Wörner, Felix (2021), »Zu einigen Paradigmen musiktheoretischen Denkens der 1920er Jahre« [On some paradigms of music-theoretical thinking of the 1920s], Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 18/2, 13–33. https://doi.org/10.31751/1140
eingereicht / submitted: 23/08/2021
angenommen / accepted: 16/10/2021
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 30/12/2021
zuletzt geändert / last updated: 24/07/2022

Zu einigen Paradigmen musiktheoretischen Denkens der 1920er Jahre

Felix Wörner

Der zunehmend ideologisch aufgeladene musiktheoretische Diskurs der 1920er Jahre zeichnet sich durch Vielstimmigkeit und kontrastierende Positionen aus. Einflussreiche Auffassungen entstehen einerseits in Wechselwirkung mit aktuellen kompositorischen Tendenzen; andererseits lässt sich das Bestreben erkennen, konventionelle musiktheoretische Kategorien inhaltlich neu zu bestimmen. Wie der Beitrag zeigt, betrifft dies sowohl Parameter wie Harmonie, Melodie und Analyse als auch Grundkategorien wie den musikalischen ›Raum‹. In diesem Zusammenhang wird der Kategorie des (musikalischen) Hörens eine herausgehobene Stellung zugewiesen.

The increasingly ideologically charged music theoretical discourse of the 1920s is characterized by polyphony and contrasting positions. On the one hand, influential views emerge in interaction with current compositional tendencies; on the other hand, the effort to redefine conventional music-theoretical categories in terms of content can be discerned. As the article shows, this concerns parameters such as harmony, melody, and analysis as well as basic categories such as musical 'space'. In this context, theorists assign a prominent position to the category of (musical) listening.

Schlagworte/Keywords: epistemology of music theory; Ernst Kurth; Geschichte der Musiktheorie; history of music theory; Hören; listening; Melodielehre; musical space; musikalischer Raum; Wissenschaftstheorie der Musiktheorie

Tonal oder atonal, die Frage, ob das eine oder das andre berechtigt, zulässig, möglich oder unentbehrlich sei, hat derzeit bereits eine handlichere Form angenommen: sie ist eine Gesinnungsfrage geworden.[1]

Mit dieser bekannten Stellungnahme beklagte Arnold Schönberg Mitte der 1920er Jahre, dass die zeitgenössische Auseinandersetzung um den kompositorischen Gebrauch und die angemessene Auffassung von Konsonanz und Dissonanz und tonalem bzw. atonalem Komponieren weniger durch sachliche Argumente als vielmehr durch ideologische Positionen geprägt werde; es handele sich um eine »Parteisache«. Die häufig polemisch zugespitzte Gegenüberstellung von Antagonismen, der sich Schönberg bereits im Titel seines Essays – »Gesinnung oder Erkenntnis?« – bedient, gehört – wie beispielsweise ein Blick nach Frankreich zeigt – nicht nur im deutschsprachigen Kulturraum der Zwischenkriegszeit fraglos zu einem bevorzugten rhetorischen Darstellungsmittel. Antithetische Perspektivierungen dringen aber zudem in fachliche Diskurse ein; so werden musikgeschichtliche Gliederungsversuche (Romantik – Moderne; Impressionismus – Expressionismus; Tonalität – Atonalität; national – international) und Beschreibungen musikalischer Phänomene und musikalischer Werke (Beseelung – Technik; Trieb – Gesetz; Erregung – Kraft; Vitalität – Konstruktion; Fläche – Raum; Farbe – Linie etc.) häufig mittels oppositioneller Begriffspaare vorgenommen.[2] Viele dieser Ausdrücke werden dabei modisch-inflationär gebraucht, bleiben in ihrem Begriffsumfang und ihrer inhaltlichen Bestimmung häufig vage und erfahren im täglichen Gebrauch und bis in die Fachpresse hinein zunehmend eine ideologische und politische Aufladung. Dieses typische Zeitphänomen beruht auf einer Vielzahl von Faktoren. Einflussreich sind unter anderem Prozesse des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs in der Weimarer Republik, durch die die hergebrachten ästhetischen Werte und das konventionelle, von höheren Gesellschaftsschichten getragene Kunstverständnis in Frage gestellt werden. Auf diese dynamische, vielschichtige und unübersichtliche Situation reagiert die Musiktheorie zunächst zögerlich. Erstens wird versucht, aktuelle kompositorische Entwicklungen musiktheoretisch zu beschreiben, zweitens zeichnen sich Bemühungen ab, konventionelle Grundkategorien neu zu fassen, statt an ihnen festzuhalten oder sich ganz von ihnen zu verabschieden. In diesem Zusammenhang gewinnt die Frage der Wahrnehmung von Musik und des musikalischen Hörens signifikant an Bedeutung.[3] Um angesichts der Fülle des Materials und der divergierenden Positionen gleichwohl Orientierungen zu bieten, werden im Folgenden diese beiden Aspekte anhand exemplarisch ausgewählter Texte und Themen kursorisch besprochen und ihre Signifikanz für die 1920er Jahre herausgearbeitet.

I. Musiktheorie und zeitgenössische kompositorische Praxis

Wie der Musikwissenschaftler Hans Mersmann bemerkte, stellt sich die kompositionsgeschichtliche Situation im frühen 20. Jahrhundert im historischen Vergleich ungewöhnlich volatil und zugleich vielschichtig dar, sodass prägende Begriffe wie »atonal«, »linear« oder »expressionistisch«, die erst wenige Jahre zuvor als charakteristisch für die Zeit in den Diskurs eingeführt wurden, bereits 1924 inhaltlich unscharf oder gar obsolet erscheinen.[4] Neben der Tonhöhenorganisation tritt die Frage nach Gestaltung von Melodie, Rhythmus und Klang – Letzteres auch gefördert durch neue Möglichkeiten der mechanischen und elektro-akustischen Klangerzeugung (Welte-Mignon-Piano, Theremin [ab 1920], Ondes Martenot [ab 1928], Trautonium [ab 1930]) – sowie deren Stellung im Tonsatz in den Mittelpunkt der Diskussion. Als Beispiele für die Erweiterung musiktheoretischer Inhalte sollen hier die Aspekte ›Harmonie‹, ›Melodie‹ und ›Analyse‹, deren Auffassung einige charakteristische Merkmale musiktheoretischen Denkens der 1920er Jahre erkennen lassen, dienen.

Harmonie

Mit Blick auf den Stand der Musiktheorie in den 1920er Jahren konstatierte Hermann Erpf kurz vor Ende des Jahrzehnts, dass sich drei wesentliche Absichten musiktheoretischer Tätigkeit unterscheiden ließen. Erstens versuche die »spekulative Theorie der Musik«, ausgehend von klar definierten Grundlagen, ein widerspruchsfreies, kohärentes System zu entwickeln, das aber kaum Verbindungen zur »klingenden Musik« aufweise.[5] Zweitens sehe die pädagogische Musiktheorie ihre Aufgabe darin, »einen bestimmten historischen Stil zu lehren«,[6] d. h. ausgehend von der Analyse wesentlicher stilistischer Merkmale einer Epoche diese mit dem Ziel eines vertieften Verständnisses kompositorischer Praxis zu vermitteln.[7] Diese pädagogisch orientierte Musiktheorie sei jedoch drittens zu ergänzen durch eine historisch-deskriptive Musiktheorie, die Voraussetzung einer Beschreibung und Definition wesentlicher Merkmale eines bestimmten historischen Stils sei.[8] Methodisch gehe die historisch-deskriptive Musiktheorie vom Musik-Erleben aus, womit Erpf mutmaßlich die performative Ebene und / oder hörende Vergegenwärtigung von Musik begreift. Auszugehen sei davon, dass, sofern Individuen unter vergleichbaren Bedingungen (beispielsweise innerhalb einer zeitlichen Periode, vergleichbarer sozialer Bedingungen etc.) Musik hörten, diese eine vergleichbare Auffassung von Musik formen würden.[9] Vergleichende Analysen einzelner Parameter (Harmonik, Melodik, Rhythmus etc.) ließen die Grundtatsachen eines musikalischen Stils, d. h. dessen charakteristische Merkmale, erkennen, indem sie die Phänomene selbst (beispielsweise die Akkordstruktur), aber auch deren Funktionen in den jeweiligen stilistischen Kontexten beschrieben. Dabei gehe die deskriptive Musiktheorie so weit wie möglich von Phänomenen selbst aus und lasse sich nicht durch bereitgestellte musiktheoretische Begriffe und Konzepte leiten. Dieser Punkt gewinnt für Erpfs Vorgehensweise insofern besondere Bedeutung, als die kompositionsgeschichtliche Entwicklung des frühen 20. Jahrhunderts auch neue Klangstrukturen erprobt und realisiert (Erpf 1927 konzentriert sich auf die Harmonie- und Klangtechnik), die mit der auf dem Terzaufbau der Akkorde basierenden tonalen Harmonielehre nicht oder nur partiell erfasst werden könnten.[10] Während Schönberg in seiner Harmonielehre in den Schlusskapiteln einige dieser neuen Klangstrukturen (Quartenakkorde, sechs- und mehrtönige Klänge) zumindest in Ansätzen beschreibt und deren Wirkung zu charakterisieren sucht, bleibe, so Erpf, die akademische Musiktheorie überwiegend einem antiquierten Denken verhaftet und scheitere daher in ihren Annäherungen an zeitgenössische Kompositionen bereits an unzureichenden Begriffen. Im Übrigen zeigten ihre Vertreter kaum Interesse, neuere Vorstöße, wie sie Hugo Riemann oder Ernst Kurth gegeben hätten, aufzunehmen und kritisch weiterzuentwickeln.[11] Erpf selbst orientiert sich in seiner Darstellung grob an der historischen Entfaltung der tonalen Harmonik, indem er von der »Dreiklangsharmonik« ausgehend »Funktionelle Mehrklangsbildung« und »Funktionslose Zusammenhänge« bespricht, dann »zur Morphologie der Mehrklänge« übergeht und abschließend auf Modulation sowie Typen der Tonartenbehandlung eingeht, um zuletzt in einem ausführlichen Anhang seine theoretischen Überlegungen auch analytisch abzustützen.[12] Als historisches Dokument der 1920er Jahre ermöglicht die Publikation Einblicke in einen frühen Versuch, repräsentative kompositionstechnische Innovationen des europäischen 20. Jahrhunderts zu beschreiben, zu systematisieren und in Bezug zur klassisch-romantischen Tradition zu setzen.

Einen zu Erpfs Studie kontrastierenden Zugriff auf das sich erweiternde Akkordrepertoire bietet Bruno Weigls Harmonielehre (Weigl 1925). Weigl erhebt den Anspruch, sein Buch lehre »jene Harmonik und Satztechnik […], die unserer Gegenwartsmusik zugrunde liegt«;[13] zudem werde die »gesamte, auf Grund der diatonischen, der ganztonigen und der chromatischen Tonreihe mögliche Harmonik restlos erschöpft«; im Übrigen sei die Darstellung der Harmonik der chromatischen Tonreihe »ganz neu«.[14] Weigl beginnt seine Darstellung mit der »Harmonik der diatonischen Tonreihe«, die er – zunächst anknüpfend an die Harmonielehre-Tradition – ausgehend von einer Dreiklangslehre über eine Vierklangslehre bis zur Fünf- und Mehrklangslehre erweitert. Mehr noch als die zahlreichen Beispiele von Fortschreitungen und Modulationen, die in einem gesonderten Teil auch alterierte Akkorde einschließen, zeigt sich der umfassende Anspruch Weigls bei der Behandlung der Siebenklänge. Rechnerisch ergeben sich aus dem Siebenklang g-h-d-f-a-c-e 7! (d. h. 5040) verschiedene Aufzeichnungsmöglichkeiten, die Weigl tatsächlich vollständig als Liste in Buchstabennotation wiedergibt.[15] Den Fortschreitungsmöglichkeiten und der ästhetischen Wirkung des Siebenklanges sind anschließend nur noch drei weitere Seiten gewidmet. Eine ähnliche Darstellungsweise wählt Weigl auch bei der Diskussion der Akkordik der Ganztonreihe und der Akkordik der chromatischen Tonreihe.[16] Der Autor bietet so zwar eine umfassende Akkord- und Fortschreitungslehre, geht aber nicht auf Referenzwerke ein. (Auch der beigegebene Band mit Musterbeispielen präsentiert vorwiegend vierstimmig komponierte Klaviersätze.) Im Gegensatz zu Erpfs historisch-deskriptivem Zugang verfolgt Weigl somit einen systematisch-rationalen Zugriff, der primär die möglichst umfassende Präsentation des potentiellen Akkordrepertoires unabhängig von seinem konkreten Gebrauch anstrebt.

Neben diesen Versuchen, aus musiktheoretischer Perspektive zentrale Aspekte der jüngeren Entwicklung der Harmonik systematisch zu beschreiben, sind auch zahlreiche kürzere Beiträge nicht zuletzt von Komponisten selbst zu verzeichnen, die die aktuellen Tendenzen der Kompositionsgeschichte kommentieren und einordnen (vgl. beispielsweise Bartók 1920; Eimert 1923) oder eigene kompositorische Verfahrensweisen erläutern und in den Diskurs einzuführen suchen (z. B. Joseph Matthias Hauers Tropenlehre [Hauer 1925 und 1926] oder Alois Hábas Vierteltonmusik [Hába 1927]). Grundzüge des Schönberg’schen Verfahrens der Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen werden zunächst, vermutlich Anfang 1922, mündlich im Freundeskreis Schönbergs, später auch in der Öffentlichkeit vorgestellt (z. B. Stein 1924).[17] Daneben existieren zahlreiche Versuche, experimentelle neue Ausdrucksmöglichkeiten, innovative ästhetische Vorstellungen und kompositorische Zugänge zu erproben, ohne dass diese von einer dokumentierten ambitionierten theoretischen Reflexion begleitet würden.

Melodie

Während über innovative Formen von Klängen und Klangfolgen in der zeitgenössischen Musik intensiv diskutiert wurde, wurde jedoch von anderer Seite der Primat der Harmonie in den aktuellen Tendenzen der Komposition grundsätzlich in Frage gestellt. Hans Heinz Stuckenschmidt plädierte bereits 1920 in der neu gegründeten Zeitschrift Melos dafür, die musikalische Logik der neuen Musik auf Prinzipien der linearen Stimmführung zu gründen und die entstehenden Zusammenklänge als Resultate der Polyphonie zu betrachten: »Es gibt nur noch die musikalische Logik, die im Linearen, Stimmlichen, Melodischen sich ausdrückt.«[18] Indem vertikale Zusammenklänge dem polyphonen Denken untergeordnet seien, verlören Konsonanz und Dissonanz ihre Bedeutung für den Tonsatz und würden durch die Gegensätze von »Farbe« und »Zeichnung« ersetzt. Unzureichend bleibt aber Stuckenschmidts theoretische Begründung sowohl des Primats der Melodielehre als auch dieser selbst: die »Gesetze der Melodie« seien »nicht eindeutig festzulegen«, sie basierten aber auf relationalen Verhältnissen wie »Spannung und Entspannung, Hebung und Senkung, Steigerung und Verminderung, Ruhe und Erregung«, deren Nachvollzug den »Sinn der Musik« erschließe, heißt es etwas vage.[19] Stuckenschmidts eher journalistisch als musiktheoretisch angelegter Beitrag verweist mit diesen psychologisch grundierten Kontrastpaaren von Zuständen und dynamischen Wechseln auf eine Tendenz in der Musiktheorie um 1920, die in den Werken von Ernst Kurth ihre wohl wirkmächtigste Ausprägung fand.

Während Metaphern für energetische Zustände wie »Spannung«, »Bewegung«, »Entspannung« oder »Ruhe« bereits in der Kompositionslehre Adolf Bernhard Marx’ als Grunddispositionen musikalischer Entwicklung eingeführt wurden und als Beschreibungsmodi für musikalische Verläufe auch im frühen 20. Jahrhundert noch nichts von ihrer Valenz eingebüßt hatten, wird in den 1920er Jahren – sofern man die Melodie nicht wie beispielsweise Justus Hermann Wetzel noch 1925 im Sinne einer Originalitätsästhetik des 19. Jahrhunderts als kaum ergründbaren »Keim und Blüte des musikalischen Gestaltens im Ganzen«[20] charakterisiert – versucht, melodische Verläufe präzise zu beschreiben – durchaus auch mit einem Kategorienapparat, der nicht mehr auf den syntaktischen Gliederungsmöglichkeiten des 19. Jahrhunderts beruht. Dabei lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden: erstens geht es darum, Kategorien für die Beschreibung von linearen, melodischen Verläufen zu entwickeln, zweitens sollen lineare Abläufe im Verhältnis zum (inneren) musikalischen Raum gesetzt werden.

Mit seiner 1923 publizierten Melodielehre, die der Komponist und Theoretiker Ernst Toch nach eigener Aussage in Grundzügen bereits 1914 konzipiert hatte, legte der Autor einen systematisch angelegten Ordnungsversuch melodischer Bauformen vor und erhob gleichzeitig den Anspruch, eine neue Teildisziplin in der Musiktheorie zu begründen.[21] Nach einem Definitionsversuch von »Melodie«, die er als Kombination von Tonhöhe und Rhythmus auffasst (»Melodie kann als die an Tonhöhe und Rhythmus mannigfaltige Aufeinanderfolge von Tönen bezeichnet werden«),[22] beschreibt Toch verschiedene Erscheinungsformen linearer Phänomene (»die Gerade«; »die Wellenlinie«; »Elastizität«), um schließlich – wenig überzeugend – zu versuchen, den Zusammenhang von Melodie und Harmonik und Rhythmik genauer zu bestimmen. Toch geht von der These aus, die kategorialen Vermögen von »Gesicht« und »Gehör«, also visuellem und akustischem Sinn, seien zwar verschieden, könnten aber vollständig in Analogie zueinander gesetzt werden: »Dieselbe Dreiteilung der Sinneswahrnehmungen gilt, wenn wir an die Stelle der Raumbegriffe Zeitbegriffe setzen, auch für alle Gehörswahrnehmungen.«[23] Räumliche Eindrücke würden sich in Linie, Fläche bzw. Körper und Farbe teilen. Bei zeitlichen Eindrücken entspricht nach Toch die Linie der Melodie, die Fläche der Harmonie und die Farbe der Klangfarbe.[24] Eine Melodie sei jedoch nicht allein eine Folge von Tonhöhen; sie gehe vielmehr aus dem Zusammenwirken mit dem Rhythmus sowie der Takt-Metrik hervor und stehe in engem Zusammenhang mit der Harmonie. Zwar berücksichtigt Toch diese Aspekte bei der Untersuchung der verschiedenen Formen der Linie, doch bleibt dabei unklar, inwiefern er zwischen der Erscheinungsform, d. h. nach seinem Verständnis der konkreten Zeichnung der Linie aufgrund ihres Tonhöhenverlaufs, und der musikalischen Spannungskurve, d. h. der psychologisch-dramatischen Entwicklung, differenziert. Die gegebenen Beispiele lassen eine recht schlichte Gleichsetzung von räumlicher Darstellung der Notenaufzeichnung und Zeichnung der melodischen Linie erkennen. So wird als Beispiel für die einfachste Form der Linie, die Gerade, u. a. der Beginn des zweiten Satzes, Allegretto, aus Ludwig van Beethovens 7. Sinfonie op. 92 genannt. Toch weist zwar darauf hin, dass Rhythmus und insbesondere harmonischer Ablauf zu einer Gestaltung der melodischen »Gerade« führen, erläutert die zugrundeliegenden Prinzipien und Effekte jedoch nicht. Wenn Toch im weiteren Verlauf explizit auf dramaturgische Gestaltungsmöglichkeiten der Gesamtanlage durch den Melodieverlauf eingeht, bezieht er sich dabei nur auf ältere Prinzipien aus der Dramentheorie des 19. Jahrhunderts.[25]

Die weitgehende Gleichsetzung räumlicher und zeitlicher Vorstellungen in Tochs Melodielehre beruhte auf Kategorien, die bereits nach dem Stand der Forschung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung brüchig waren. So warnte beispielsweise Ernst Kurth 1922 im »Vorwort zur dritten Auflage (Richtigstellung einiger Mißverständnisse)« der Grundlagen des linearen Kontrapunkts ausdrücklich vor einer »mechanische[n] Übertragung geometrisch-räumlicher Vorstellungen auf den Begriff der musikalischen Linie«.[26] Der Begriff »linear« charakterisiere in seiner Theorie »die frei ausschwingende melodische Zeichnung«, gleichzeitig aber auch »eine bestimmte musikpsychologische Grunderscheinung […], die Geschlossenheit des Spannungsvorgangs, der die erklingende Punktreihe durchzieht.«[27] Insofern lehnte Kurth die konventionelle, auch von Toch gegebene Definition von »Melodie« ab und setzte als alternative Bestimmung: »Das Melodische ist nicht eine Zusammenfassung von Tönen, sondern ein ursprünglicher Zusammenhang, aus dem sich Töne herauslösen«.[28] Dieser Zusammenhang, den Kurth auch als »Bewegungszug« charakterisiert, konstituiert sich allerdings nicht in den Tönen und ihrer Abfolge, sondern muss sich im Bewusstsein ausbilden: »die Melodie aber wird erst dem Empfinden und Verständnis aufgehen, wenn der geschlossene Zusammenhänge überstreichende Bewegungszug, der sich in den Tönen nur ausdrückt, ins Bewußtsein tritt, während sich ein Musikalischer schon bei erstem Hören oder Lesen durch den Überblick über größere Züge sogleich den ganzen Bewegungszusammenhang vergegenwärtigen kann.«[29] Zwar konzediert Kurth an anderer Stelle, dass »die musikalische Terminologie von räumlichen Ausdrücken durchsetzt« sei,[30] er warnt jedoch vor einer Analogiebildung, da es sich, wie weiter unten ausgeführt werden wird, um kategorial unterschiedliche Wahrnehmungsweisen handele.

Wissenschaftsgeschichtlich ist Tochs Publikation ungeachtet ihrer Beschränkung bedeutsam, da Melodie – offenbar auch als Reaktion auf eine zunehmend stärker vom linearen Denken beeinflusste Kompositionspraxis – als Gegenstand der Musiktheorie hier explizit thematisiert wird. Die eklatanten konzeptuellen Schwächen und die Ausklammerung von Problemstellungen, die bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung diskutiert wurden, ändern daran nichts. Neben dem bereits erwähnten nicht differenziert dargestellten Verhältnis zwischen notationeller Erscheinungsform und psychologischer Spannungskurve von Musik sind es Aspekte des zeitlichen Ablaufs von Musik als transitorischer Kunstform und die damit verbundenen Raumassoziationen von Musik, die bei Toch ungelöst bleiben.[31]

Analyse

Das in Hugo Riemanns musiktheoretischen Schriften immer mitgedachte Verhältnis zwischen hörender Wahrnehmung und musiktheoretischer Begriffs- und Systembildung spielt auch bei seiner Bestimmung von musikalischer Analyse eine herausgehobene Rolle. Dabei ist um 1900 der Begriff »Analyse« mit dem heutigen Verständnis nur partiell deckungsgleich. Denn in der fünften Auflage seines Musiklexikons wird im Lemma »Analyse« sowohl die Analyse der Zusammensetzung eines Tons im Hinblick auf seine Partialtöne als auch die technisch-ästhetische Analyse von Kunstwerken behandelt:

1) Die A. der Klänge durchs Ohr ist die Unterscheidung der in dem einzelnen Tone (Klange) unserer Musikinstrumente enthaltenen Partialtöne. […] – 2) Die technisch-ästhetische A. von Musikwerken ist die Untersuchung ihres formalen Aufbaues sowohl hinsichtlich der Gliederung der Themen in Phrasen und Umbildung, als auch der Periodenbildung, Modulationsordnung (vgl. z. B. die Analysen von J. S. Bachs ›Wohltemperiertem Klavier‹ von Debrois von Brunck [1867] und H. Riemann [1890–94] sowie die analytischen Sammelwerke: H. Kretschmars ›Führer durch den Konzertsaal‹ [1887–1890, 3. Aufl. des 1. Bds. 1899] und C. Bechholds ›Konzertführer‹).[32]

Während Riemann 1900 die zentrale Aufgabe der musikalischen Analyse knapp als »Untersuchung [des] formalen Aufbaues« der Musikwerke beschreibt, dabei aber auch eine ästhetische Komponente explizit einbezieht, wird die Stellung der musikalischen Analyse in der zehnten, von Alfred Einstein herausgegebenen Ausgabe des Riemann-Musiklexikons (1922) insofern gestärkt, als innerhalb des Eintrags die Reihenfolge der beiden Begriffsinhalte umgestellt und die musikalische Analyse (primär der Form) an erster Stelle, die physikalisch-akustische Analyse der Klänge an zweiter Stelle genannt wird. Gleichzeitig wird die Bedeutung der musikalischen Analyse als praktische Anwendung und wichtige Ergänzung der musiktheoretischen Disziplinen Harmonie- und Formenlehre sowie Lehre von Rhythmik und Metrik hervorgehoben.[33]

Während in den Lemmata der beiden Ausgaben des Lexikons die musikanalytische Tätigkeit primär als eine Untersuchung der syntaktischen und tonalen Gliederung und Phrasierung von den kleinsten Einheiten über die Prinzipien ihrer Synthese bis zum gesamten formalen Aufbau eines Werkes erscheint und auf die Funktionen der klanglichen Realisierung und rezipierenden Wahrnehmung nicht eingegangen wird, argumentierte der Riemann-Schüler Gustav Becking 1919, Riemanns analytische Untersuchungsmethode und Interpretation musikalischer Werke habe sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu dessen letzten Veröffentlichungen signifikant weiterentwickelt, und sie habe zuletzt die Bedeutung des hörenden Erlebens von Kunstwerken für die Interpretation nachdrücklich hervorgehoben.[34] Beim Hören handelt es sich dabei keineswegs um ein bloßes Wahrnehmen akustischer Daten, sondern um aktives, beziehendes und somit sinnstiftendes Erkennen, das Voraussetzung für die Auffassung von Zusammenhängen und somit des musikalischen Kunstwerkes sei. Die Herausforderung liege darin, dass klingende Musik nicht notwendigerweise eine eindeutige Auffassung hervorbringe, weil das beziehende Erkennen differenzierte Gewichtungen einschließe und zudem Zusammenhänge auch zwischen weit entfernten Momenten herstellen und Mehrdeutigkeiten auflösen müsse:

Alles, was nicht am augenblicklichen Schalleindruck hängt, das fortwährende Verknüpfen von Dagewesenem mit Geschehendem, das Einstellen jedes Teilchens in den Zusammenhang, die Orientierung, wohin der Weg geht, das Beziehen aller Werte auf vorläufige und endgültige Schlüsse, kurz, eben das, wozu ein passives Verhalten, das nur den sich abwickelnden Eindrücken folgte, nicht im Stande wäre. Es liegt hier die systematische Überwindung der naiven Anschauung, das ganze Tonstück sei eine Aneinanderreihung seiner größeren und kleineren Teile, zugrunde. Nicht vielleicht so sehr die Wichtigkeit der psychischen Aktivität an sich, als der Umstand, daß weitaus die meisten der im Musikerlebnis erfaßten Beziehungen nicht zwischen den einander wirklich unmittelbar folgenden Teilchen des Tonstücks liegen, sondern in vielen ›Schichten‹ sich durch das ganze Kunstwerk hinziehen, so daß sie bei passiver Einstellung des Hörens gar nicht bis ins Erlebnis gelangen könnten.[35]

Dabei spielt es nach Becking keine Rolle, ob die Auffassung vertreten wird, die Beziehungen seien im Kunstwerk gegeben, oder die Ansicht, die psychischen Reaktionen des Subjekts machten diese Beziehungen dem Rezipienten überhaupt erst zugänglich. Essentiell für Riemann und Becking ist aber die Überzeugung, dass sich die Analyse allein auf die Struktur des Kunstwerkes und – in Abgrenzung zur psychologischen Ästhetik – nicht auf dessen Inhalt richten müsse:

Zur Struktur des Kräftesystems, als welches sich uns das Tonstück darstellt, vorzudringen, die innere Ordnung und Gesetzmäßigkeit aufzudecken, Elemente und höhere Bildungen zu bestimmen, Zusammenhänge klarzustellen, das und vieles Ähnliche soll von der Analyse geleistet werden.[36]

Indem Analyse diesen Anspruch erfüllt, trägt sie – so Becking – maßgeblich zu einem vertieften Erleben und Verstehen von Kunstwerken bei, und zwar sowohl als Leitfaden für die musikalische Interpretation als auch als Hinweisgeber für ein angemessenes musikalisches Hören. Denn ihre Rolle erfülle sich nicht in einem bloßen Erklären kompositionstechnischer Aspekte, sondern zur Analyse gehöre auch die Betrachtung der Wirkung von Kunstmitteln in ästhetischer Hinsicht: Becking spricht unter Verweis auf Riemann von einem »Dualismus der Aufgabe der Analyse«, die Aspekte der »Kunstlehre« und »Ästhetik« zusammenbringe.[37] Gleichzeitig betont Becking, dass das Erlebnis von Kunstwerken vielschichtig sei, auch von den Fähigkeit des Hörers abhänge und nicht immer entschieden werden könne, welches Erlebnis oder welche »Leseweise« am adäquatesten sei, während aber eine vertiefte Werkkenntnis stets Eingrenzungen und Annäherungen ermögliche.[38]

Diese theoretischen Überlegungen konkretisiert Becking im zweiten Teil seines Essays an einigen Beispielen. Ihren Ausgangspunkt nehmen seine Illustrationen bei Riemanns Analyse des Beginns des langsamen Satzes (Adagio) von Beethovens Klaviersonate d-Moll op. 31/2, und sie weiten sich schnell aus auf grundsätzliche Überlegungen zu Riemanns Auffassung von Metrik und Phrasierung.[39] Insbesondere die Herausforderungen, die bei der Anwendung metrischer Prinzipien auf konkrete musikalische Situationen entstehen und die eine differenzierte Berücksichtigung der Wechselwirkung von Metrik mit Form, Rhythmik und Dynamik verlangen, um die interne Gliederung innerhalb der Grundform, aber auch Zusammenhänge höherer Ordnung (d. h. über die achttaktige Periode hinaus) erkennen zu können, lassen sich Becking zufolge kaum allein durch die Anwendung schematischer Modelle einlösen. Zwar bleibe bei der metrischen Bestimmung der jeweiligen Situation das »normative Grundschema« Orientierungspunkt;[40] erstens sei dieses an stilistische Grundsätze gebunden (und unterliege damit einem historischen Wandel), zweitens seien das übergeordnete normative Grundschema und die individuelle konkrete Gestaltung des Kunstwerks nicht deckungsgleich. In diesem Spannungsverhältnis gebe das aktive Hören, durch das man sich immer tiefer in die Struktur der Komposition hineinarbeiten könne, wichtige Hinweise darauf, welche Beziehungen und Verknüpfungen die musikalische Analyse genauer untersuchen und begrifflich-argumentativ herausarbeiten solle. So versucht Becking in diesem Aufsatz zwischen Intuition und Erlebnis des Werkes einerseits und einem wissenschaftlich abgesicherten Begriffsapparat und methodologischem Vorgehen andererseits zu vermitteln.

Dieser Vermittlungsversuch führte wenige Jahre später in der Studie Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle (1928) zu einem neuen Ansatz. Becking geht hier von der These aus, dass sich personal- und epochenstilistische musikalische Merkmale insbesondere in sogenannten »Unterströmungen«, d. h. Bewegungen, die weder an der Anordnung der Tonhöhen noch an deren rhythmischen Werten fest gemacht werden können, manifestierten.[41] Obwohl solche Unterströmungen an der Oberfläche einer Komposition nicht konkret festzumachen sind, bilden sie dieser Theorie zufolge dennoch einen charakteristischen Zusammenhang zwischen einzelnen Elementen, Phrasen, Abschnitten etc. einer Komposition aus. Da sie aber nicht durch die westliche Musiknotation ausgedrückt werden können, muss das »Miterfassen der immanenten Strömungen« von Interpret*innen und Hörer*innen geleistet werden.[42] Um die Besonderheiten dieses musikalischen Flusses zu erfassen, entwickelte Becking im Anschluss an Arbeiten des Mediävisten und Sprachwissenschaftlers Eduard Sievers sogenannte »Schlagfiguren«, die die Verläufe dieser Unterströmungen ‒ geordnet nach Epochen sowie National- und Personalstilen ‒ sichtbar, differenzierbar und nachvollziehbar machen sollen.[43] Jede dieser Kurven prägt eine für den jeweiligen Aspekt charakteristische Linienführung aus, die den typischen Schlag und die ›Schwere‹ der Musik nachzeichnet.[44] Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang wichtig. Erstens beansprucht Becking mit seinen Schlagfiguren, einen musikalischen Aspekt, der zwar unmittelbar wirkt und hörend nachvollziehbar ist, sich aber der konventionellen Analyse entzieht, der Musiktheorie verfügbar zu machen.[45] Zweitens erscheint Beckings Entwurf als Teil jener übergeordneten Tendenz der Zwischenkriegszeit, die Erscheinung und Wahrnehmung von Musik umfassend als theoretischen Gegenstand zu begreifen und subtile Differenzierungen, die sich nicht im Notenbild widerspiegeln, fassbar werden zu lassen und theoretisch zu reflektieren. Sein Ansatz, den er nach eigener Aussage zwischen 1919 und 1921 entwickelte, ist zweifelsohne paradigmatisch für diejenigen innovativen Ansätze der Musiktheorie der 1920er Jahre, die Spannungen und dynamischen Prozesse musikalischer Abläufe beschreiben und sichtbar machen wollten. Aus heutiger Sicht erscheint Beckings Theorie insofern problematisch, als er eine Typologie entwickelte aufgrund nur subjektiv wahrnehmbarer – und somit nicht allgemeingültig verifizierbarer – »Unterströmungen«, deren textuelle wie durch Symbole angestrebte Beschreibung rudimentär bleibt und allenfalls als eine Annäherung charakterisiert werden kann. Ungeklärt bleiben in seinem Entwurf zudem die Bestimmung der Interpretation sowie die Voraussetzungen des wahrnehmenden Hörens, und damit zwei Aspekte, die zu den Grundpfeilern seiner Theorie gehören.

II. Grundkategorien

Der künstlerische Innovationsschub, der für die Entfaltung der vielseitigen Musikkultur der Weimarer Republik, der jungen Republik Österreich und der Schweiz während der Zwischenkriegszeit mitentscheidend war, führte neben einer Erweiterung der oben thematisierten Aspekte dazu, dass Konzepte, Kategorien und Auffassungen der etablierten, sich primär mit der Tonalität befassenden Musiktheorie in Frage gestellt wurden. Denn kompositorische Innovationen und neue wissensgeschichtliche Perspektiven unterminierten bisherige noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Gewissheiten gleichermaßen und grundsätzlich. Dabei wurde die Fragestellung, wie Musik wahrgenommen und gehört werde, aus unterschiedlichen Perspektiven aufgegriffen und vielfach ins Zentrum der Überlegungen gerückt. Im Anschluss an die hörphysiologischen Forschungen des »Diskursivitätsbegründers« Hermann von Helmholtz[46] und die psychophysikalisch orientierten Forschungsprojekte im 19. und frühen 20. Jahrhundert[47] blieb die Frage des Hörens und Wahrnehmens von Musik in den 1920er Jahren weiterhin virulent und entwickelte sich zu einem zentralen thematischen Impuls für das musiktheoretische Denken der Zeit.[48] Allein die Persistenz, mit der dieser Aspekt thematisiert wurde, spricht für die These, dass mit den Reaktionen auf diese Problemstellung auch eine Kompensation für den drohenden vollständigen Verlust hergebrachter musiktheoretischer Paradigmen angestrebt wurde. Die aufgrund einer stärkeren Berücksichtigung der Bedingungen von sinnlicher Wahrnehmung und einer Neuinterpretation der Funktion des aktiven Hörens bestehende Chance einer Neubewertung fundierender Kategorien von Musik wurde allerdings nur selten konsequent genutzt.

Raum

Erich M. von Hornbostel setzte die Fähigkeit des visuellen Sinns, Objekte zu bilden, der Dynamik des akustischen Sinns entgegen; beide würden sich zwar nicht in allen Punkten, aber zumindest in einem wesentlichen unterscheiden: »Die Augenkünste bilden Gegenstände […]. Die Tonkunst bildet Geschehnisse«.[49] Während der Schall zwar innerhalb eines Hörraums lokalisiert und in seiner Ausbreitung wahrgenommen werden kann, vermag der akustische Sinn keine Figuren oder Gestalten zu erkennen:

Ein Schall mag rund sein, kugelig wie ein Tropfen, rechts oder links von mir, weit oder nah, punktförmig oder ausgebreitet – es gibt einen Hörraum, aber in diesem Raum ist kein Viereck möglich und kein Würfel.[50]

Sofern Hornbostels Beobachtung anerkannt wird, hat dies unmittelbare Konsequenzen für das musiktheoretische Denken. So werden beispielsweise Motive in der Musiktheorie häufig als relativ stabile Objekte aufgefasst, im Rahmen von motivisch-thematischen Analysen zur besseren Verständigung mit Labels versehen (a, b usw.), in Submotive fragmentiert und ihre Verwendung innerhalb der Komposition dokumentiert. Obwohl Motive, wie Hornbostel argumentiert, in ihrer Ausdehnung nicht wie Raumformen wahrgenommen werden können, werden sie seitens der Musiktheorie häufig vergegenständlicht. Das Bewusstsein dafür, dass »das auf einmal Vorgestellte […] ein Verlauf mit seinem Tempo und seiner Dauer, eine Bewegung mit all ihrer Bewegtheit« ist, kann dabei verloren gehen.[51] Doch ähnlich wie bei bestimmten Wahrnehmungsparadoxen – erinnert sei beispielsweise an die sogenannten ›Kippfiguren‹ wie den ›Hase-Enten-Kopf‹ – sind wir unserer Wahrnehmung nicht vollständig ausgeliefert, sondern können sie mit beeinflussen. Bei der Kippfigur ›Hase-Enten-Kopf‹ lassen zwei verschiedene Betrachtungsweisen das Bild als Darstellung entweder eines Hasen- oder eines Entenkopfes erscheinen;[52] es handelt sich dabei um einen sogenannten Aspektwechsel. Entscheidend ist, dass es sich sowohl bei doppeldeutigen optischen Wahrnehmungen wie bei der bekannten ›Hase-Enten-Kopf‹-Zeichnung als auch bei der Wahrnehmung musikalischer Einheiten – als Gestalt oder als zeitlicher Verlauf – um Wechsel der Wahrnehmungsweisen handelt, um ein »Wahrnehmen als«, das bewusst beeinflusst werden kann.

Eine ähnliche Doppeldeutigkeit zeigt sich bei den in den 1920er Jahren auch die Musiktheorie beeinflussenden gestalttheoretischen Konzepten. Vereinfachend dargestellt geht die Gestalttheorie davon aus, dass bei der Wahrnehmung beispielsweise melodischer Verläufe im Bewusstsein musikalische Gestalten entstehen. Während im zeitlichen Vollzug einer Melodie beim hörenden Erfassen mehr die einzelnen Momente (Töne, Intervalle, Verlauf etc.) hervortreten, formt das Bewusstsein aus den momentanen und in Hinblick auf die Sinneinheit einer Phrase nur unvollständigen Wahrnehmungen eine Gestalt, die immer vollständiger als musikalischer Gesamteindruck hervortritt und die Einzeleindrücke überschreibt.[53] Dieser Gesamteindruck (einer Melodie), in dem die Einzelmomente (Tonreihe, Intervalle, Rhythmus) zunächst aufgehoben sind, kann anschließend wiederum analytisch in einzelne Komponenten zerlegt werden. Im Unterschied zu den Aspekten der visuellen Kippfigur handelt es sich beim Hören von Musik um zwei Modalitäten der Wahrnehmung, die unterschiedliche Auffassungen eines melodischen Verlaufs erzeugen.

Während Hornbostel seine Theorie aus eigenen experimentellen Versuchen zur Verbreitung von Schall entwickelt und seine Ergebnisse somit empirisch und naturwissenschaftlich fundiert, stellen sich die Überlegungen zum musikalischen Raum in der Musiktheorie insgesamt wesentlich uneinheitlicher dar.[54] Wie bereits erörtert wurde, ist die beispielsweise von Toch vollzogene Analogiebildung zwischen Raum- und Zeitkategorien schief. Ein differenzierterer, aber nicht minder problematischer Versuch, Zeit- und Raumkonzepte für die Beschreibung und Kategorisierung von Musik fruchtbar zu machen, findet sich in einer der Hauptschriften der in den 1920er Jahren lebhaft diskutierten musikästhetischen Richtung der musikalischen Phänomenologie.[55] In Von den Naturreichen des Klanges (1925) vertritt Paul Bekker die These, die musikgeschichtliche Entwicklung lasse eine »Wandlung des Klangempfindens von der Zeit- zur Raumempfindung« erkennen;[56] der Umschlag komme geradezu einem Paradigmenwechsel gleich. Diese These beruht auf Bekkers Auffassung, die im Laufe der geschichtlichen Entwicklung eingetretene Stärkung statischer und dynamischer »Raumempfindungsnormen« sei die Voraussetzung von und korrespondiere mit dem Ausbau von »Raumempfindungsformen«, worunter er »die Formenwelt des instrumentalen Klangphänomens« versteht.[57] Allerdings beruht dieser musikgeschichtliche Gliederungsversuch auf wenig überzeugenden Grundannahmen. So soll das klangliche Raumempfinden durch die »gravierende Kraft des Basses«, den »Konsonanz- und Dissonanzbegriff«, die »Tonleitern als räumliche Entfernungsschematisierung der Töne« und die »Transposition und Temperierung als Mittel der Klangausgleichung« zum Ausdruck gebracht werden; die Bewegung im Raume durch rhythmische und melodische Mittel, Tonstärkenbewegung und koloristische Tonfarbenbewegung.[58] Bei Bekkers Beschreibung der Verfasstheit von Musik in der neueren Musikgeschichte handelt es sich demnach um hypothetische Setzungen, die weder genauer ausgeführt noch stichhaltig begründet werden.

Differenzierter wurde der Sachverhalt, dass Wahrnehmung von Musik, sofern die letztere nicht nur innerlich gehört wird, zwar auf Schallereignissen basiert, aber mit diesen nicht gleichgesetzt werden kann, in dem fraglichen Zeitraum von anderer Seite erörtert. In der Theoriebildung der Tonphysiologie, aber auch der Musiktheorie/Musikpsychologie wurden verschiedene Ansätze verfolgt, um zu erklären, wie der Übergang vom akustischen Ereignis zu sinnvoll strukturierter Musikwahrnehmung funktioniert und welche Rolle Raumkonzeptionen dabei spielen. Als ein Hauptvertreter der sogenannten »Energetik«[59] bezog Ernst Kurth auch zu den oben angesprochenen Themenkomplexen »Melodie« und »Hören« differenziert Stellung. Da seine Position deutlich von den bislang diskutierten abweicht und seine Publikationen, insbesondere Grundlagen des Linearen Kontrapunkts (1917) und Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners »Tristan« (1920) in den 1920er Jahren im deutschsprachigen Raum außerordentlich breit rezipiert wurden, soll auf einige Aspekte seiner Überlegungen etwas ausführlicher eingegangen werden.

Kurths sämtlichen theoretischen Schriften liegt ein Konzept von Musik zugrunde, das zwischen dem Bereich der klingenden Töne in der realen (äußeren) Welt und dem der inneren Empfindung bzw. Vorstellung unterscheidet. Diese beiden Sphären – äußere und innere Welt – sind zwar aufeinander bezogen, stehen aber, so Kurth, in keinem Spiegelverhältnis zueinander. Ausgangspunkt von Kurths Überlegungen ist seine Überzeugung, dass der Ton an sich, der die Grundlage der Musik darstelle, bzw. der Toneindruck »in der inneren Verarbeitung [des/der Hörenden] vergegenständlicht« werde.[60] Diese Vergegenständlichung entspricht erstens nicht den physikalischen Gegebenheiten: Töne entstehen zunächst einmal durch Schwingungen und bestehen aus Partialtönen. Zweitens – und folgenreicher – stellt Kurth die These auf, häufig Tönen zugeschriebene Merkmale wie etwa Elastizität, Gravitation, Stofflichkeit, Räumlichkeit, Energieaufspeicherung seien »ein Trugeindruck, und doch nicht eine bloße Begleiterscheinung; vielmehr liegen in alledem konstituierende Momente, ohne die die ganze Musik aus unserm Bewußtsein verschwände«.[61] In diesen »konstituierenden Momente[n]« spiegele sich auch die Psyche; während die Lehre von den Tonempfindungen die Wirkung von Tönen auf das Musikerlebnis untersucht hat, stellt für Kurth das aus unserer Psyche kommende Hineindenken in die Töne, das Züge von manipulatorischer Ausdeutung aufweist, ein zentrales Element für die Musikpsychologie dar: »Die Lehre von den Tonempfindungen sieht nur die Lebensenergie, die wir vom Ton empfangen; es gibt aber auch eine, die wir dem Ton einhauchen. Jene Erscheinungen sind also in der realen Außenwelt nicht vorhanden und erst psychisch eine Realität«.[62] Oder, in einer Sentenz gefasst: »Wie sie [die Musik] sich dort [in der Tonpsychologie] auf Wellenlehre und Schall gründete, so hier [in Kurths Konzeption der Musikpsychologie] auf ›Willenlehre‹ und Schall«.[63] Indem Kurth, Schopenhauer rezipierend, die klingende Musik der äußeren Welt als verzerrten Ausfluss innerer Empfindungen auffasst, bestimmt er als tatsächliches Zentrum von Musik die innere Welt (von Komponist*innen, Interpret*innen, Hörer*innen). Kurths Auffassung richtet sich dabei auch gegen die durch Riemanns Schriften vermittelte Vorstellung, die »›Aktivität des Hörens‹ [sei] rein intellektueller Natur«.[64] Vielmehr sei ein wesentlicher Teilbereich der Musikpsychologie die »Lehre von den energetischen Erlebnissen«, die zwar in den »klingenden Musikelementen« aufscheinen und in dieser objektivierten Form »verstandesmäßig verarbeitet werden können«, aber dennoch »im allgemeinen nur zu dunklen Vorstellungen« im (aufnehmenden) Subjekt gelangten.[65] Im Anschluss an Illo Peters’ Die Grundlagen der Musik (1927) hält Kurth Erlebnisse ebenso wie Gefühle und Fantasien für vieldeutiger als Vorstellungen, die aber wiederum weniger eindeutig sind als der Intellekt.[66] Folgerichtig definiert er als Aufgabe der Musikpsychologie (mit Auswirkungen auf die Musiktheorie), eine differenziertere Auffassung von dieser tieferen, verborgenen Dimension von Musik zu entwickeln sowie angemessene Begriffe und Konzepte aus dieser Erkenntnis heraus zu formulieren.

In seiner letzten Publikation, der Musikpsychologie, die als Versuch gelesen werden kann, musiktheoretische Basisbegriffe auf eine neue Grundlage zu stellen, bestimmt Kurth den zentralen Gegenstand seiner Ausführungen als »Lehre von den energetischen Erlebnissen«.[67] Unter der Voraussetzung der oben skizzierten Prämissen stellt sich für ihn die Leitfrage, wie »energetische Erlebnisse« – die die Grundlage musikalischen Empfindens und musikalischen Verstehens bilden – erstens unsere Musikauffassung beeinflussen und zweitens welche Kategorien dafür maßgeblich seien. Für Kurth bilden ›Kraft‹, ›Raum‹ und ›Materie‹ und deren Zusammenspiel die drei Parameter, die in die Betrachtung einbezogen werden müssen, um Gesetze der Musik angemessen formulieren zu können. Denn die bislang dominierende Vorstellung, das Grundelement von Musik sei klingende »Materie«, die »verarbeitet« werde, verfehle die eigentümliche Disposition von Musik.[68] Ebenso problematisch sei eine Analogiebildung zwischen der Vorstellung des äußeren Raumes und dem musikalischen Raum. Während »Kraft« unmittelbar erfühlt werden könne, handele es sich bei »Raum und Materie« um »Erscheinungen einer Zwischenschicht zwischen unbewußten Tiefenvorgängen und der eigentlichen Klangwelt«. Jedoch seien auch »Raum- wie Materieempfindungen in der Musik psychologische Phänomene, Grundfunktionen des Hörens«.[69]

Wie Kurth seine Grundkategorien Materie, Raum, Kraft aufeinander bezieht, kann an dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt und erörtert werden. Im Zusammenhang der Themenstellung soll nur versucht werden, seine Auffassung der Beziehung von Melodie und musikalischem Raum zu diskutieren.

Im Gegensatz zu Hornbostel richtet sich Kurths Aufmerksamkeit nicht auf den äußeren Raum und die Ausbreitung von Schallereignissen; zudem warnt Kurth immer wieder vor einer Gleichsetzung von Raumvorstellung mit Assoziationen eines musikalischen Raums. Zwar liege durch das Eindringen räumlicher Vorstellungen, durch die Verwendung konventioneller Metaphern bei der Beschreibung von Musik (wie »aufsteigende« oder »absteigende« Melodie) und durch musiktheoretische Begriffe, die von räumlichen Vorstellungen geprägt seien, eine Analogie nahe; diese gehe aber an dem Sachverhalt eines musikalischen Raumes vorbei. Der letztere zeichne sich insbesondere durch Undeutlichkeit aus.[70] So existiere eine musikalische Linie nicht im zwei- oder dreidimensionalen Raum; charakteristisch sei vielmehr ihr Bewegungsmodus, der sich aber wiederum nicht auf einen realen Raum beziehen lasse. Indem Kurth die Valenz gängiger, den geometrischen und den musikalischen Raum analog auffassender Vorstellungsaspekte einer melodischen Bewegung weitgehend falsifiziert, stärkt er seine eigene These, beim musikalischen Raum handele es sich maßgeblich um einen »psychischen ›inneren‹ Raum, in dem sich die musikalische Dynamik abspielt«; diese Auffassung kann im Übrigen auf alle musikalischen Parameter (Melodie, Intervalle, Harmonik, Rhythmik, Klang) übertragen werden.[71] Da allerdings unsere Musikauffassung auch durch Assoziationen mit äußeren Raumvorstellungen beeinflusst wird, vermischen sich in der Wahrnehmung beide Raumvorstellungen:

Es gibt eben nicht nur jenen anschaulichen Raum, der von außen ins musikalische Vorstellungsleben hereingezogen wird; es existiert auch ein Raum der inneren Gehörswelt als selbständiges musikpsychologisches Phänomen. […] Allen diesen Erscheinungen gegenüber [die dem Denken eigenen räumlichen Hilfsvorstellungen; sowie dem Sehraum, Tastraum und Gehörsraum, F. W.] wäre bei den inneren psychischen Raumeindrücken der Musik wohl am besten vom ›energetischen Raum‹ zu sprechen, da er unmittelbar aus den psychischen Bewegungsenergien hervorgeht.[72]

Kurth stellt sich den »energetischen Raum« offenbar so vor, dass sich dieser durch Kraftfelder der Musik in unseren Empfindungen bzw. Vorstellungen konstituiert. Dieser energetische Raum ist also nicht von vornherein gegeben, sondern wird durch die Musik entworfen und unterliegt auch Veränderungen durch die Musik. Diesem Konzept eines energetischen Raums entspricht Kurths Idee eines »energetischen Hörens«.[73] Das musikalische Hören, also die aktive Wahrnehmungsweise, durch die akustischen Daten eine musikalisch sinnvolle Struktur gegeben wird, ist nämlich nicht als eindimensionaler zeitlicher Verlauf aufzufassen. Vielmehr entstehen bei der Konstitution und dem Nachverfolgen von sogenannten Spannungskurven, d. h. von größeren Einheiten, zusammenschließende Bögen, mehrspurige Hörverläufe. Analog zum Erfassen kleinerer Formabschnitte (Themen etc.) und deren gleichzeitiger Verortung in großformalen Abläufen geht Kurth davon aus, dass auf verschiedenen Ebenen mehrere Spannungskurven gleichzeitig ablaufen können. Durch die Fähigkeit, mehrspurig hören zu können (Kurth nennt antizipierendes »Voraushören«, »Nebenher-Hören« und modifizierendes »Zurückhören«) und diese Hörweisen zu synthetisieren, beruht sogar das Hören einer melodischen Linie auf komplexen Eindrücken. Und es ist die Aufgabe der musikalischen Analyse, diese Vielschichtigkeit des Hörens und der musikalischen Prozesse in die Deutung des Musikwerks mit einzubringen.

Tonraum

Ungeachtet der weiten Popularität, der sich Kurths musiktheoretische Werke in den 1920er Jahren erfreuten, wurden seine Überlegungen auch sehr kritisch und ablehnend beurteilt. Abschließend sei hier knapp auf Heinrich Schenker eingegangen, der Kurths Psychologisierung der Musiktheorie nichts abzugewinnen vermochte. Schenker konzipierte seine eigene Theorie nach vermeintlichen Gesetzen der Natur. Basierend auf der Obertonreihe stellte er fest: »Der Klang in der Natur ist ein Dreiklang«, der, angeordnet innerhalb einer Oktave, in sukzessiver Ausfaltung den »Tonraum« schafft.[74] Die »Urlinie« durchläuft diesen Tonraum und »bringt den Klang so erst zum Ausdruck, zum Bewußtsein«.[75] Komponist*innen sind an die Gegebenheiten von Tonraum und Urlinie gebunden; ihre Aufgabe besteht in der Gestaltung dieser Gegebenheiten, und ihre Fähigkeiten hängen mit ihrem Bewusstsein des Tonraums zusammen:

Nur das Genie ist mit dem Tonraumgefühl begnadet. Es ist sein Aprioricum genau so, wie jedem Menschen schon aus seinem Körpergefühl heraus die Begriffe des Raumes (als Ausdehnung seines Körpers) und der Zeit (als Wachstum und Werden des Körpers) a priori eingeboren sind.[76]

Ein ausgeprägtes Gefühl für den Tonraum und dessen Ausfüllung durch die Urlinie wird daher zur Voraussetzung dafür, auf den Gesetzen der Natur basierende Kunstwerke zu schaffen. Aus der Perspektive der Wahrnehmung von Musik kommt es wiederum darauf an, diese Strukturen hörend zu erfassen, und die Schenker’schen Werkanalysen zielen auch darauf ab, Interpret*innen, Herausgeber*innen und Hörer*innen zu einem angemessenen Verständnis der Kompositionen anzuleiten.[77] Die schärfste explizite Kritik an Kurth findet sich bei Schenker in einem Essay über J. S. Bachs Violin-Solosonaten. Ausgehend von längeren Passagen aus Grundlagen des Linearen Kontrapunkts wirft Schenker Kurth vor, die von ihm konstatierten Bewegungen in der Musik blieben wie seine Begriffe unbestimmt, um polemisch dagegenzusetzen:

Die Bewegung in der Musik ist mehr als Bewegung an sich, sie ist eine bestimmte Bewegung. Die Bestimmtheit der Bewegung rührt davon her, daß sie jederzeit einen bestimmten Klang erfüllt. Die Bestimmtheit des Klanges aber hat die Natur uns geschenkt, und so geht nun von einem bestimmten Dreiklang der Natur […] die entscheidende Bestimmtheit jener Bewegung aus, die im besonderen der Inhalt der Musik ist. Erst durch eine erlesene, künstlerisch bewußt in bestimmten Grenzen gehaltene Bewegung hat sich ja die Musik aus ihrer ursprünglich ziellos fließenden Bewegung zur Kunst erhoben.[78]

Das Zitat, in dem wesentliche Aspekte von Schenkers Theorie in nuce zusammengefasst sind, lässt keinen Zweifel an den gegensätzlichen Auffassungen dieser beiden Theoretiker, die mit ihrem kontrastierenden Zugriff auf Musik zu den bis heute anregendsten Musiktheoretikern der 1920er Jahre zu zählen sind.

Schluss

Bei aller Diversität der hier kursorisch erörterten theoretischen Perspektiven verbindet alle Autoren in den 1920er Jahren das Bestreben, Zugänge zum musikalischen Werk durch eine im weitesten Sinne analytische Annäherung zu eröffnen. Dass diese Intention für die Zeit keineswegs selbstverständlich war, zeigt der 1930 veröffentlichte Aufsatz »Musikalische Analyse und Werturteil« von Arnold Schering.[79] Der Autor bestreitet grundsätzlich die Erkenntnisleistung musikalischer Analyse, die er als eine »musikalische Ingenieurwissenschaft« bezeichnet;[80] der Wert des musikalischen Kunstwerks – also nach Scherings Verständnis das Wesentliche, der geistige Gehalt – erschließe sich nur durch eine hermeneutische Deutung des vom Komponisten intendierten Inhalts. Sein Frontalangriff richtet sich explizit gegen die Arbeiten von Hans Mersmann, der in den 1920er Jahren zahlreiche analytisch orientierte Publikationen zur tonalen und zeitgenössischen Musik publiziert hatte. Mersmanns Replik auf Schering ist insofern bemerkenswert, als hier versucht wird, die Aufgabe musikalischer Analyse im Kontext der 1920er Jahre zu situieren und neu zu begründen. Ähnlich wie Schering ist für ihn die Wertung von Musik das Ziel der wissenschaftlichen Beschäftigung; für das Erreichen dieses Ziels ist die Analyse aber ein wichtiges Werkzeug, denn sie vermag die Differenziertheit und den Grad künstlerischer Gestaltung herauszuarbeiten:

So erweist sich die Wertung von Musik als eine vielleicht höher geartete Form des Hörens. Wenn wir ein Kunstwerk gefühlsmäßig bejahen oder verneinen, so ist dies ein Teil eines gesamten und äußerst vielgestaltigen Wahrnehmungsaktes, welcher die Aufnahme durch das Ohr ebenso einschließt, wie den geistigen Apperzeptionsvorgang. Zwischen Hören, Erkennen und Werten besteht kein prinzipieller Gegensatz, sondern lediglich eine Verlagerung der Perspektive.[81]

Für ein werkzentriertes Vorgehen, wie Mersmann es propagiert, steht also die musikanalytische Beschäftigung ungeachtet der gewählten Analysemethode als Ausgangspunkt fest. Doch Mersmann, der auch Musikhistoriker war, denkt inklusiv: die Werkanalyse ist für ihn nicht der Endpunkt der Beschäftigung. Eine musikalische Wertästhetik schließt neben analytischen Kategorien die Untersuchung des »ideologischen«, »soziologischen«, »historischen« und »individuellen« Wertes ein.[82] Zwar werden wir den von Mersmann genannten Wertkategorien – und zwar ›Wertkategorien‹ an sich – heute, wenn überhaupt, nur noch eine eingeschränkte Leitfunktion zuerkennen. Dass sich Mersmanns Ansatz für die Musikwissenschaft bald als anschlussfähig erwies und dabei eine Vorform eines kulturwissenschaftlichen Zugangs formulierte, verdeutlicht pars pro toto, dass sich musiktheoretisches Denken der Zwischenkriegszeit nicht auf Problemstellungen, die auf fünf Linien und vier Zwischenräumen verortet sind, eingrenzen lässt.

Anmerkungen

1

Schönberg 1976, 209.

2

Die genannten Antagonismen sind entnommen Erpf 1927 und Westphal 1926; in den zeitgenössischen Quellen finden sich zahlreiche weitere Belege. Freilich stammen einige der Gegensatzpaare (z. B. Romantik – Moderne; Beseelung – Technik) aus älteren Diskursen und werden in den 1920er Jahren weiter verwendet.

3

Es sei zumindest darauf hingewiesen, dass die Thematisierung aktueller kompositorischer Tendenzen seitens der zeitgenössischen Musiktheorie in keiner Weise das Panorama der kompositionsgeschichtlich relevanten Entwicklung abbildet. Zahlreiche, musikgeschichtlich für die 1920er Jahre essentielle Phänomene (z. B. Jazz und Jazz-Rezeption, Schlager, Filmmusik, Radiomusik, Improvisation, selbst neoklassizistische Tendenzen) werden zwar in Hinblick auf ihre ästhetische Einschätzung kontrovers diskutiert, aber musiktheoretisch nicht reflektiert.

4

Vgl. Mersmann 1924, 3.

5

Vgl. Erpf 1927, 2 f.

6

Ebd., 5.

7

Erpf nennt als Beispiel »Stil der Klassik, der Romantik, der Epoche Bach, der Epoche Palestrina oder schließlich jene[n] als historische Gegebenheit ebenfalls sichtbare[n] Stil der Theoriebücher der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, ebd.

8

Alle drei Intentionen verbinden sich in der Darstellung Moderne Harmonik (von der Nüll 1932), die sich mit ihrer ausgewogenen Vorgehensweise von dem ideologisch aufgeladenen Diskurs abhebt.

9

Vgl. Erpf 1927, 8, 16 f.

10

Vgl. ebd., 12–14. Erpfs Liste eigener Musikbeispiele verzeichnet neben Werken der Klassik und Romantik folgende Komponisten, die um und nach 1900 tätig waren: Mahler (7 Beispiele), Debussy (2), Reger (1), Schönberg (11), Strawinsky (1), Reger (1), R. Stephan (1), Milhaud (2) und Hindemith (8) (vgl. ebd., 229 f).

11

Obwohl Erpf keine Namen nennt, ist hier an die bis in die 1920er Jahre nachgedruckten Harmonielehren von Gustav Bumcke, Ludwig Bussler, Stephan Krehl, Ernst Friedrich Richter (mit Aufgabenbüchern von Alfred Richter), Johannes Schreyer und Richard Stöhr zu denken; Wilhelm Malers von Notenbeispielen aus der Literatur ausgehender Beitrag zur Harmonielehre erschien 1931.

12

Vgl. Erpf 1927, Inhaltsverzeichnis, IV f.

13

Weigl 1925, V.

14

Ebd., VII f.

15

Vgl. ebd., 274–289.

16

Vgl. ebd., 370–372 und 372–407.

17

Zur Datierung von Schönbergs ersten Berichten über seine neue Methode vgl. Hamao 2011.

18

Stuckenschmidt 1920, 335. In eine ähnliche Richtung zielt Schönberg: »Anscheinend, und wahrscheinlich wird das immer deutlicher werden, wenden wir uns einer neuen Epoche des polyphonen Stils zu, und wie in den früheren Epochen werden die Zusammenklänge Ergebnis der Stimmführung sein: Rechtfertigung durchs Melodische allein!«, Schönberg 1922, 466.

19

Ebd., 334.

20

Wetzel 2019, 387.

21

Vgl. Toch 1923, III. Mit seinem expliziten Hinweis auf das Entstehungsdatum versucht sich Toch auch von Ernst Kurths Grundlagen des linearen Kontrapunkts (Kurth 1920) abzusetzen.

22

Ebd., 8.

23

Ebd., 2. Vgl. dazu aber unten die konträre Ansicht von Ernst Kurth, der zwischen musikalischem und äußerem Raum strikt unterscheidet (vgl. Kurth 1931, 116–136).

24

Vgl. Toch 1923, 4–6.

25

Vgl. ebd., 36.

26

Kurth 1922, XIX.

27

Ebd.

28

Ebd., 18.

29

Ebd.

30

Kurth 1931, 117.

31

Für eine tiefergehende Analyse von Tochs Konzept der Melodielehre vgl. Polth 2007.

32

Riemann 1900, 30 f.

33

Riemann 1922, 29.

34

»Das ›Hören‹ Riemanns ist das ›Musikerleben‹«, Becking 1918/19, 591.

35

Ebd., 591. Becking konzediert, dass sich Riemann zeitlebens mit dem Aspekt des hörenden Erfassens von Musik beschäftigt habe, sieht aber beim späten Riemann eine weitere qualitative Aufwertung dieser Fragen.

36

Ebd., 594.

37

Ebd., 588.

38

Ebd., 592 f.

39

Vgl. ebd., 593; vgl. dazu Riemanns Analyse in Riemann 1920, 395–405 und die neue Diskussion in Burnham 2014.

40

Becking 1918/19, 598.

41

Becking 1928, 9.

42

Ebd.

43

Vgl. die »Historische Tabelle der Schlagfiguren« ebd., 216 f. Sievers hat Beckings Ansatz seinerseits aufgenommen und für die Charakterisierung klanglicher Verläufe weitere sogenannte »Becking-Kurven« entwickelt.

44

Vgl. beispielsweise zur kontrastierenden Personalkurve Beethovens und Mozarts ebd., 38.

45

Ergänzend sei angemerkt, dass Becking diese musikalischen Merkmale auch geistesgeschichtlich interpretierte und eine Typologie der Haltung des »›Komponisten‹ zum ›Gegebenen‹«, des »›Ich‹ zur ›Welt‹« und des »›Geistes‹ zur ›Natur‹« (ebd., 72 f) entwarf.

46

Grundsätzlich zur wissensgeschichtlichen Bedeutung Hermann von Helmholtz’ vgl. Kursell 2018; zum Begriff »Diskursivitätsbegründer« ebd., 303.

47

Vgl. dazu grundlegend Hui 2013.

48

Die Auseinandersetzung mit Formen des Hörens schlägt sich auch in der musikgeschichtlichen Betrachtungsweise nieder. Heinrich Besseler (Besseler 1926) vertrat bereits in den 1920er Jahren die These, dass »aktive« und »passive« Formen des Hörens gebunden seien an historisch wechselnde, charakteristische gesellschaftliche Rezeptionsformen von Musik, die – wie sein Gegensatzpaar »Umgangsmusik« und »Darbietungsmusik« zeigt – auch auf die Musik selbst Einfluss nähmen. Hörweisen könnten somit auch als Kategorien für musikgeschichtliche Gliederung herangezogen werden.

49

Hornbostel 1925, 296.

50

Ebd.

51

Ebd.

52

Zur Illustration vgl. etwa https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kaninchen_und_Ente.png (12.12.2021).

53

Vgl. dazu Wörner 2008; zum ideengeschichtlichen Einfluss der Gestalttheorie vgl. Ash 1995.

54

Für einen Überblick über die Entwicklung der Raumkonzeption in der Musikwissenschaft vgl. Noeske 2013.

55

Vgl. für eine detaillierte und kritische Darstellung aller unter dem Stichwort ›musikalische Phänomenologie‹ entwickelten Konzepte Steege 2021.

56

Bekker 1925, 31.

57

Vgl. ebd., 17–29.

58

Ebd., 18 f.

59

Schäfke 1964, 394.

60

Kurth 1931, 1.

61

Ebd., 11.

62

Ebd., 11 f.

63

Ebd., 51.

64

Ebd., 47.

65

Ebd.

66

Ebd., 47 f., Anm. 2.

67

Kurth 1931, 47.

68

Vgl. ebd., 76.

69

Ebd., 116. Zur Konzeption des musikalischen Hörens bei Kurth vgl. Wörner 2014.

70

Vgl. Kurth 1931, 119.

71

Ebd., 127.

72

Ebd., 134–136.

73

Ebd., 258.

74

Vgl. Schenker 1924, 49.

75

Ebd.

76

Ebd., 50.

77

Vgl. Schenker 1922. Autoren, die nach Schenkers Verständnis diese Aufgabe nicht erfüllen, werden auch dementsprechend angegangen: So wird Riemann als »Ohrfinsterling« abgekanzelt (ebd., 24).

78

Schenker 1925, 95.

79

Vgl. Schering 1930. Bei Schering handelt es sich um einen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hochgeschätzten Musikwissenschaftler, der noch in den 1920er Jahren zu den einflussreichsten Fachvertretern im deutschsprachigen Raum zu zählen ist. Erst durch seine Beethoven-Interpretationen (Beethoven und die Dichtung, 1936) geriet er aufgrund seiner methodologisch unfundierten und geradezu abenteuerlichen Beethoven-Deutungen ins Abseits; heute gilt Schering zudem aufgrund seiner Verstrickungen in den Nationalsozialismus als problematisch.

80

Zit. nach Mersmann 1935, 34.

81

Ebd., 34 f.

82

Ebd., 45–47.

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