Popović, Tihomir (2021), »Delphi in Schwarz und Weiß. Bilder der Antike in Claude Debussys Klaviermusik« [Delphi in Black and White. Images of Antiquity in Claude Debussy’s Piano Music], Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 18/2, 203–220. https://doi.org/10.31751/1149
eingereicht / submitted: 05/08/2021
angenommen / accepted: 13/12/2021
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 30/12/2021
zuletzt geändert / last updated: 23/07/2022

Delphi in Schwarz und Weiß.

Bilder der Antike in Claude Debussys Klaviermusik

Tihomir Popović

Der vorliegende Beitrag untersucht die kompositorische Konstruktion von Bildern der ›klassischen Antike‹ in Klavierwerken Claude Debussys. Im Fokus stehen dabei das Prélude »Danseuses de Delphes« sowie zwei Sätze aus den Six épigraphes antiques. Auf die musikanalytischen Betrachtungen folgt eine diskursanalytisch orientierte Kontextualisierung. Die Nähe des musikalischen Archaismus zu Exotismus und dadurch zum orientalistischen bzw. kolonialistischen Denken wird hervorgehoben.

This essay discusses the compositional construction of images of ›classical antiquity‹ in the piano music of Claude Debussy. The prelude »Danseuse de Delphes« and two movements of the Six épigraphes antiques are especially focused. A musical analysis of these pieces is followed by a discourse analytic contextualization. The proximity of musical archaicism with exoticism and through this with the orientalist and colonialist thought is pointed out.

Schlagworte/Keywords: Antike; Antiquity; Claude Debussy; Danseuses de Delphes; Klavier; piano; Six épigraphes antiques

Dass der Antikenrezeption in der europäischen Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte eine zentrale Rolle bei Prozessen der künstlerischen Neuschaffung zukommt, braucht nicht gesondert hervorgehoben zu werden. Frankreich des 19. und frühen 20. Jh. stellt dabei keine Ausnahme dar. So ist etwa die Welt der französischen Skulptur jener Zeit voller kauernder Aphroditen, tanzender Satyrn und Mänaden, Herkules- oder Apollodarstellungen u.ä.[1] Dabei war hier nicht nur der thematische, sondern auch der Gestaltungsbezug im Material an der klassischen Antike orientiert, wofür die Errungenschaften der Archäologie mit verantwortlich waren.[2] Neben den vielen Beispielen, an denen die Kunsthistorikerin Karina Türr die Wichtigkeit der Antikenrezeption in diesem Bereich nachweist, sei der Faune dansant von Eugène-Louis Lequesne (1851) im Garten des Palais Luxembourg als Beispiel genannt, eine Skulptur, an der die Verbindungen zum bekannten Satyr von Pompeji erkennbar sind, der Anfang der Dreißigerjahre des 19. Jahrhunderts ausgegraben wurde.[3]

Auch in Bezug auf französische Literatur von Pierre Corneille bis hin zu André Gide und Jean Cocteau wurde nicht selten auf die Bedeutung der Rezeption und Inszenierung der Antike aufmerksam gemacht.[4] Dass die Kunstauffassung eines Théophile Gautier und der Gruppe der Parnassiens ohne einen Rückgriff auf das antike Hellenentum undenkbar gewesen wäre, dürfte auch selbstverständlich sein.[5] Ebenso bekannt sind die Romane mit einem klaren Antikenbezug wie Gustave Flauberts Salambô (1857) oder Thaïs von Anatole France (1890), die als Schlüsseltexte der französischen Literatur jener Zeit gelten.[6] An die Antikenbezüge in Gedichten Paul Verlaines (»Le Faune« aus Fêtes galantes, 1866–69) oder Stéphane Mallarmés (L´après-midi d´un faune, 1866) muss man in der Debussy-Forschung kaum erinnern.[7]

Auf der Ebene der Musik wurde das Thema der Antikenrezeption der Debussyzeit u.a. von Kerstin Mira Schneider-Seidel ausführlich behandelt, die die musikalische Antikenrezeption um 1900 »vornehmlich ein französisches Phänomen«[8] nennt, wobei sie sich durchaus auch der auf die Antike bezogenen Werke nichtfranzösischer Komponisten von Strauss über Mussorgski bis hin zu Respighi bewusst ist.[9] Schneider-Seidel untersucht dabei vor allem die französische Musik mit Antikenbezug zwischen dem Deutsch-französischen Krieg und dem Ende des Ersten Weltkriegs, z.B. die Musik von Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré, Jules Massenet, Édouard Lalo, Erik Satie, Claude Debussy und Maurice Ravel. Dass dieser Antikenbezug in Frankreich nach 1870/71 im Prozess einer »Erneuerung der französischen Musik«[10] – wir würden heute vielleicht sagen: der Konstruktion ihrer Gallizität – stattfand, dürfte einleuchten. Dabei betont Schneider-Seidel insbesondere, dass die antiken Sujets in der französischen Musik um 1900 nicht mehr nur in der Oper Verwendung finden, sowie, dass die Antike nicht lediglich durch die Wahl der Sujets wirkte, sondern auch auf das musikalische Material.[11] Der Antike habe ein Ideal der »Einfachheit und Naturverbundenheit« entsprochen, dem man sich im Zuge der Erneuerung französischer Musik vor allem als Gegenmodell zur deutschen Musik zuwandte.[12]

Auch die Tatsache, dass sich Claude Debussy als Komponist mit der Welt der griechischen, oder, genauer: griechisch-römischen Antike beschäftigt hat, bedarf keiner erneuten Erwähnung. Debussys vielleicht am breitesten rezipiertes Werk widmet sich bekanntlich dem Nachmittag eines Fauns (1892–94), sein Solostück Syrinx (1913) gehört bei den Flötistinnen und Flötisten zu den Meilensteinen des Repertoires. Mit den Chansons de Bilitis, diesen fiktiv-antiken Stilkopien von Pierre Louÿs hat sich der Komponist wiederholt befasst, woraus ein Liederzyklus (1897–1898) und eine Szenenmusik (1900–01) entstanden sind.

Weniger erforscht sind die Bilder des klassischen Hellenentums in Debussys Klavierwerken: Diesem musikanalytischen Desiderat widmet sich der vorliegende Beitrag. Das Stück »Danseuses de Delphes« aus dem I. Buch der Préludes (1909–1910) und die Six épigraphes antiques, auf dem Material der erwähnten Bilitis-Szenenmusik basierend, für Klavier zu vier Händen (1914, es existiert auch eine solistische Version) werden im Folgenden behandelt.[13] Dabei soll nicht versucht werden, eine einheitliche musikalische Antikenrepräsentation bei Debussy zu konstruieren, sondern durchaus auf die unterschiedlichen kompositorischen Verfahrensweisen innerhalb dieser aufmerksam zu machen. Diese Verfahrensweisen der Konstruktion musikalischer Antikenbilder sind dabei auf der ›Oberfläche‹ des musikalischen Satzes zu suchen, denn sie sollen rezeptionstechnisch unmittelbar verstehbar werden: Es soll keine ›musikalische Tiefe‹ konstruiert werden, wenn diese nicht bis zur Oberfläche vordringt.[14]

Es sei hier ein Einschub gestattet: Auch dem monumentalen Klavierstück L´Isle Joyeuse wurde von dem frühen Debussy-Biographen Leon Vallas ein wenn auch indirekter Bezug zur Antike zugeschrieben: Der Komponist soll bei diesem Stück Antoine Watteaus Gemälde Le Pèlerinage à l’Isle Cithère (1717) vor Augen gehabt haben.[15] Allerdings wurde inzwischen hervorgehoben, dass es für diese Verbindung keine wirklichen Anhaltspunkte gebe.[16] Da dieser Bezug unsicher erscheint und ohnehin eher indirekter Art war, steht L´Isle Joyeuse in diesem Beitrag nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern »Danseuses de Delphes“«aus Préludes I und die ersten beiden der Six épigraphes antiques

»Danseuses de Delphes«

Wie manche französischen Skulpturen der Epoche, von denen eingangs die Rede war, so soll auch das erste Prélude für Klavier von Debussy einen Bezug zu einer archäologischen Entdeckung des 19. Jahrhunderts aufweisen: Louisa Shirley Liebich berichtete von einer Begegnung mit dem Komponisten, bei welcher er einige seiner Klavierstücke vorspielte und das Prélude »Danseuses de Delphes« auf seine Eindrücke von einer Skulptur aus dem Louvre zurückführte.[17] Laut Harry Halbreich und Jean-Michel Nectoux[18] handelt es sich aber um die 1894 von den Forschern der École Française d´Athènes in Delphi entdeckten Drei Tänzerinnen (die nicht in Louvre aufbewahrt werden).[19] Die drei etwa 1,95 m hohen Figuren befinden sich auf einer mit Akanthusblättern versehenen Säule; sie tragen Chitoniskoi (kurze Tuniken) und haben Kalathoi (Obstvasen) auf den Köpfen. Nach aktueller Interpretation von Francis Croissant und Jean Marcadé stellen sie die Töchter des legendären Königs Kekrops von Attika dar; möglicherweise repräsentieren sie fruchtbares Land.[20] Laut Jean-Michel Nectoux trägt die Gruppe Merkmale des Apollon-Kultes.[21]

In den ersten fünf Takten von »Danseuses de Delphes« findet sich eine Exponierung von Kontrasten, die für den gesamten Verlauf des Stückes konstitutiv ist:[22] Der erste Gedanke (»Danseuses de Delphes«, T. 1–4 bis zur 2. Zählzeit) zeichnet sich durch Chromatik und punktierten Rhythmus sowie eine wiederholt aufsteigende Geste aus. Dieser Gedanke ist leicht polyphonisiert: Die Linie, die den einprägsamen punktierten Rhythmus trägt, ist in den ersten zwei Takten in einer Mittelstimme zu finden, um in Takt 3 in die Oberstimme zu wandern. Dagegen wird jene Chromatik, die die Mittelstimme in den ersten beiden Takten auszeichnete, in Takt 3–4 in den Bass gelegt. Die strukturellen Charakteristika der Mittelstimme in Takt 1–2, nämlich die aufsteigende Chromatik und der punktierte Rhythmus, werden also in Takt 3–4 zwischen Sopran und Bass aufgeteilt: Der Sopran übernimmt den Rhythmus und der Bass die melodische Linie der Mittelstimme.

Der zweite Gedanke (»Danseuses de Delphes«, T. 4 ab der dritten Achtel und T. 5) zeichnet sich durch ein in vielfacher Hinsicht kontrastierendes Material aus. Er ist – wenn man von dem Tonvorrat von F-Dur ausgeht – zur Gänze diatonisch, homophon und fast gradlinig absteigend. Es entsteht der Eindruck, als ob die beiden Eingangsgedanken des Stückes den Nomina des Titels entsprächen: Der erste Gedanke entspräche in dieser Interpretation den »Danseuses«, der zweite würde an jenen mysteriösen Ort erinnern, aus welchem sie stammten.

Es ist schwer, Marguerite Long in ihrer Beobachtung, die Tänzerinnen von Delphi seien »plus prêtresses que danseuses«[23] nicht recht zu geben. Auch Harry Halbreich spricht in diesem Sinne von »le hiératisme de ce morceau«.[24] James Hepokoski, der den Versuch unternimmt, Debussys Satzanfänge zu systematisieren und von seinen »formulaic openings« schreibt, zählt den Anfang von »Danseuses de Delphes« explizit zur Gruppe der »Modal/Chordal Openings«.[25] Diese von Hepokoski so bezeichneten Satzeröffnungen seien nicht nur satztechnisch miteinander verwandt, sondern weisen auch eine Art »topischer« Qualität auf:

After the initial silence, this formula begins, in its simplest form, with a statement of four quiet chords in equal time values – chords with a `mysterious´ modal quality to suggest, according to the designated context, primeval times, ecclesiastical austerity, quasimystical reverie, or uncommon experience in general.[26]

Für Hepokoski ist dieser Satzeröffnungstypus Debussys seltener in der Klaviermusik als in der Orchestermusik, allein sei er in der Sarabande aus Pour le piano und in den Préludes »Danseuses de Delphes« und »Canope« zu finden.[27] Allen drei Stücken wird durch die Betitelung ein Bezug zum Archaischen[28] zugeschrieben.

Was Hepokoski über die Sarabande sagt, kann auch auf »Danseuses de Delphes« bezogen werden. Am Anfang des Stückes wird das Bild eines mystischen Griechenlands einerseits durch die gleichmäßigen diatonischen Akkorde des zweiten Gedankens (»Danseuses de Delphes« T. 4–5) evoziert, die der Chromatik des Anfangs Einhalt gebieten, andererseits durch den viertelweise schreitenden Gang des ersten Gedankens, der vielleicht Christian Goubault dazu brachte, das Stück als eine »Hiératique sarabande« zu bezeichnen.[29] Der Sarabandenton kann dabei – neben dem dominierenden ¾-Takt und dem langsamen Tempo – auch darin gehört werden, dass das bereits erwähnte, punktierte Motiv in den ersten beiden Takten jeweils auf der zweiten Zählzeit beginnt. Diese Zählzeit kann auch deshalb als eine Art Schwerpunkt verstanden werden, weil auf ihr der chromatische Vorhaltston h liegt.

Sowohl die Diatonik des zweiten Gedankens als auch die Referenz auf den alten spanischen Tanz im ersten können als Archaismen aufgefasst werden. Es soll dabei in Bezug auf den zweiten, akkordischen Gedanken betont werden, dass er eben keine »Mixtur« darstellt, sondern dass die Akkorde zum Teil sogar streng in Gegenbewegung miteinander verbunden werden. Es kann in Bezug auf die ersten fünf Takte von »Danseuses de Delphes« – mutatis mutandis – von einem Wechsel zwischen einem hieratischen Tanzton und einem Choralton gesprochen werden. Das Archaisierende dieser Elemente wird dadurch noch deutlicher, dass ihnen die Chromatik der ersten Takte und in den oberen Stimmen eine Mixtur, bestehend jeweils aus einem Durakkord und zwei übermäßigen Akkorden, gegenübersteht (»Danseuses de Delphes«, T. 1–2).

Der zweite Abschnitt von »Danseuses de Delphes« (»Danseuses de Delphes«, T. 11–20) beginnt mit einer Akkordfolge, die Richard Beyer als »sprunglose tonale Dreiklangsparaphonie« bezeichnet hat:[30] In der heute üblichen Fachsprache würde man eher von einer »tonalen Mixtur« sprechen (Bsp. 2). Die zugrunde liegende Tonleiter ist – von der Mixtur aus allein betrachtet und ohne Berücksichtigung des Orgelpunkts – ein (neomodal aufgefasstes) Dorisch mit Finalis c und einem e als Nebenton (T. 12), der wahrscheinlich aus klanglichen Gründen anstelle des es genommen wurde: Sonst wäre in klanglicher Synergie mit dem Orgelpunkt F an der betreffenden Stelle ein kleiner Durseptakkord entstanden, dessen »dominantische« Wirkung es möglicherweise zu vermeiden galt.

Der Abschnitt benutzt die beiden in Takt 1–5 vorgestellten Hauptgedanken des Stückes bei gleichzeitigem Erklingen und mit umgekehrter Konnotation: Sowohl die melodische Linie als auch die Akkordfolge sind wieder zu finden, allein ist diesmal die Linie absteigend und die Akkordfolge aufsteigend. Zudem ist die Linie nicht mehr chromatisch, sondern radikal diatonisch: Sie ist auf die Pentatonik b-c-d-f-g reduzierbar.

Sind solche Merkmale als Elemente einer Antikenkonstruktion zu interpretieren? Es scheint, wie angedeutet, dass sich das kompositorisch verwendete Material auf die musikalischen Gedanken vom Anfang des Stückes bezieht, deren Antikenbezug bereits diskutiert wurde. Die Interpretation der Diatonik, die sich im Pseudochoral des ersten Abschnitts oder in der Pentatonik des zweiten widerspiegelt, vielleicht auch in der Verwendung der ›dorischen‹ Tonleiter, als Element einer Antikeninszenierung, liegt nahe, weil es durch den Titel suggeriert wird: ›Das Antike‹ liegt selbstverständlich nicht im Material allein. Bekanntlich dienen dieselben satztechnischen Elemente in anderen Werken Debussys und seiner Zeitgenossen auch völlig anderen Zwecken.

Die Betonung der Pentatonik wird in Takt 16–17 noch deutlicher, denn dies ist, neben dem Schluss des Stückes, der dynamische Höhepunkt von »Danseuses de Delphes«. Die beiden Hauptgedanken, die für den Satz bis zu diesem Moment konstitutiv waren – der melodische, durch den punktierten Rhythmus geprägte, und der akkordische – vereinigen sich in einer anhemitonischen Pentatonik c-d-e-g-a (der Ton f im Bass fungiert zeitweise als der Orgelpunkt, der nicht aus dem Zusammenspiel der beiden Hauptgedanken des Stückes zu stammen scheint).

Die Verbindung von Pentatonik, bzw. der radikalen Diatonik und der Antike ist hier ein Konstrukt, das in Verbindung mit Debussys Titel funktioniert. Das musikalisch-multimediale Spiel, um auf Nicholas Cooks Terminologie anzuspielen,[31] suggeriert eine solche Interpretation. Zwar wird in dem ersten, Pan gewidmeten Stück aus den Six épigraphes antiques auch eine radikale Pentatonik verwendet.[32] Jedoch ist sie bekanntlich in zahlreichen anderen, nicht auf die Antike bezogenen Werken Debussys ebenfalls zu finden; um bei der Klaviermusik zu bleiben, seien hier als Beispiel »Pagodes«, das erste Stück aus dem Zyklus Estampes von 1903, oder der zweite Teil von »Voiles«, dem zweiten Stück aus Préludes I, genannt, dessen Titel keine archaischen oder exotischen Assoziationen aufzwingt.

Dasselbe lässt sich auch von der oben behandelten, tonalen Mixtur im zweiten Abschnitt des Stückes sagen. Man begegnet solchen Mixturen zwar einerseits auch im »Canope«, einem Stück mit altägyptischen Assoziationen – also potenziell archaisierenden aber auch exotisierenden Elementen,[33] andererseits aber auch in dem auf einer frühmittelalterlichen Legende basierenden Prélude »La cathédrale engloutiée«.[34] Im Bereich der Orchestermusik hat etwa Henri Gonnard auf eine Stelle in Debussys »Danse sacrée« (1904) aufmerksam gemacht (ohne dass die hier benutzte Terminologie verwendet würde), an der eine tonale Mixtur die pentatonische Melodik unterstützt.[35] Sowohl in Bezug auf den zweiten Gedanken aus »Danseuses de Delphes« (T. 4–5) als auch in Bezug auf die von ihm ausgesuchte Stelle aus »Danse sacrée« spricht Gonnard von einer »procession« der parallel geführten Akkorde.[36] Es sei hinzugefügt, dass der Anfang desselben Werks eine radikal diatonische, anhemitonisch-pentatonische Melodik (g-a-c-d-e) aufweist. Als Gegenüberstellung weist das Gegenstück von »Danse sacrée«, eben die »Danse profane«, eine Initial-Chromatik und einen erkennbaren tänzerischen Charakter auf. Theo Hirsbrunner macht darauf aufmerksam, dass Debussy auch in den Chansons de Bilitis und Le Martyre de Saint-Sébastien pentatonische Tonvorräte verwendet.[37] Dieser Einsatz von Pentatonik und/oder tonalen Mixturen oder gar ihre Nebeneinanderstellung bzw. ihr gleichzeitiges Erklingen kann also durchaus auch in anderen Werken Debussys mit religiösem, mystischem und/oder archaisierendem Hintergrund festgestellt werden, ist aber kein automatischer Hinweis auf eine musikalische Konstruktion der klassischen Antike. Jeremy Day-O´Connell spricht im Zusammenhang mit Debussy von »religious«, »primitive«, »pastoral« oder »exotic pentatonic«.[38] Der archaisierende Ton wirkt jedenfalls in »Danseuses de Delphes« wie im »Danse sacrée« in der Regel in der Gegenüberstellung mit einem anders gepolten kompositorischen Ton: Das Archaisierend-Mystische wird neben Zeitgemäß-Profanem als solches besser erkennbar.

In dem abschließenden Teil von »Danseuses de Delphes« taucht eine andere Form von Archaisierung auf. Trotz der Chromatik der »realen Mixtur« in den Takten 21–22 wirkt diese aufgrund der Bewegungsart der Akkordgrundtöne archaisierend. Es handelt sich bei dem Modell um die aus dem Kontrapunkt des 15.–16. Jahrhundert bekannten Gegenschritte, bei denen auf eine steigende Terz eine fallende Quarte folgt.[39] Dieses bekannte Modell verwendete etwa Orlando di Lasso – ein Komponist, den Debussy kannte und ausdrücklich schätzte[40] – beispielsweise in seiner berühmten chromatischen Motette Timor et tremor (Secunda pars, T. 34–36).

Als Claude Debussy ein junger Mann war, erinnerte sich Richard Wagner in einem „der schönsten Klangdenkmäler, die zum unvergänglichen Ruhm der Musik errichtet worden sind“,[41] wie Debussy später Parsifal bezeichnen sollte, dieses Modells in der ersten Szene (Erster Aufzug, T. 14–15). Das Gemeinsame der Gebetsszene der Gralsritter und »Danseuses de Delphes« ist offenkundig das archaisierende und hieratische Moment, wobei in beiden Fällen auf eine Satztechnik der Renaissance angespielt wird, ohne dass ein sonstiger Bezug zur Epoche gegeben ist. Debussys »Danseuses de Delphes« kann daher in sprachwissenschaftlicher Tradition als ein Dokument »enthistorisierten Archaisierens«[42] bezeichnet werden. Theo Hirsbrunner hat in Bezug auf die Chansons de Bilitis Debussys kompositorische Arbeit wohl in diesem Sinne mit Wagners berühmten Bachbezügen in den auf eine frühere Epoche bezogenen Meistersingern verglichen.[43]

Six épigraphes antiques

Die Six épigraphes antiques (1914) basieren auf den Sätzen der Bühnenmusik Chansons de Bilitis auf Texte von Pierre Louÿs, die 1901 aufgeführt wurden.[44] Die Texte waren von Louÿs ursprünglich als seine Übersetzung original antiker Verse der Öffentlichkeit vorgestellt worden.[45] Der Klavierzyklus, der später aus der Szenenmusik entstehen sollte, besteht aus sechs Stücken, die unterschiedliche Antikenbezüge aufweisen:

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Im Folgenden werden hauptsächlich die ersten beiden Stücke besprochen.[46]

»Pour invoquer Pan«

Das erste Stück, »Pour invoquer Pan«, ist eine originalgetreue Bearbeitung des ersten Satzes der Bilitis-Szenenmusik, der der »Chant Pastoral« Louÿsʼ zugrunde lag:

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Das Stück weist den ersten von Hepokoski definierten Satzeröffnungstypus auf und wird von ihm in diesem Zusammenhang auch erwähnt (jedoch nicht analysiert):[47] Es ist ein charakteristisches »Monophonic Opening«. Laut Hepokoski bestehen solche Satzanfänge aus drei »Phasen«: 1) »The silence preceding the opening notes«, 2) »An unacompanied melodic line breaking the silence« und 3) »Either tonal confirmation or non-confirmation of the implied tonic«.[48] Andere Beispiele solcher Satzeröffnungen sind in verschiedenen Werken zu finden, von denen manche Antikenbezüge aufweisen, wie Faune oder – vielleicht – L´Isle joyeuse, manche, wie die erwähnte „Danse sacrée“ zumindest klar einen hieratischen oder mystischen Charakter aufweisen, manche aber nicht, wie etwa das Prélude »La Fille aux cheveux de lin«.

In dem ersten Epigraph, »Pour invoquer Pan« lassen sich die von Hepokoski beschrieben Phasen deutlich feststellen: Auf den einstimmigen Anfang der Oberstimme folgt eine Harmonisierung (ab T. 4), die in T. 6–7 und noch deutlicher in Takt 10 eine neomodale Tonart spüren lässt, von der später die Rede sein wird.

Der zitierte Satzanfang weist nicht nur durch seine Einstimmigkeit eine Ähnlichkeit zu dem auch thematisch verwandten Prélude à l’après-midi d’un faune auf. Die Gemeinsamkeit liegt auch in der Genealogie des Materials: Die einstimmige Linie, mit der das Stück beginnt, wurde in der Bilitis-Szenenenmusik, die die Vorlage für die Klavierepigraphe war, nicht unerwartet – und wie im Faune – der Flöte anvertraut.[49] Auch der arabeskenartige, quasi-ziellose Gang der Melodie auf und ab ist den beiden Anfängen gemeinsam, allein ist der Faune-Anfang des jungen Debussy bekanntlich von extremer Chromatik geprägt, was den denkbaren Kontrast zur konsequenten Diatonik der Pan-Invokation aus den Épigraphes darstellt. Es sei in diesem Zusammenhang an Debussys Lob der »Arabeske« erinnert (was auch Hirsbrunner in diesem Kontext tut[50]), denn dieses scheint für das Stück von Relevanz:

Die frühen Meister, Palestrina, Vittoria, Orlando di Lasso usw. bedienten sich dieser göttlichen »Arabeske«. Sie fanden ihre Urgestalt im Gregorianischen Choral und stützen ihr zerbrechliches Geflecht durch widerstandsfähige Kontrapunkte. Bach nahm die Arabeske wieder auf und machte sie biegsamer, flüssiger. Die Schönheit konnte sich trotz der strengen Ordnung, in die der große Meister sie stellte, mit dieser freien, unaufhörlich zu neuen Gestalten drängenden Phantasie bewegen, die uns noch heute in Erstaunen setzt.[51]

Die »Arabeske« ist also für Debussy unweigerlich mit der älteren Musik – vom Cantus romanus bis Bach – verbunden. Wohlgemerkt wird von Debussy der Gedanke nicht explizit ausgesprochen, dass das »Arabeskenhafte« automatisch das Archaische bedeuten soll. Dies muss kontextbedingt immer neu beobachtet und reflektiert werden.

In Bezug auf die anschließenden Parallelführungen in der Begleitstimme – in der Szenenmusik auf der Harfe gespielt (der Celestapart wurde nicht überliefert: Womöglich hat Debussy improvisiert[52]) war Hirsbrunner, der wiederholt über die Six épigraphes antiques schrieb,[53] der Meinung, es wäre »nutzlos und pedantisch […], wollte man nach Vorbildern zu dieser Technik in der Vergangenheit suchen«.[54] In der Tat ist die Technik zu allgemein und zu sehr in verschiedenen Werken Debussys präsent, um sie als gezielten Archaismus aufzufassen. Die erste Schlusswendung des Stückes kann man dennoch durchaus in diesem Lichte sehen. In Takt 6–7 von »Pour invoquer Pan« weist die schließende Gegenbewegung der Akkorde d-Moll – C-Dur einen archaisierenden Charakter auf, indem sie an den für die Renaissance charakteristischen Schluss 3–5 erinnert: Die durch konsequente Gegenbewegung geprägte, berühmte Klangprogression am Anfang von Palestrinas berühmtem Stabat Mater, das einst Richard Wagner bearbeitet hatte, drängt sich fast als Idealbild solcher Sätze auf.[55] Diese Art von Schlussbildung (II–I) hat auch Franz Liszt am Anfang seines archaisierenden Stücks »Chapelle de Guillaume Tell« aus dem ersten Buch seiner Années de pèlerinage verwendet.

Die melodische Linie des Satzanfangs ist konsequent pentatonisch (g-a-c-d-f bzw. f-g-a-c-d). Erst in Takt 10 wird in der Melodie die Pentatonik durchbrochen, indem ein b eingeführt wird. Als Merkmal eines archaisierenden Stils können auch die streng tonalen Mixturen angesehen werden, die am Anfang und am Ende des Stückes festzustellen sind (T. 8 f. sowie T. 31–33).

Es sei noch etwas zur Tonart des Stückes gesagt: Ihre genaue Identität ist nicht sofort zu spüren, was eine Parallele zu der in »Danseuses de Delphes« verwendeten Technik darstellt. In der einstimmigen, pentatonischen Melodielinie des Anfangs dominiert der Ton g als Eckton, wobei die Harmonisierung der nachfolgenden Takte einen durartigen Modus mit Finalis c erwarten lässt, ist doch der erste mehrstimmige Klang in Takt 4 ein C-Dur-Akkord in Grundstellung und führt die erste Schlusswendung, durch die Dynamik und Notenlänge als solche erkennbar, ebenfalls zu einem C-Dur-Akkord (T. 7). Im Laufe des Stückes und an dessen Ende erweist sich aber wieder das g als Finalis, und die Gesamttonart, sofern davon überhaupt mit dieser Eindeutigkeit gesprochen werden kann, als ein neomodales g-Dorisch.

Eine ähnliche Technik war auch an einer der Stellen in »Danseuses de Delphes« zu finden, über die bereits referiert wurde (T. 11–12): In der der Oberstimme anvertrauten melodischen Linie ist die Pentatonik zu vernehmen; die mittlere Ebene des Satzes weist eine hauptsächlich tonale Mixtur in c-Dorisch (einmal mit Nebenton e) auf; das Ganze spielt sich auf dem Orgelpunkt des Tons F ab, so dass das tonale Geschehen auch als f-Mixolydisch gehört werden kann. Die Unsicherheit bei der Bestimmung der Tonart entsteht in »Danseuses de Delphes« durch simultan erklingende Ebenen, jene in »Pour invoquer Pan« dagegen durch konsekutiv auftretende Wendungen.

»Pour un tombeau sans nom«

In der Szenenmusik für Chansons de Bilitis gehört der Anfang des zweiten Epigraphs zum Gedicht »Le tombeau sans nom«, das Ende stammt aber aus der Musik zum Gedicht »Les courtisanes Égyptiennes«.[56] Dieser lyrische Hintergrund hat, wie sich zeigen wird, in der Tat Auswirkungen auf den Ton des Stückes.

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Das zweite der sechs Epigraphe, »Pour un tombeau sans nom« gehört demselben Satzeröffnungstypus wie »Pour invoquer Pan« an. Auch hier liegt, in der Terminologie Hepokoskis, ein »monophonic opening« vor,[57] mit einer mehrstimmigen Fortführung, die den Tonvorrat bestätigt (ab T. 2). Während aber in dem ersten, Pan gewidmeten und von Debussy explizit »dans le style d´une pastorale« bezeichneten Stück die Pentatonik dominierte und die Diatonik an keiner einzigen Stelle durch Akzidenzien durchbrochen wurde, ist die Ganztonleiter der Tonvorrat der Satzeröffnung im zweiten Epigraph.

In der Tat scheint die Parallele des Anfangs den kontrastierenden Charakter der ersten beiden Epigraphe zu unterstreichen, denn in dem zweiten Stück werden einige Elemente, die man aus Debussys Tonsatz gut kennt, verwendet, die er in dem ersten ausgespart hat. Der Kontrast der Initialpentatonik mit der Ganztonleiter ist nur einer der Gegensätze. Während der Satz in »Pour invoquer Pan« auch nach dem pentatonischen Abschnitt diatonisch bleibt, ist nach der initialen Ganztonleiter in »Pour un tombeau sans nom« die Chromatik spürbar. Diese spürbare Präsenz von Chromatik spiegelt sich auch in den Kontrasten der Mixturen wider: Waren in dem ersten, rein diatonischen Stück offenbar nur tonale Mixturen möglich, dominieren im zweiten die realen. So findet in den Takten 16–17 die Parallelführung von Quintsextakkorden des kleinen Durseptakkords statt, die sich in Halbtonschritten bewegen. Ein größerer Gegensatz zu den tonalen Mixturen aus der diatonischen Pan-Invokation ist kaum denkbar.[58]

Die Chromatik wird auch am Ende des Stückes betont (T. 28–32). Dabei weist die Melodik hier einen ›quasiarabisierend-improvisierenden‹ Ton auf, der z. B. aus Debussys Prélude »Canope« bekannt ist (z.B. in »Canope« T. 7–10) – auch dieses laut Titel mit einem Antikenbezug versehen, der mit dem Totenkult der Altägypter zu tun hat. In der Tat stammt der Schlussteil des Stückes, wie bereits ausgeführt, aus der musikalischen Begleitung des Gedichtes »Les courtisanes Égyptiennes«, so dass der Bezug doppelt gegeben ist. Beiden Linien – jener aus »Canope« und jener aus dem zweiten der Epigraphe – sind neben der Chromatik auch der schrittweise Duktus, die Tonwiederholungen und die Vorschlagstöne sowie der komplexe, rezitativische Rhythmus gemeinsam. Etwas von diesem Duktus ist auch in dem ersten Abschnitt des Stücks »Pour l'égyptienne«, dem 5. Epigraph der Sammlung, zu hören (insbesondere T. 6–17). Offensichtlich handelt sich bei diesen Stellen um orientalisierende Satztechniken, die an arabisches Musizieren erinnern sollen, so wie man es auch aus Debussys zweiter der Estampes kennt: »La soirée dans Grenade«. Dass hier ›Altägyptisches‹ und ›Arabisierendes‹ über einen Kamm geschoren wird, soll nicht verwundern: Genau das entspricht dem Verfahren des Komponisten. Bekanntlich ist keine erklungene oder niedergeschriebene Musik des alten Ägyptens überliefert: Wenn man eine Konstruktion des ›Altägyptischen‹ vornehmen will (oder wollte), ist der Griff zur imaginierten oder wirklichen Musik des arabischen Raumes eine nachvollziehbare Lösung. Solche Lösungen führen natürlich zur Festigung des kolonialistischen und orientalistischen Weltbilds, wonach der Orient, im Unterschied zum Okzident, immer statisch und unentwickelt bleibt: Analysen wie die vorliegende können deshalb Reflexionen über die Musik mit dem Bereich der Diskursanalyse verbinden.[59]

Die Nähe der Antike und des Orients hatte Tradition im französischen Orientalismus: Hirsbrunner erinnert an die Verehrung – wir würden heute sagen: die orientalistisch-kolonialistische Konstruktion – einer »einheitlich mittelmeerische[n] Welt von Andalusien bis in die Levante«, die für die französische Romantik charakteristisch war.[60] Er erinnert an Gérard de Nerval, der bei der Ankunft auf Kythera den Eindruck hatte, im Orient angekommen zu sein, während er das Zeremoniell der Kairoer Hochszeitsfeierlichkeiten mit römischen Triumphzügen verglich.[61] Es liegt nahe, dass auch die Ähnlichkeiten zwischen dem zweiten Stück aus den Épigraphes und »Canope« oder gar »La soirée dans Grenade« aus den Estampes vor diesem Hintergrund einer orientalisierenden Antikenrezeption zu verstehen sind.

* * *

Die Antikenbilder, die Debussy in den ersten zwei der Six épigraphes antiques entwirft, finden eine Parallele in »Danseuses de Delphes«: hier naturgemäß auf knapperem Raum. Das eine Bild wird durch Diatonik, Pentatonik und tonale Mixturen erreicht, das andere durch Ganztonleiter, Chromatismen, orientalisierende Melodiebildung und reale Mixturen. Diese beiden Bilder oder ›Töne‹ wechseln sich, wie dargestellt, in »Danseuses de Delphes« ab, werden miteinander vermengt, bzw. Metamorphosen unterzogen. In den Epigraphen bleibt dieser Verflechtungsmoment aus, sie sind bildhafter, eben ›epigraphischer‹, wohl auch ihrer ursprünglichen Verwendung als begleitende und unterstreichende Szenenmusik angepasst. Der konsequente Dualismus der beiden ›Töne‹ mit denen Debussy seine Antike konstruiert, ist bemerkenswert. Dabei ist sein Bezug zur Ideenwelt zumindest in den Epigraphen durch das Medium der Sprache erklärt worden: Während das erste Stück eine Pastorale darstellt, sich explizit auf Pan als Gottheit des Sommerwinds bezieht, weist das zweite einen Bezug zur Totenwelt auf: Die Parallele zum Prélude »Canope« ist also nicht nur auf der Materialebene, sondern auch auf der ideellen Ebene zu spüren.

Die Nähe des Orientalismus (hier wird der Begriff durchaus im Sinne der Postkolonialen Theorie verwendet) und der Antikenrezeption ist auch in Debussys eigenen Texten zu finden. In dem Text »Über den Geschmack«[62] lobt er die Musik der »liebenswerte[n] kleine[n] Völker«, deren Konservatorium aber nicht »tyrannische Lehrbücher‹ seien, sondern »der ewige Rhythmus des Meeres, […] der Wind in den Bäumen, […] tausend kleine Geräusche, die sie aufmerksam in sich aufnehmen«. Konkret schreibt Debussy im weiteren Verlauf des Textes über die javanische Musik, die einem Kontrapunkt gehorche, »gegen den derjenige Palestrinas ein reines Kinderspiel ist.«[63] Wenig weiter, über die mythischen Ursprünge der Musik schreibend, erwähnt Debussy explizit auch Pan: Als dieser

die sieben Rohrpfeifen der Syrinx zusammenband, ahmte er zunächst nur den langen melancholischen Ton nach, den die Kröte klagend zum Mondlicht schickt. Später trat er in Wettstreit mit dem Gesang der Vögel. Wahrscheinlich haben die Vögel seit jener Zeit ihr Repertoire erweitert.[64]

Der Musikschriftsteller Debussy denkt über die antiken Ursprungsmythen der Musik nach, beschäftigt sich aber im gleichen Text auf der Ebene des musikalischen Materials mit Gamelan: Der zeitlich entfernten griechischen Antike und dem räumlich entfernten Java schreibt er eine Naturnähe zu, so wie das etwa die britischen Musikschriftsteller mit Indien taten: ein nicht unübliches Motiv des Kolonialzeitalters.[65] Vergleichbares Verweben von Orientbildern und Antike-Vorstellungen findet, wie gezeigt, auch in Debussys Musik statt. In den Stücken mit explizit antikem Bezug werden Skalen verwendet, die Debussy mit der Musik des Fernen Ostens assoziieren konnte, aber auch solche melodisch-rhythmischen Wendungen, mit denen er in seiner Vorstellung durch die arabische Musik hätte konfrontiert werden können.

Die Exotismen sind, wie gezeigt, nicht die einzigen Elemente der musikalischen Bilder des klassischen Hellenentums in Debussys Klaviermusik. Auch Wendungen, die als »westliche Archaismen« verstanden werden können, Wendungen, die an die Musik des Mittelalters oder der Renaissance – und deren Rezeption durch die bedeutendsten Komponisten des 19. Jh., etwa Richard Wagner und Franz Liszt – erinnern, sind genauso konstitutiv. So tragen Lasso, javanische und arabische Musik zu Debussys Antikenbildern bei. Die Konstruktion des Anderen als solches ist zentral, nicht unbedingt seine tatsächliche Beschaffenheit.

Dabei ist es erwähnenswert, dass die genannten Elemente in der Musik Debussys zumindest zum Teil unterschiedlich konnotiert sind. Dem orientalistischen, ›düsteren‹ Arabienklangbild, das wir aus »La soirée [!] dans Grenade« kennen, begegnen wir in »Canope« und »Pour un tombeau sans nom« – beide mit klarem Todesbezug und Verbindungen nach Altägypten. Dagegen spielt die anhemitonische Pentatonik, diese radikale Form der Diatonik, in dem denkbar ›hell‹ konnotierten ersten Epigraph, der Invokation Pans als Gottheit des Sommerwindes, eine zentrale Rolle.

Wie eingangs bereits in Anlehnung an den Forschungsbeitrag von Schneider-Seidel betont, spielte das Ideal der »Einfachheit und Naturverbundenheit« in der französischen Musik jener Zeit eine zentrale Rolle:[66] Diese Beobachtung kann auch anhand von Debussys Stücken mit hellenischem Bezug bestätigt werden. In seinem Text »Gespräch mit Monsieur Croche« aus La Revue Blanche vom 1. Juli 1901[67] schreibt Debussy durch die Worte seines M. Croche:

Mir sind die paar Noten lieber, die ein ägyptischer Hirte auf seiner Flöte bläst – er ist eins mit der Landschaft und hört Harmonien, von denen sich eure Schulweisheit nichts träumen lässt… Die Musiker hören nur die Musik, die von geschulten Händen geschrieben wurde, die der Natur eingeschriebene hören sie nie. Den Sonnenaufgang betrachten, ist viel nützlicher als die Pastoralsymphonie hören.[68]

In diesen Worten, die ein Echo in seinem etwa 11 Jahre später entstandenen, oben bereits zitierten Text »Über den Geschmack« finden, ist die emphatische Konstruktion der Naturnähe in Verbindung mit einem charakteristischen, archaistischen Orientalismus-Bild des ägyptischen Flötenspielers zu finden: Debussys in ihrer Genealogie wohl letztlich auf das Denken Rousseaus zurückführbare Zivilisationskritik. Es ist eine eigentümliche Dialektik, dass Debussys Musik mit Antikenbezug – wovon Manches auch einen direkten Naturbezug aufweist, etwa das erste der Epigraphe – von höchster Artifizialität eines Künstlers des Art-nouveau-Zeitalters zeugt, eines Komponisten, der sein Metier so gut verstand, dass er Elemente unterschiedlichster Provenienz, von der anhemitonischen Pentatonik und den pseudoantiken Modi über die Satzmodelle der Renaissance bis hin zu ›arabisierenden‹ Melodielinien, auf einem europäischen (Salon-)Instrument des 19. Jh. zu stilisieren und zu einem Ganzen zu fusionieren wusste.

Ein abschließendes persönliches Wort sei hier gestattet: Vielleicht hat uns Debussy selbst den Schlüssel zum Verstehen dieses Prozesses gegeben, indem er schrieb, man solle nicht versuchen, die Musik von ihrem Ursprung zu lösen und ihr Geheimnis zu erklären. Er fügte hinzu: »Schmücken wir es durch feine Wahrung des ›Geschmacks‹. Er sei der Hüter des Geheimnisses[69]

Anmerkungen

1

Vgl. Türr 1979, passim.

2

Vgl. ebd., insbesondere 11–17.

3

Ebd., 87 sowie 201, Anm. 145.

4

So etwa in Thorau/Köhler 2000, Teil II (145–254).

5

Dies wurde im Kontext der Musikforschung bereits in Schneider-Seidel 2002, 36 hervorgehoben.

6

Auch diese bespricht Schneider-Seidel im Zusammenhang mit ihren Untersuchungen der französischen Musik um 1900 (2002, 43–45).

7

Ebd., 48.

8

Ebd., 11.

9

Ebd.

10

Ebd., 11, 296.

11

Ebd., 11.

12

Ebd.

13

Angaben in diesem Absatz im Einklang mit dem Werkkatalog von Lesure (1977); in knapperer Form vgl. Werkverzeichnis in Hirsbrunner 1981, 235−240.

14

Zur Methodik vgl. die Untersuchungen des Verfassers zu musikalischen Exotismus-Bildern (in denen das Archaische auch eine wichtige Rolle spielt) in Popović 2017.

15

Vallas 1961, 274.

16

Vgl. Dietschy 1990, 133 f. Vgl. auch Klein 2007, 33, der in seiner Analyse die beiden Artefakte dennoch in Verbindung bringt (ebd., 32–37).

17

Liebich 1918, 250.

18

Lockspeiser/Halbreich 1980; 582, Nectoux 2008.

19

Nectoux 2008. Zu nachfolgenden Informationen im Haupttext vgl. auch ebd.

20

Croissant/Marcadé 1991, 86.

21

Nectoux 2008, 138 f.

22

Die vorliegende Analyse von »Danseuses de Delphes« stützt sich zum Teil auf eine Vorarbeit des Verfassers (Popović 2014). Sie ist aber mit ihr nicht identisch, obwohl die gleichen Ausschnitte und Musikbeispiele in beiden Texten behandelt werden. In Popović 2014 sind auch die früheren Forschungsbeiträge zu »Danseuses de Delphes« aufgeführt worden (Popović 2014, 69 f., Anm. 5 und passim). Eine im Hinblick auf die interpretationsanalytischen Aspekte überarbeitete Version von Popović 2014 ist in Vorbereitung.

23

Long 1960, 103.

24

Zitiert in Lockspeiser/Halbreich 1980, 581.

25

Hepokoski 1984, 48.

26

Ebd.

27

Ebd.

28

Zum Begriff des musikalischen Archaisierens vgl. in neuerer Zeit etwa Krämer 2013. Siehe auch die methodisch relevanten Studien Jeßulat 2013 und Ott 2018.

29

Goubault 1986, 193.

30

Beyer 1992, 285.

31

Gemeint ist Cook 1998.

32

Vgl. hierzu weiter unten.

33

Eine ausführliche Besprechung von Canope ist in Roberts 1996, 161–167 zu finden.

34

Von den Besprechungen dieses Prélude sei hier auf jene von Bruhn 1997, 41–44. hingewiesen.

35

Gonnard 2000, 245.

36

Ebd., 233, 245.

37

Hirsbrunner 1981, 121.

38

Day-O´Connell 2007, 158 f. und passim.

39

Zu Gegenschritten vgl. z. B. Froebe 2007.

40

Vgl. etwa Debussy/Lesure 1974, 32; Debussy äußerte in einem Brief aus Rom Pierre Vasnier gegenüber, dass er bei Lasso »mehr Zierde und Menschlichkeit« als bei Palestrina finde, wiewohl er beide Meister sehr schätze (Vallas 1961, 69). Vgl. auch Nichols 2000, 36, 40.

41

Debussy 1974, 126.

42

Ein Terminus der Sprachwissenschaftlerin und Archaismus-Forscherin Ingrid Leitner (1978).

43

Hirsbrunner 1981, 118.

44

Ebd.

45

Darüber wurde in der Debussy-Forschung mehrmals ausführlich berichtet. Vgl. insbesondere Hirsbrunner 1978 sowie Hirsbrunner 1981, 116–118.

46

Alle Übersetzungen nach Alvah C. Bessie in Louÿs 1926.

47

Hepokoski 1984, 45.

48

Ebd. Pedantisch könnte man natürlich über die »Phase 1« sagen, dass es keine Komposition ohne sie gebe.

49

Für Informationen zu dieser Fassung vgl. Hirsbrunner 1978, 432, 435.

50

Hirsbrunner 1978, 435.

51

Debussy 1974, 32.

52

Hirsbrunner 1978, 432.

53

Vgl. Hirsbrunner 1978 und 1981.

54

Hirsbrunner 1978, 436.

55

Zum berühmten Anfang von Palestrinas Stabat mater vgl. Pike 1986.

56

Vgl. Hirsbrunner 1978, 433.

57

Vgl. Zitat oben.

58

Vgl. auch die Mixtur in T. 26 f.

59

Vgl. hierzu Popović 2017.

60

Hirsbrunner 1978, 437; Hirsbrunner 1981, 111–115.

61

Hirsbrunner 1978, 437; zu weiteren Belegstellen vgl. ebd. Siehe ebenfalls Hirsbrunner 1981, 112.

62

Abgedruckt in Debussy 1974, 199–202.

63

Alle Zitate aus Debussy 1974, 200.

64

Debussy 1974, 201.

65

Siehe hierzu Popović 2017, passim.

66

Schneider-Seidel 2002, 11.

67

Abgedruckt in Debussy 1974, 46–50.

68

Debussy 1974, 49.

69

Aus »Über den Geschmack«, in Debussy 1974, 199–202, hier: 201.

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