Bockmaier, Claus (2021), »Stefan Gasch (Hg.), Ästhetik der Innerlichkeit. Max Reger und das Lied um 1900 (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, Bd. 48), Wien: Hollitzer 2018«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 18/1, 201–204. https://doi.org/10.31751/1115
eingereicht / submitted: 04/06/2021
angenommen / accepted: 04/06/2021
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 28/06/2021
zuletzt geändert / last updated: 19/06/2021

Stefan Gasch (Hg.), Ästhetik der Innerlichkeit. Max Reger und das Lied um 1900 (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, Bd. 48), Wien: Hollitzer 2018

Claus Bockmaier

Schlagworte/Keywords: Innerlichkeit; inwardness; Jahrhundertwende; Lied; Max Reger; song; turn of the century

Der mit zahlreichen Noten-Abbildungen, einem umfangreichen Personen- und Werkregister (303‒317) sowie mit einigen Schwarz-Weiß-Fotos von Gemälden und Jugendstil-Interieurs (275‒290) ausgestattete Band ‒ um zunächst das Äußere zu würdigen ‒ ist in der formalen Einrichtung der Texte und des Layouts hervorragend umgesetzt. Zwei Texte, von Julian Johnson und Lisa Smit, sind englischsprachig. Inhaltlich beziehen sich die insgesamt 13 Aufsatz-Beiträge, die auf die thematische Einführung des Herausgebers Stefan Gasch folgen, in je engerem oder weiterem Radius auf die Frage der ›Innerlichkeit‹ in der Liedkomposition der Jahrhundertwendenmoderne um 1900. Damit rücken die auch krisenhaften Entwicklungen in Musik, Kunst und Gesellschaft dieser Zeit im Allgemeinen wie das neue Verständnis von Lyrik und die sich spezifisch differenzierenden Vertonungsrelationen von Dichtung und Musik im Besonderen ins Bild.

Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen Lieder Max Regers, denen Liedkompositionen der Zeitgenossen Gustav Mahler, Hugo Wolf, Ludwig Thuille, Conrad Ansorge, Richard Strauss, Alexander Zemlinsky, Franz Schreker, Anton Webern und Alban Berg gegenübergestellt und mit denen sie im Fall von Parallelvertonungen konkret verglichen werden. Als Textdichter kommen vor allem Gustav Falke, Richard Dehmel, Stefan George, Otto Julius Bierbaum, Martin Boelitz, aber als ›Vergangenheitsvertreter‹ auch Friedrich Rückert und Eduard Mörike in den Blick. Der Beitrag des Literaturwissenschaftlers Bernd Zegowitz befasst sich explizit mit Bierbaum als Lyriker im Verhältnis zu anderen Dichtern der Zeit (85‒98). Reger vertont Bierbaums Poesie ‒ einer meist beglückenden Natur- und Liebeserfahrung ‒ allerdings unter teilweise auffälligen Eingriffen in die Texte, die latente Auflösungstendenzen dichterischen Regelmaßes verstärken (97). Eine besondere Kontextualisierung unternimmt der den Band beschließende kunstwissenschaftliche Aufsatz von Lisa Smit (273‒291): Sie stellt unter den Gesichtspunkten »L’art pour l’art« und »Gesamtkunstwerk« faszinierende Wechselwirkungen und -impulse von Bildenden Künsten und Musik dar, so am Beispiel von Böcklins Toteninsel, Kandinskys Impression III (Konzert), Fernand Khnopffs »Schumann-Hörerin« sowie auch der bildnerisch gestalteten Musiksalons des Wiener Palais Dumba und der Münchner Stuck-Villa, ferner der illustrierten Notenabbildungen in der Wiener Sezessionisten-Zeitschrift Ver Sacrum. Die meisten musikwissenschaftlichen Beiträge enthalten teilweise minutiöse Werkanalysen, mit denen die ästhetischen Fragen am Detail des poetisch-musikalischen Satzes offengelegt werden. Die Erwartung einer breitgefächerten wie tiefgehenden Darstellung gemäß dem Verweis des Titels auf »Reger und das Lied um 1900« löst der Band im Ganzen somit durchaus ein.

In seiner »Annäherung« an das Thema (7‒15) hebt Stefan Gasch auf die Bedeutung neu eröffneter Tiefendimensionen in der Wechselbeziehung von »Text, Musik und Stimme« musikalischer Lyrik der Jahrhundertwendenzeit ab (8). Das Klavierlied lotet dabei in besonderer Weise Selbstreflexion aus. Als Erschließungskonzept verspricht die Untersuchung des bisher eher vernachlässigten Liedschaffens von Reger im Kontext zeitgenössischer Liedkomposition gerade in der Gegenüberstellung mit München und Wien Gewinn (12). Das bestimmende Phänomen der ›Innerlichkeit‹ wird am deutlichsten in den Beiträgen von Julian Johnson, Anne Holzmüller, Elisabeth Schmierer, Jürgen Schaarwächter und Thomas Ahrend konkretisiert, wiewohl aus verschiedenen Perspektiven. Johnson (17‒37) setzt beim Stimmungsbegriff Alois Riegls an und bringt damit Mahlers Rückert-Vertonung Ich bin der Welt abhanden gekommen in Verbindung. Den möglichen Spalt zwischen Worten und Musik macht er dann bei den George-Liedern op. 3 Anton Weberns insbesondere an einem neuen, emotionalisierten Präsenz-Absenz-Verhältnis bezüglich der Liedinhalte fest. Ausgehend von der Bedeutung des Sprachklangs im liedästhetischen Wandel um 1900, beleuchtet Anne Holzmüller (57‒84) die Vertonungen Hugo Wolfs und Regers von Mörikes »In der Frühe«. Die ausgezeichnete Gedichtanalyse eröffnet hier eine erstaunliche Geschichtstiefe, und zwar der evangelischen Morgenlied-Tradition, die Mörikes Gedicht auffällig mit Philipp Nicolais »Wie schön leuchtet der Morgenstern« (1597) verknüpft, wobei zugleich eine Öffnung des ursprünglichen Glaubensbezugs stattfindet, die wiederum unterschiedlich interpretiert werden kann (66 f.). Regers Vertonung lässt Wolf’schen Einfluss erkennen, setzt aber neue Ausdrucksspitzen (76 f.). Das in musikalischen Klang verwandelte psychische Selbstempfinden verbindet Reger mit Arnold Schönbergs ästhetischem Wert der ›Innerlichkeit‹ (81) – der auf literarischer Ebene vor allem durch Dehmel vermittelt worden ist. Der ins Deutsche übertragene, vom Naturalistischen abrückende Symbolismus gerade bei Dehmel ist sodann wesentlicher Bezugspunkt für Elisabeth Schmierers Beitrag über Conrad Ansorge (137‒154): Im Vergleich seiner Vertonung von Dehmels »Helle Nacht« nach Verlaines »La lune blanche« mit der Regers und Weberns zeigen sich Facetten der neuen Ästhetik auf verschiedenen musikalischen Stufen; überhaupt können die Lieder von Ansorge bereits als »Bindeglied zum Expressionismus« gesehen werden (154). Jürgen Schaarwächter richtet den Blick auf Regers Geistliche Lieder op. 137 von 1914 (179‒196), die unter dem Eindruck des sich anbahnenden Kriegsschreckens in schlichtem Satz einer eigenen ›Innerlichkeit‹, nämlich gläubiger Emotionalität, Ausdruck geben, und dies im Zusammenhang auch bewusster Kriegsandachten und Fürsorge-Initiativen (186). An Weberns frühem Lied Fromm (1902) demonstriert Thomas Ahrend Wirkungen der Stimmungsästhetik, auch wiederum von Riegl her, die aber hier im Sinn einer musikalisch erzeugten Fernsicht über bloße Natur- und Gefühlsillustrationen hinausgehen (212); Regers wenig ältere Vertonung (1901) des gleichen Gedichts von Falke offenbart indes gegenüber Weberns gleichsam verräumlichender Umsetzung eine andere Konzeption, indem sie entlang des Textes »wie unter einem Mikroskop« das Subjektiv-Innere »dramatisch-narrativ« mitvollzieht (215).

Noch drei weitere Aufsätze befassen sich mit Jugendliedern. Diejenigen Regers von 1889 bis 1891, dreizehn an der Zahl, untersucht Stefan König (39‒56): zum einen unter dem Gesichtspunkt des Einflusses von Hugo Riemann auf seinen damaligen Schüler, zum andern im Hinblick auf die angesichts der komplexen Verhältnisse von Arbeitsmanuskripten, frühen Abschriften, Doppelquellen wie auch des Schreibprozesses und der Fehlerkorrekturen sich stellenden editorischen Fragen. Was Reger von Riemann bei der Liedkomposition etwa an satztechnischer Konzentration lernte (48), konnte freilich die bezeichnende »Komplikation der Faktur« in seinen Werken nicht aufhalten und somit auch die später zunehmende Kritik seines vormaligen Lehrers nicht verhindern (56). Die frühen Lieder von Franz Schreker fasst Daniel Tiemeyer ins Auge (253‒271) ‒ überhaupt sind die meisten Lieder des Komponisten schon bis um 1900 entstanden (270 f., Tabelle) ‒, und der Autor bezieht sich dabei besonders auf die Aspekte Harmonik, Ornamentik, Gestik, die hier in assoziativer Relation zum Gedicht etwa spezifische klangatmosphärische Wirkungen erzeugen (256‒258); in dieser Hinsicht deuten sich bereits Tendenzen der Opernkomposition Schrekers an (269). Ingrid Schraffls Thema sind die Jugendlieder von Alban Berg, entstanden zwischen 1901 und 1904 in seiner noch autodidaktischen Phase, vor dem Unterricht bei Schönberg (217‒231). Sie sind zunächst gekennzeichnet durch zum Teil spannungsbildende, quasi orchestrale Tremolo-Effekte (222 f.), gegebenenfalls auch durch Tonmalereien und starke Gestik; im Weiteren aber zeigen sie eine Vielfalt an Gestaltungsformen (226). Erkennbar ist Bergs Wille, aus der Stimmung von Gedichten heraus zu komponieren, wobei er dunkel-schmerzliche bis thanatospoetische Vorlagen auffällig bevorzugte (229).

München, Ludwig Thuille als Hauptrepräsentant der ›Münchner Schule‹ und seine enge Beziehung zu Richard Strauss werden im längsten Beitrag des Bands von Bernd Edelmann umfänglich in den Blick genommen (99‒136). Die Studie beginnt mit einer Nachzeichnung und Kommentierung jener Korrektur- und Verbesserungsvorschläge, die Strauss zu frühen Liedern Thuilles ‒ vor deren Publikation 1888 als op. 4 ‒ unternommen hat. Die Doppelvertonung von Hermann Gilms »Die Nacht« der zwei Komponisten offenbart, trotz beiderseitiger Bezüge auf Schumann, unterschiedliche Tendenzen: komponierte Instabilität in abgeklärter Haltung bei Strauss (120, 126), bedrohliche Dunkelheit und opernhafte Schlussdramatisierung bei Thuille, dessen Vertonung zudem eine gewisse Wirkungsresonanz von Schuberts Nacht und Träume ahnen lässt (124). Bierbaums »Devotionale« zeigt in Thuilles Komposition Brahms-ähnliche Satzmuster und spricht für die personalstilistisch typische Deklamationskunst (129). Abrundend wird am Ende dieses Aufsatzes das ästhetische Moment der ›Innerlichkeit‹ noch an dem Bezugspunkt beleuchtet, der sich im Umkreis Münchner Dichter und Literaten, so bei Moritz Carrière, finden lässt. Mit den Liedern Alexander Zemlinskys aus dessen Wiener Zeit bis nach der Jahrhundertwende befasst sich Frederico Celestini (233‒251). Die implizierte Ästhetik veranschaulicht er unter anderem an parallelen Vertonungen von Thuille und Reger; in der Komposition von Otto Gensichens »Gruß« zeigt sich aber gerade Regers eigener Weg an seiner bekannten »Neigung zu musikalischer Prosa« wie an der »Dichte der Textur« (236). Bei Zemlinsky fällt die Hinwendung zur literarischen Moderne ab op. 7 auf (1901 publiziert): mit der Vertonung symbolistischer Gedichte, nicht zuletzt von Dehmel, aber auch in der Verbindung zu dem Berliner Kabarett Überbrettl im ideellen Rahmen des Jugendstils (243). Dabei bleibt der Klavierliedsatz verhältnismäßig einfach, mit erkennbaren Bezügen zu Mahler etwa in der Variantentechnik, wie sie Zemlinsky kompositorisch bei den als dichterische Vorlagen bevorzugten Balladen häufig angewandt hat. Aus der inhaltlichen Grundrichtung des Bands schert Susanne Popp insofern bewusst aus, als sie dem Sonderthema »Künstlerproblematik und Sozialkritik« im vokalkompositorischen Spiegel Regers auf den Grund geht (155‒178), sei es in den Liedern auf »trotzige« Texte von Boelitz (155 f.) oder auf solche von Falke, mit dem er im gemeinsamen Kampf gegen die Bildungspedanterie verbunden war (164‒171). Die entsprechenden Stücke knüpfen an den Zusammenhang einer ‒ hier aufschlussreich mit behandelten ‒ literarischen Tradition an, in der die geistlosen »Philister« und die hintersinnigen »Narren« in ihrem quasi komplementären Verhältnis zur Kunst auftreten (159). Regers diesbezügliche musikalische Illustrationen reichen von humoresk bis grotesk, was sich auch mit seiner privaten Neigung zum »Possenreißen« berühren mag (164).

Dass der Sammelband im Ganzen keine ›systematische‹ Erschließung des Phänomens der ›Innerlichkeit‹ in der Liedkomposition der Jahrhundertwendenmoderne liefern kann, bei der alle betreffenden Komponisten und ihre Werke vollständig im Querschnitt der bestimmbaren Kon- und Divergenzen erfasst würden, liegt auf der Hand. Doch zeigt sich in der Summe der Beiträge gerade der Facettenreichtum musikalischer Lyrik um 1900 im Verhältnis von Sprache und Musik, von geschichtlich-biographischen Kontexten und ästhetischen Konzepten in eindrucksvoller Deutlichkeit. Eine Frage, die freilich im Anschluss gestellt werden könnte, betrifft die Auffassungsfähigkeit der zeitgenössischen ‒ wie auch der heutigen ‒ Hörerinnen und Hörer im Hinblick auf die dichten musikwissenschaftlich aufgewiesenen Detailbefunde. Wie viel lässt sich bei einem auf wenige Minuten Dauer konzentrierten Liedvortrag an innerer Substanz der Komposition überhaupt mitvollziehen, selbst wenn man die je zugrundliegende Dichtung bereits kennt und mit den gegebenen Möglichkeiten musikalischer Realisierung vertraut ist? In welchem Verhältnis steht das unmittelbar zu Hörende, mithin das mögliche Aufführungserlebnis zur kognitiv-reflexiven Interpretation des Notentextes? Wie viel und welcher Art wissenschaftliche Ergründung brauchen wir, um solche Musik zu ›verstehen‹? ‒ Diese Rezeptionsüberlegungen werfen hermeneutische Grundfragen auf, die auch zu dem hier Thematisierten wiederum eine ganz eigene Forschungsperspektive öffnen könnten.

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