dalos’ Aufsatz zu Zoltán Kodálys Harmonielehre präsentiert bisher unveröffentlichtes Material aus Kodálys Unterrichtstätigkeit am Budapester Konservatorium zwischen 1907 und 1942. Die Mitschriften seiner Studierenden, aber auch seine eigenen Studien damals aktueller musiktheoretischer Literatur, welche Ernst Friedrich Richters Lehrbuch der Harmonie von 1853 ebenso einschließen wie Arnold Schönbergs Harmonielehre, Georg Capellens Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre und Ernst Kurths Romantische Harmonik, zeigen eine intensive Auseinandersetzung mit einer Musiktheorie der Moderne, welche die Krise der Tonalität nicht weniger behandelte als den Einfluss Richard Wagners auf zeitgenössische Harmonik. Dalos´ präzise Lektüre der Kodály-Rezeption durch die nächste Generation dokumentiert die allmähliche und nachträgliche Übernahme skalentheoretischer Ansätze aufgrund des Einflusses von Arbeiten Ernő Lendvais, welche gemeinhin als Charakteristikum ›ungarischer Musiktheorie‹ verstanden werden. Das close reading der Dokumente aus Kodálys Lehrtätigkeit gewährt Einblicke in ein weniger glattes, aber differenzierteres Bild harmonischer Theorie zwischen Tradition und Avantgarde.

Lassen sich die Beiträge zum Themenschwerpunkt als Re-Visiting einer musiktheoretisch auch kritisch beurteilten Zeit lesen,[9] so behandeln auch die freien Beiträge z. T. sehr bekanntes Repertoire unter einem neuen Aspekt.

Benedict Taylors Annäherung an Clara und Robert Schumann aus der Perspektive von gender fluidity stellt Kompositionen der beiden einander gegenüber, wobei einerseits Momente gegenseitiger Beeinflussung erkennbar, andererseits aber Einblicke in Überlegungen gegeben werden, wie oder ob Vorstellungen von Gender in einer Überlagerung von Biographie und Fiktion auch in nicht-textierter Musik analytisch nachgewiesen werden können.

Die in Tihomir Popovićs Aufsatz zur Antikenrezeption in Claude Debussys Klaviermusik vorgestellte Idee von Antike ist insofern innovativ, als Popović die zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsente Vorstellung einer ebenso exotischen wie distanzierend-exquisiten Ferne an zwei Fallstudien, den Danseuses de Delphes und den Six épigraphes antiques, herausarbeitet und damit ein intensives Bild kolonial geprägter ästhetischer Präsenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachzeichnet.

Irmgard Brockmann geht es in ihrem Beitrag »Im Labyrinth – György Ligetis Étude pour piano Nr. 1 Désordre im Höranalyse-Unterricht« darum zu zeigen, dass Musik des 20. Jahrhunderts grundsätzlich über das Hören umfassend analytisch erschlossen werden kann. Dies setzt allerdings eine vorausgehende Aufbereitung des zu hörenden Materials vermittels einer Notationssoftware voraus, indem Einzelelemente separat eingespielt werden. Das Verfahren leitet sich von einem Einführungsvortrag Ligetis ab, in dem dieser anhand einzeln vorgeführter Schichten eines eigenen Werks dessen Struktur erläuterte. Im weiteren Verlauf jener Unterrichtseinheit, die der Text reflektiert, werden Erwartungen auf noch nicht Gehörtes verbalisiert, um diese abschließend der tatsächlichen Lösung Ligetis gegenüberzustellen.

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Dem von Philipp Teriete und Derek Remeš herausgegebenen Sammelband Das Universalinstrument. »Angewandtes Klavierspiel« aus historischer und zeitgenössischer Perspektive, dessen Ausgangspunkt ein Vergleich der Ausbildung im Nebenfach Klavier in Deutschland (am Beispiel Freiburg i. Br.) und in den USA (am Beispiel Rochester) darstellt, widmet sich Reinhard Schäfertöns’ Rezension. Aufgrund der umfassenden und aktuellen Auseinandersetzung dieses Bandes mit der Klavierpraxis sei zu erwarten, dass er sich als Referenzwerk zu diesem Thema auch auf längere Sicht etablieren werde.

In Umfang, Format und Anspruch verschieden, allerdings mit derselben Intention, die Lücke zu schließen zwischen einem immer differenzierter werdenden Wissens- und Methodenrepertoire um historische Improvisationspraxis und einem Instrumentalunterricht, der hauptsächlich auf das Erlernen von Literatur nach Noten ausgerichtet ist, präsentiert Laura Krämers Musik verstehen und erfinden aus der bei Schott erscheinenden Reihe »üben&musizieren ‒ Praxis« einen anregenden Lehrgang für Melodieinstrumente. Almut Gatz´ Rezension benennt und kontextualisiert die methodischen und musiktheoretischen Prämissen der Publikation.

Tobias Robert Klein bespricht zudem einen 2019 von Sumanth Gopinath und Pwill ap Siôn herausgegebenen Sammelband in der Rethinking-Reihe der Oxford University Press zu Steve Reich, in dem die neuesten Forschungen zur Musik Reichs gebündelt sind und eine Neuperspektivierung versucht wird. In der Auseinandersetzung ausschließlich mit dem angelsächsischen englischsprachigen Diskurs, so das Fazit, erweist sich der Band allerdings als recht einseitig.

Patrick Becker-Naydenov gibt in seiner Besprechung der Monografie von Henrike Rost über Musik-Stammbücher. Erinnerung, Unterhaltung und Kommunikation im Europa des 19. Jahrhunderts Einblicke in die Forschung über eine noch nicht umfassend untersuchte Gattung von Quellen zur Musik- und Kulturgeschichte, wobei er die beiden Aspekte der sozialen Funktion von Musikstammbüchern und deren Eigenschaft als schön gestaltete Objekte besonders hervorhebt.

Bjørnar Utne-Reitans Rezension von Benedict Taylors Grieg-Monographie von 2017 dokumentiert, in welcher Weise Taylor den Stand traditioneller Grieg-Forschung mit den harmonischen Grundlagen der Neo-Riemannian Theory zusammenführt.

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Herzlich danken möchten wir allen Autorinnen und Autoren sowie den Rezensent*innen für ihre Beiträge zu dieser Ausgabe, nicht zuletzt aber auch jenen Personen, die bereit waren, in einem peer-review-Verfahren die Texte zu beurteilen, und die häufig auch durch ihre detaillierten Hinweise zur Schärfung von Fragestellung und Darstellung beigetragen haben. Ein besonderer Dank gilt Tim Martin Hoffmann für das deutsche und Matthew Franke für das englische Korrektorat, Werner Eickhoff-Maschitzki für die Fertigung der Grafiken sowie Dieter Kleinrath für das Erstellen der PDF-Fassung. Ohne ihre immer präzise und sorgfältige Arbeit und ihren Einsatz zu buchstäblich jeder Zeit wäre die Ausgabe nicht zustande gekommen.

Florian Edler, Ariane Jeßulat, Ullrich Scheideler

Anmerkungen

1

Vgl. Eilenberger 2018.

2

Eggers/Stollberg 2021, 17–21.

3

Vgl. Gombrich 2012.

4

Vgl. Danuser 2009.

5

Vgl. Damásio 2021 und Noë 2006.

6

Vgl. Weber 1817.

7

Vgl. Holtmeier 2005, 116‬ f.

8

Vgl. Thorau 2012.

9

Vgl. Dahlhaus 1975, 8.

Literatur

Dahlhaus, Carl (Hg.) (1975), Beiträge zur musikalischen Hermeneutik, Regensburg: Bosse.

Damásio, António (2021), Feeling & Knowing: Making Minds Conscious, New York: Pantheon Books.

Danuser, Hermann (2009), Weltanschauungsmusik, Schliengen: Argus.

Eggers, Katrin und Arne Stollberg (Hg.) (2021), Energie! Kräftespiele in den Künsten, Würzburg: Königshausen & Neumann.

Eilenberger, Wolfram (2018), Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929, Stuttgart: Klett-Cotta.

Gombrich, Ernst (2012), Aby Warburg: Eine intellektuelle Biographie, übers. von Matthias Fienbork, Hamburg: Philo Fine Arts.

Holtmeier, Ludwig (2005), »Die Erfindung der romantischen Harmonik. Ernst Kurth und Georg Capellen«, in: Zwischen Komposition und Hermeneutik. Festschrift für Hartmut Fladt, hg. von Ariane Jeßulat, Andreas Ickstadt und Martin Ullrich, Würzburg: Königshausen & Neumann, 114–128.

Noë, Alva (2006), Action in Perception, Cambridge (MA): The MIT Press.

Thorau, Christian (2012), Vom Klang zur Metapher. Perspektiven der musikalischen Analyse, Hildesheim: Olms.

Weber, Gottfried (1817), Versuch einer geordneten Theorie der Tonsezkunst zum Selbstunterricht mit Anmerkungen für Gelehrtere, Bd. 1, Mainz: Schott.

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