Menke, Johannes (2020), »Corelli empfängt Lully. Über eine virtuelle Begegnung bei François Couperin« [Corelli welcomes Lully. About a Virtual Meeting with François Couperin], Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 17/2, 95–113. https://doi.org/10.31751/1063
eingereicht / submitted: 01/08/2020
angenommen / accepted: 02/08/2020
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 23/12/2020
zuletzt geändert / last updated: 27/01/2021

Corelli empfängt Lully

Über eine virtuelle Begegnung bei François Couperin[1]

Johannes Menke

Der Beitrag untersucht zwei Sätze aus François Couperins Apothéose de Lully (1725) in kompositionstechnischer und semantischer Hinsicht: Im Accüeil empfängt Corelli, der von Couperin bewunderte Meister des italienischen Stils, seinen französischen Kollegen Lully auf dem Parnass. Dieser bedankt sich mit einem Remerciment beim Gott Apollo. In beiden Sätzen stellt Couperin den italienischen und französischen Stil recht unvermittelt einander gegenüber, bevor er in den darauffolgenden Sätzen eine Synthese zu erlangen sucht. Der Autor versucht in diesem Artikel, einige kompositionstechnische Aspekte, die Couperin als Chiffren der Nationalstile einsetzt, analytisch zu erfassen.

This article examines two movements from François Couperin’s Apothéose de Lully (1725) from the point of view of compositional technique and semantics. In the Accüeil, Corelli, the master of the Italian style admired by Couperin, receives his French colleague Lully in Parnassus. Lully thanks the god Apollo with a Remerciment. In both movements, Couperin juxtaposes the Italian and French styles quite abruptly before attempting to achieve a synthesis in the following movements. In this article, the author analyzes some compositional aspects which Couperin uses as cyphers of the national styles.

Schlagworte/Keywords: Analyse; analysis; Arcangelo Corelli; Barockmusik; baroque music; François Couperin; Französische Musik; french music; models; Satzmodelle; trio sonata; Triosonate

Zwei Nationalstile, ihre Vereinigung und die vollkommene Musik

Im Folgenden wird die antagonistisch verstandene Differenz zwischen dem italienischen und französischen Stil im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert unter dem Blickwinkel von Satzmodellen, die den Kontrapunkt und die Harmonik prägen, beispielhaft untersucht.[2] Im Zentrum stehen dabei zwei Sätze aus François Couperins Apothéose de Lully. Die folgenden einleitenden Bemerkungen umkreisen das Thema zunächst aus der historischen Vogelperspektive, um sich dann Couperin zuzuwenden.

Mit der Regierungsübernahme durch Louis XIV. im Jahr 1661 begann eine Phase der französischen Musikgeschichte, die von der gewollten Entwicklung einer eigenständigen nationalen Musiksprache geprägt war.[3] Dies betraf nahezu alle Bereiche: Instrumentenbau (die violons, Oboen, Cembali etc.), Gattungen (wie die tragédie lyrique bzw. tragédie en musique in der Oper, den petit und grand motet in der Sakralmusik oder die besondere Entwicklung der Clavecinmusik), Spielweisen (wie die allseits bekannten notes inégales), exakt notierte Verzierungen (agréments), Besetzungen (der französische fünfstimmige Orchestersatz mit seiner ausdifferenzierten Streicherfamilie) und nicht zuletzt Eigenheiten des Kontrapunkts und der Harmonik.[4] Ein Migrant, der gebürtige Florentiner Giovanni Battista Lulli, wurde als Wahlfranzose mit angepasstem Namen zum Hauptprotagonisten des neuen nationalen Stils,[5] der dem bis dahin dominierenden italienischen Stil entgegengesetzt wurde. Die ästhetischen Debatten kurz nach 1700, wie der bekannte Disput zwischen François Raguenet und Jean-Laurent Le Cerf de la Viéville,[6] legen Zeugnis davon ab, wie sehr sich die Fronten in der Auseinandersetzung um die Nationalstile verhärtet hatten. Nach dem Tod des Sonnenkönigs im Jahr 1715 änderten sich die Vorzeichen: Der neue (Interims)Regent Philippe II. von Orléans (bis 1723), selbst als Komponist aktiv, war ein Freund und Förderer italienischer Musik,[7] und unter Louis XV. vollzog sich dann ein Generationenwechsel: Michel-Richard Delalande starb 1726, Marin Marais 1728, François Couperin 1733. Neben den verbliebenen Großmeistern André Campra (1660–1744) oder Jean-Féry Rebel (1666–1747) läutet der bisherige Außenseiter Jean-Philippe Rameau mit der 1733 uraufgeführten Oper Hippolyte et Aricie ein neues Kapitel ein, um später anlässlich der von Rousseau und den Enzyklopädisten befeuerten Querelle des Bouffons (dem Buffonistenstreit) in eine neue Auseinandersetzung mit der aktuellen italienischen Musiksprache zu geraten.

Immer wieder waren es Arcangelo Corelli und Jean-Baptiste Lully, die nach 1700 als klassische Vertreter der Nationalstile gehandelt wurden: bereits in den Schriften Raguenets und dann ganz pointiert in den Apotheosen Couperins von 1724/25, oder auch im 1728 publizierten Second livre de pièces de clavecin von Jean-François Dandrieu. Komponisten wie Dandrieu oder Couperin freilich waren nicht an einer Opposition, sondern an einer Synthese interessiert: Im Vorwort zu den Concerts Les goûts réünis (1724) räumt Couperin der italienischen Musik dabei das Vorrecht ein, die ältere zu sein; er spricht von ihrer »ancienneté«,[8] was angesichts des schon älteren Literaturstreits der Querelle des Anciens et des Modernes eine argumentativ nützliche Nebenbedeutung gehabt haben könnte: Wurde die italienische Musik als die ältere angesehen, so war sie dem Modell der Antike vergleichbar. Im Umkehrschluss musste die französische Musik als die neuere, salopp gesagt, ›modernere‹ gelten.[9]

François Couperin begeisterte sich schon früh für den italienischen Stil, den für ihn hauptsächlich die Triosonaten Corellis repräsentierten. Man könnte, wie Philippe Beaussant, von einer Art Jugendliebe sprechen, aus der eine lebenslange Leidenschaft wurde.[10] Seine in den 1690er Jahren entstandenen Triosonaten arbeitete er Jahrzehnte später um und erweiterte sie zu dem 1726 erschienenen Zyklus Les Nations. In dessen Vorwort rühmt er sich, einst – und sogar unter italienischem Pseudonym[11] – die ersten französischen Triosonaten geschrieben zu haben. Womöglich war Corelli für den jungen Couperin auch ein Vorbild dafür, dass man als Komponist von Instrumentalmusik zu Ruhm gelangen konnte. Corellis Triosonaten erregten überall Aufsehen, so auch in Frankreich:[12] Michel Corrette berichtet rückblickend, in den ersten von Abbé Mathieu ausgerichteten Aufführungen in Frankreich seien sie als ein »genre nouveau« wahrgenommen und allenthalben nachgeahmt worden.[13] Als 1725 im Pariser Tuilerienpalast das erste Konzert der neuen Reihe der Concerts spirituels stattfand, spielte man Delalande und Corelli.[14]

Auch die Bedeutung Lullys war unstrittig: Er machte sich zwar zu Lebzeiten durch strategisches Agieren und eine förmliche Monopolpolitik nicht nur Freunde, galt aber nach seinem Tod im Jahr 1687 als unangefochtener Klassiker. Seine Opern wurden weiterhin gespielt und seine bekanntesten Stücke kursierten in Bearbeitungen (wie denen von Jean-Henri D’Anglebert). Vor der Apothéose ist Couperins größte Hommage an Lully vermutlich das Huitième Concert aus den Concerts Les Goûts-réünis (1724) mit dem Untertitel »dans le goût Théatral«. Hier greift er auf von Lully geprägte Instrumentalstücke der französischen Oper zurück wie die »Ouverture«, die »Ritournéle« und den »Air«.[15] Zwar wird der Name Lullys nicht genannt, doch ist dessen Stellung dermaßen konkurrenzlos, dass man an kein anderes Werk als dasjenige Lullys als Referenz denken konnte. Der Titel der Sammlung, Les Goûts-réünis, spielt selbstredend auf die Vereinigung des französischen und italienischen Geschmacks an, die, wie im Vorwort konstatiert wird, die »République de la Musique« bislang unter sich aufgeteilt hätten. Am Ende steht eine große Triosonate (Grande Sonade, en Trio), betitelt mit Le Parnasse, ou l’Apothéose de Corelli. Couperin krönt seine Publikation also mit einer Vergöttlichung ausgerechnet des italienischen Meisters. Als hätte er bereits mit dem Unmut mancher Teile des Publikums gerechnet, kündigte er schon im Vorwort an, eines Tages auch den Lully entsprechend würdigen zu wollen,[16] und löst dieses Versprechen ein Jahr später dann auch ein. Die Publikation[17] trägt einen etwas komplizierten Titel: Concert instrumental sous le titre d’Apotheose, composé à la mémoire immortelle de l’incomparable Monsieur de Lully (»Instrumentalkonzert unter dem Titel Apotheose, komponiert zum unsterblichen Andenken an den unvergleichlichen Herrn Lully«). Kompositorisch gesehen, handelt es sich dabei ebenfalls um Triosätze (nur der erste Satz unterscheidet eine »Basse d’archet« und eine »Basse continuë«), die jedoch, wie im Vorwort empfohlen wird, mit zwei Cembali aufgeführt werden können.[18] Beide Apotheosen haben ein Programm: In den Titeln der einzelnen Sätze werden imaginäre Szenen vorgestellt, die insbesondere in der Apothéose de Lully für das Verständnis der Musik außerordentlich hilfreich sind. Hier nämlich treten die beiden Protagonisten Corelli und Lully regelrecht auf, mitunter sogar mit subtiler Komik, was Philippe Beaussant dazu bewogen hat, dieses Stück als eine »petite comédie« zu bezeichnen.[19] Nachdem Lully von Apollo höchstpersönlich abgeholt worden ist (bei Corelli waren es ›nur‹ die Musen), empfangen ihn Corelli und die italienischen Musen in Form eines Largo, das überdeutlich das Corelli’sche Idiom heraufbeschwört: Accüeil entre-Doux, et-Agard, fait à Lulli par Corelli, et par les muses italiènes. Anschließend bedankt sich Lully – bei Apollo: Remerciment de Lulli: à Apollon (vgl. Beispiel 12 am Ende).

Nirgends sonst treffen die beiden Nationalstile und ihre Vertreter so unvermittelt aufeinander wie in diesen beiden Sätzen. Dass Corelli, der in Wirklichkeit immerhin 26 Jahre nach Lully gestorben ist, den über 20 Jahre älteren Kollegen empfängt und nicht andersherum, könnte durchaus stutzig machen. Ein praktischer Grund mag darin liegen, dass Couperin an die bereits publizierte Apothéose de Corelli anknüpfen wollte. Bedenkt man ferner, dass Couperin, wie oben erwähnt, von einer »ancienneté« der italienischen Musik ausgeht, ergibt die aus biographischer Sicht falsche Reihenfolge durchaus Sinn: Corelli steht für die ältere Musiksprache. Der »Empfang« (Accüeil) vonseiten Corellis wird im Titel als »entre-Doux, et-Agard« beschrieben, was schwer zu übersetzen ist, u. a. weil sich die Bedeutung von »hagard« gewandelt hat: man könnte sowohl mit »halb freundlich, halb scheu«, aber auch mit »einerseits zuvorkommend, andererseits barsch« übersetzen.[20] Lullys Dank richtet sich an Apollo, nicht an Corelli – noch haben die beiden nicht zueinander gefunden. Erst im nächsten Satz (Essai en forme d’Ouverture) wird Apollo die beiden Matadore davon überzeugen, dass eine Vereinigung des französischen und italienischen Stils eine Vollkommenheit der Musik herbeiführen könne (»Que la réünion des Goûts François et Italien doit faire la perfection de la Musique«).[21]

Corellis freundlicher, aber etwas barscher Empfang

In der Musik des Accüeil greift Couperin auf eine Vielzahl von Merkmalen eines ersten Satzes einer Triosonate von Corelli zurück. Dies fängt schon rein äußerlich mit der Notation an: er benutzt die italienischen Violinschlüssel (mit dem Hinweis »clefs changées«) und die italienischen Zeichen für Verzierungen. Doch vor allem das Klangbild evoziert sofort das italienische Vorbild der Triosonate. Gewöhnlich unterscheidet man die sonata da chiesa (in der Regel vier Sätze mit der idealtypischen Abfolge Grave – Allegro – Largo – Allegro, wobei mit ›Allegro‹ fugierte Sätze gemeint sind) und die sonata da camera (Preludio und anschließende Tanzsätze), Couperin jedoch mischt beide Formen gerne. Corelli machte von dieser Nomenklatur in seinen Titeln zwar nur einmal Gebrauch (in op. 2), jedoch lassen sich seine Publikationen klar zuordnen: op. 1 und op. 3 sind sonate da chiesa, op. 2 und op. 4 sonate da camera. Trotz dieses Unterschieds ähneln die Eröffnungssätze (preludio) der Kammersonaten denen der Kirchensonaten zuweilen sehr.

Als typisches corellisches Satzmuster können durchgehende Achtelbässe mit darüber liegenden langgezogenen Melodien gelten, die sich früher oder später in dissonanten Syncopationen aneinander reiben. Auch wenn die rhythmisch differenzierte und dazu noch mit Punktierungen ausgestattete Gestaltung der Oberstimmen des Accüeil als französisches Charakteristikum gelten darf, evoziert der Duktus im Ganzen diesen Satztopos. Corelli selbst hat dieses Muster zum ersten Mal im Eröffnungssatz von op. 1/12 und danach immer wieder verwendet. Couperin greift auch im Eingangssatz der Apothéose de Corelli darauf zurück. Das zugrundeliegende Muster auf der ersten Halben, also der allererste Beginn, lässt sich so gut abstrahieren, dass in gewissem Sinne von einem Satzmodell gesprochen werden kann: Eine Drehfigur im Bass, die zur Terz des Grundakkords schreitet, und zwei Liegestimmen mit Quintlage in der obersten Stimme (Beispiel 1).

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Beispiel 1: Der protypische ›Corelli‹-Anfang (Mittelstimme optional)

Während in der Apothéose de Corelli dieses Modell eingebettet wird in eine absteigende Basslinie, erfolgt im Accüeil ein Schritt in die IV. Stufe und zurück. Das folgende Beispiel zeigt die Satzstruktur, der besseren Anschaulichkeit halber ohne Couperins subtile Diminutionen (Beispiel 2).

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Beispiel 2: Beginn des Accüeil in einer vereinfachten Fassung

Es lassen sich folgende satztechnische Merkmale benennen:

a) Harmonik nach dem Muster I–IV–I

b) Achtel-Drehfigur im Bass

c) Terz-Quint-Folge in den Außenstimmen

d) Nonvorhalte,[22] die durch eine Stimmkreuzung erzeugt werden

e) Molltonart (dorisch notiert)

Ein Vorbild, bei dem diese Merkmale genau so zusammenkommen, lässt sich bei Corelli meines Wissens nicht finden. Sucht man etwa nach Sätzen, die ebenfalls mit der Harmoniefolge I–IV–I/i‒iv‒i beginnen, so ergeben sich Unterschiede bezüglich der anderen Eigenschaften:

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Tabelle 1: Synopse von Satzeröffnungen mit der Harmoniefolge I–IV–I/i–iv–i

Die größte Ähnlichkeit hat damit der Mittelsatz aus dem Concerto grosso op. 6/2,[23] wo aber ausgerechnet der ansonsten obligatorische Terz-Quint-Außenstimmensatz fehlt. Somit gelingt es Couperin schon auf struktureller Ebene, ein typisches Muster anklingen zu lassen, ohne Corelli einfach zu kopieren. Die Detailgestaltung der Stimmen weist zahlreiche weitere nicht-corellische Momente auf.

Auch die Weiterführung dieses exponierten Materials folgt italienischen Bahnen: Couperin überführt sein i‒iv‒i-Pendel in ein absteigendes Basstetrachord, das in eine Kadenz mit Tenorklausel im Bass und 7–6-Vorhalt mündet, die in Italien als »cadenza di grado« und von Georg Muffat als »cadentia minima ordinaria« bezeichnet wurde.[24] Die komplette fünftaktige Phrase wird nach einer Pause mit einer kleinen Modifikation in die Tonart der Durparallele, also nach B-Dur, transponiert wiederholt. Dieses in seiner Plastizität und seinem Farbreichtum sehr wirkungsvolle formale Vorgehen, hat seine Wurzeln in der italienischen Triosonatentradition auch schon vor Corelli. Florian Edler, der den Dur-Moll-Kontrast in der italienischen Triosonate eingehend untersucht hat, spricht vom »Moll-Dur-Kontrast« oder der »Moll-Dur-Transposition«.[25] Im ersten Satz seiner frühen Triosonate L’Astrée aus den 1690er Jahren, der 1728 in Les Nations als La Piemontoise fast unverändert übernommen wurde, hatte Couperin bereits auf dieses formale Modell zurückgegriffen (Beispiel 3):

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Beispiel 3: François Couperin, Moll-Dur-Transposition in L’Astrée, Notation modernisiert

In der Tat ähnelt diese Anlage ihren italienischen Vorbildern sehr. Bestimmte melodische und harmonische Nuancen aber verraten den französischen Komponisten, vor allem die damals in Frankreich notorische Vorliebe für die quinte superflue (die übermäßige Quinte, in T. 6).

Im Accüeil kommt Couperin seinem römischen Idol womöglich näher, weil er dergleichen accompagnements extraordinaires[26] (zumindest hier am Anfang) vermeidet und dafür stärker auf dissonante Syncopationen setzt (vgl. Beispiel 4).

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Beispiel 4: François Couperin, Accüeil, Moll-Dur-Transposition, Gerüstsatz

Selbstverständlich gehen in einer solchen, wie im Beispiel 4 vorgenommenen Reduktion auf einen kontrapunktischen Gerüstsatz viele Momente verloren, die ganz wesentlich den Reiz der couperinschen Musik ausmachen. Allerdings macht die Reduktion die zugrundeliegende Konstruktion deutlicher und erleichtert den Vergleich. Das durch Stimmkreuzungen und Syncopationen (Non- und Quartvorhalt) geprägte Pendel ist im Prinzip eine Endlosschleife, die erst durch eine Prolongation der i. Stufe verlassen wird. Wie schon in L’Astrée vermeidet Couperin eine mechanische Transposition: Die Prolongation (gestrichelte Klammer) erfolgt zunächst über die Bassstufenfolge 2.–7.–1., später über 6.–7.–1. In beiden Fällen wird die Prolongation durch die Syncopation der Oberstimmen (dessus)[27] mit dem vorausgehenden Pendel verklammert. In der Folge werden dann aufgrund der unterschiedlichen Prolongation in der Transposition die dessus vertauscht. Das schon interessant gestaltete Gerüst wird nun mithilfe minutiös ausnotierter Figuren, die in Corellis Notationspraxis gar nicht üblich waren und eine Errungenschaft des französischen Stils darstellen, gleichsam in Szene gesetzt. Corelli empfängt Lully also in formvollendeter Manier.

Wie geht es nun weiter? Nach diesem Anfang, der recht ungebrochen das corellische Idiom aufgreift, ja es sogar auf eine besonders weit entwickelte Stufe hebt, überrascht die Passage der Takte 11 und 12 (»Notes égales, et marquées«) in ihrer brüsken Schlichtheit. Wir werden später darauf zurückkommen, wollen aber zunächst die formale Strategie zu Ende bedenken.

Von entscheidender Bedeutung ist stets der Kadenzplan. Traditionellerweise werden in Moll bevorzugt die Tonarten der i., III. und v. Stufe angesteuert (die wichtigsten Stufen, die in Frankreich auch »notes essentielles«, im Einzelnen finale, mediante und dominante genannt werden), gegen Ende zuweilen auch der iv. Stufe.[28] Couperin hält sich an diese Abfolge, dehnt aber die letzte Phrase durch Kadenzflucht (T. 18) aus:

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Tabelle 2: Kadenzplan

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Beispiel 5: Couperin, Accüeil, Gerüstsatz, T. 11–25

Beispiel 5 gibt einen Überblick über die weitere Entwicklung: Eine »Monte«-Sequenz[29] (einmalige steigende Sequenzierung einer Fortschreitung der lokalen Bassstufen 7.–1.) mit vertauschten dessus wird gleichsam umgedreht, indem aus der konstituierenden Intervallfortschreitung verminderte Quinte-Terz (siehe Pfeile) durch Stimmtausch die Fortschreitung der Komplementärintervalle Tritonus-Sexte wird ‒ eine Fortschreitung, die Robert O. Gjerdingen »Passo Indietro« nennen würde.[30] Dies läutet eine Progression mit 7–6-Synkopen in den dessus über einem Bass ein, der das aus dem Pachelbelkanon[31] bekannte Muster mit Chromatisierung (f-fis) und eingefügten Leittönen (cis-d) auflädt, um zur dritten Kadenz, dem Halbschluss der Tonart der v. Stufe, zu führen. Das Muster der sich daran anschließenden Sequenz ist etwas verborgen (Beispiel 6).

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Beispiel 6: Accüeil, T. 16, sequentielles Muster und Realisierung

Führte man die Sequenz weiter, entstünde auf der nächsten Takt-Eins über einem f im Bass ein Nonvorhalt. Dieser Klang tritt auch ein, aber nur im Continuo. Die dessus setzen zu einer cadenza doppia an, die geflohen und sequenziert wird nach einem Muster, das Angelo Berardi als ›motivo di cadenza‹[32] beschrieben hat. Couperin allerdings verleiht der kurzen Sequenz eine spezifisch französische Färbung, indem er zweimal den accord de la quinte superflue einsetzt, weshalb man scherzhaft von einem ›motivo di cadenza alla francese‹ sprechen könnte. Der in mehreren französischen Generalbasstraktaten beschriebene accord de la quinte superflue[33] hat seinen Sitz auf der dritten Bassstufe in Moll und besteht aus einer großen Terz, einer übermäßigen Quinte, einer großen Septime und einer großen None. Corelli verwendet diesen Klang nie, er ist eine französische Eigenheit, die ich im Rahmen meines Katalogs französischer Satzmodelle wegen seiner auffälligen Wirkung mit »le cri« bezeichnet habe.[34] Nach diesem Exkurs in die französische Klanglichkeit geht es sehr italienisch weiter: Es folgt ein harmonischer Quintstieg mit Quartvorhalten, der standardgemäß mit einem Kanon der dessus ausgeführt wird. Dandrieu lässt den mit »La Corelli« betitelten zweiten Satz seiner ersten Suite aus dem schon oben erwähnten Second livre de pièces de clavecin (1728) mit diesem Satzmodell beginnen, und scheint es demnach als Erkennungszeichen für dessen Stil einzusetzen. Die darauffolgenden Quintsextakkordverbindungen mit Sekund-Terz-Kette der dessus rekurriert ebenfalls auf ein bei Corelli häufig anzutreffendes Satzmodell, das Ludwig Holtmeier »Karussell« getauft hat.[35] Die mithilfe dieser Fortschreitung erreichte Kadenz in T. 24 bedarf noch einer Bestätigung in Form einer cadenza doppia mit vorausgehendem preparamento.[36]

Abgesehen von den beiden Akkorden mit quinte superflue und der auf französische Weise detailliert ausgestalteten Melodik handelt es sich bei dem Accüeil um eine Komposition mit ausgesprochen italienischem Charakter. Der Satz gerät in T. 11/12 in die Nähe der Karikatur, wenn in der Partitur die italienische Spielweise der »Notes égales, et marquées« gefordert wird. In Verbindung mit der Monte-Sequenz und den schlichten Achtelfiguren der dessus kann dies leicht borniert wirken. Vielleicht möchte Couperin auch das Attribut hagarde damit darstellen: Corelli nimmt gleichsam auf etwas barsche Weise keine Rücksicht auf den Geschmack seines neuen Mitbewohners auf dem Parnass. Lassen sich die Akkorde mit quinte superflue dann als erste kleine Zugeständnisse deuten? Möglich sind solche Deutungen durchaus und sie korrelieren mit Beaussants Befund, die Apothéose sei eine »petite comédie«.[37]

Lully bedankt sich

Im Remerciment kehrt die französische Optik zurück: G-Schlüssel auf der ersten Linie und agréments. Bereits die Wendung in die Dur-Varianttonart kann als Referenz an den französischen Stil gehört werden.[38] Die zweiteilige Anlage erinnert an einen Tanzsatz, der Rhythmus und die klaren Viertakter des ersten Teils sogar konkret an eine Sarabande. Man könnte auch an eine Ritournelle, also einen Instrumentalsatz in der Oper (vgl. Beispiel 7) denken.

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Beispiel 7: Jean-Baptiste Lully: Ritournelle aus Phaëton (1683)

Viele dieser dreistimmigen Sätze bei Lully (etwa in den Trios de la Chambre du Roi LWV 35, aber auch in den Opern, wie im Beispiel 7) arbeiten über weite Strecken mit parallelen Terzen in den dessus. Dies ist bereits in den ersten Sätzen der Apothéose de Lully der Fall, ja, im ersten Satz werden die parallelen dessus geradezu ostentativ eingesetzt.

Im Unterschied zu vergleichbaren Setzweisen der Renaissance[39] werden dabei alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die Terzen mit einem Bass konsonant zu unterlegen. Geht man alle Möglichkeiten durch, kommt man auf vier mögliche Klänge, deren harmonische Stabilität graduell absteigt:

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Beispiel 8: Konsonante Bassunterlegung einer Terz in den dessus

a) Grundakkord

b) Terzklang (Grund- oder Sextakkord)

c) Sextakkord

d) Quartsextakkord

Zwar bedarf der Quartsextakkord (d) einer speziellen Behandlung im Kontrapunkt,[40] jedoch wird auch er bei Lully und anderen französischen Komponisten auffallend oft eingesetzt. Schon in einer unscheinbaren Sarabande wie der folgenden (Beispiel 9) findet man alle Klänge auf engstem Raum:

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Beispiel 9: Konsonante Terzunterlegung in der Sarabande (Nr. 35) aus dem Trio de la Chambre du Roi LWV 35 von Jean-Baptiste Lully

Tatsächlich findet sich der stabilste Klang (a) auf den schweren Taktzeiten (vgl. Beispiel 10). Die Terzen können auch dissonante Figuren haben wie eine Superjectio (erster Pfeil) oder eine verzögerte Fortführung (zweiter Pfeil) durch Punktierung, wie sie in französischen Tanzsätzen ausgesprochen häufig anzutreffen ist.

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Beispiel 10: Remerciment, Satzgerüst

Der erste Teil des Remerciment ist auf eine ganz ähnliche Weise gebaut. Das Satzgerüst (Beispiel 10) zeigt eine vereinfachte Struktur ohne Durchgangsnoten und rhythmische Verschiebungen. In den Takten 1–8 finden sich wieder die Klänge a) bis d) aus Beispiel 8. Ein Unterschied zu den beiden angeführten Lully-Beispielen besteht darin, dass Couperin hier den Klang a) mit frei eintretender verminderter Quinte bringt (T. 3). Der Terz-Quint-Klang steht hier als accord de la fausse quinte für den dominantischen Quintsextakkord.[41]

Die oberen Klammern zeigen die deutliche motivische Verknüpfung der Viertaktphrasen im ersten Wiederholungsteil an. Die unteren Klammern bezeichnen die Kadenzen: Anders als im Accüeil erscheint hier mehrmals ein Kadenztypus, der in der französischen Musiktheorie eine wichtige Rolle spielt, die cadence imparfaite oder irrégulière.[42] Es handelt sich um eine Kadenz mit Quartfall/Quintstieg im Bass, die sowohl halbschlüssig (I–V/i–V) als auch plagal (IV–I/iv–i) verwendet werden kann, wobei die halbschlüssige Verwendung überwiegt. Rameau bezeichnet diesen Typus im Traité de l’harmonie als cadence irrégulière und ordnet ihr die Dissonanz der sixte ajoutée zu.[43] Die italienische Musiktheorie kennt diese Kadenz zwar (sie erscheint z. B. bei Lorenzo Penna),[44] hat aber keinen Namen für sie. In Corellis Werken tritt sie ausgesprochen selten auf. Im Remercimement finden wir sie in T. 4 sowie in T. 11/12.

Der zweite Teil ist geprägt von Modulationen in die Tonarten der ii. und vi. Stufe (a-Moll und e-Moll). Hier spielen die vorher erwähnten cadentiae minimae eine größere Rolle. Sowohl die klare viertaktige Phrasenbildung als auch der auf Terzparallelen basierende Satz wird aufgebrochen zugunsten von längeren Phrasen und komplexeren Fortschreitungen. Ab T. 38 begegnet uns die aus dem Accüeil bekannte Monte-Sequenz wieder, ab T. 41 werden sogar dissonante Überbindungen eingesetzt. Es könnte geradezu scheinen, als ob Corellis Musik sich nun doch im Dankgesang Lullys bemerkbar macht, auch wenn sich dieser an Apollon richtet.

Exkurs: Eine Sequenz und eine kaschierte Oktavparallele

Die hier vorgenommene Reduktionsanalyse vermag die Sequenz der Takte 33‒37 nicht befriedigend wiederzugeben. Man könnte die Sequenz besser erklären, indem man einen weiteren Schritt unternimmt und von einer übergeordneten kanonischen Quartfallsequenz[45] ausgeht, deren Satz mit Durchgängen, die ihrerseits Akkorde ergeben, ausgefüllt wird (vgl. Beispiel 11).

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Beispiel 11: Remerciment, T. 33‒37, Sequenzgerüst und Ausführung

Man beachte eine Feinheit der Notation: Im dritten Takt der Sequenz entstünde eine Oktavparallele zwischen Bass und erstem dessus, notierte man die Verzierung des Basses mit Sechzehnteln aus (h-a). Indem Couperin die Vorschlagsnoten im Bass benutzt, umgeht er das, was im ›offiziellen‹ Satz als Satzfehler gelten würde. Gleichwohl dürften sich die in der Notation kaschierten Oktavparallelen beim Spielen einstellen. Wie der Hörer die Stelle letztlich wahrnimmt, sei dahingestellt.

Ausblick: Die weiteren Sätze[46]

In den beiden Sätzen Accüeil und Remerciment stehen sich die beiden Protagonisten Corelli und Lully, mithin italienischer und französischer Stil, noch recht unvermittelt gegenüber. Couperin inszeniert mit ihnen in seiner »petite comédie« einen Moment der Konfrontation. Auch die Texte indizieren die mangelhafte Kommunikation: Corelli verhält sich barsch, Lully wendet sich an Apollo statt an seinen Landsmann. Couperins Lebensthema – die Vereinigung der beiden Stile – vollzieht sich schrittweise in den folgenden Sätzen: Apollo überzeugt die beiden, dass die Vereinigung der Stile eine »perfection de la Musique« herbeiführen könnte. Der erste Schritt ist ein »Essai en forme d’Ouverture«, also ein Versuch im Stil der (französischen) Ouvertüre. Lully spielt den ersten dessus, Corelli den zweiten, jeweils mit den landestypischen Schlüsseln und Verzierungen. Der italienische Stil kommt in diesem Satz noch kaum zur Geltung. Darauf spielen die beiden zu zweit: einmal Lully die Oberstimme, einmal Corelli. Hier scheinen sich die beiden schon anzunähern, auch wenn noch stilistische Eigentümlichkeiten wie etwa der ›Neapolitaner‹ in Corellis Oberstimme vorkommen. Die gelungene Vereinigung vollzieht sich im Schlussteil, der mit La Paix du Parnasse überschrieben ist. Es handelt sich um eine Sonade en Trio, die dem Muster einer sonata da chiesa folgt, aber eben auch französische Elemente aufnimmt: Der erste Satz (»gravement«) ist geprägt von rhythmischen Figuren der Allemande; der zweite Satz, eine Fuge, trägt den eher seltenen Titel Saillie. Marin Marais verwendete in der Suite Nr. 8 aus dem Livre III (1711) seiner Pièces de viole eine Saillie du Caffé, ebenfalls im Zweivierteltakt und mit lebhaften Sprüngen in der Viole-Stimme, die vermutlich die Wirkung des Kaffees veranschaulichen sollen, die sich dann vollends in den Sechzehnteln der Double-Version bemerkbar macht. Marais’ kleiner Satz ist zwar nicht fugiert, könnte aber trotzdem als Modell für Couperins Saillie Pate gestanden haben. Gemäß den Gepflogenheiten der sonata da chiesa folgt als dritter ein nicht fugierter Satz im Dreiertakt. Couperin verwendet hier die in Frankreich noch sehr verbreitete weiße Notation und den Titel Rondement. Der Schlusssatz folgt in seiner Anlage ebenfalls der italienischen Kirchensonate, steht im Dreiertakt und ist wieder fugiert. Seine Melodik wirkt zunächst italienisch, ist aber später von punktierten Rhythmen mit Sprüngen geprägt, die mit Synkopen kombiniert werden.

In der abschließenden Sonade en Trio ist tatsächlich eine Synthese gelungen: Die italienische sonata da chiesa gibt das Formmodell ab, charakterlich macht sich der französische Stil bemerkbar, Lully spielt nach wie vor die erste Geige (mit französischem G-Schlüssel und agréments), Corelli die zweite (im Violinschlüssel und mit italienischen Verzierungen). Die eigentliche Synthese aber vollbringt Couperin selbst, indem er – nicht ohne Augenzwinkern – die beiden Matadore verschieden sein und dann doch zueinander finden lässt.

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Abbildung 1: Accüeil und Remerciment in der Ausgabe von 1725.

Anmerkungen

1

Mein herzlicher Dank gilt Markus Neuwirth, der diesen Text gegengelesen und mir viele wichtige Anregungen gegeben hat.

2

Satzmodelle in französischer Barockmusik wurden in dieser Zeitschrift bereits anderweitig thematisiert, vgl. Roth 2010 und Froebe 2014. Ansonsten scheinen sie in der Forschung zu französischer Musik oftmals eine untergeordnete Rolle zu spielen (so etwa bei Seidel 1986 oder Tunley 2016).

3

Vgl. Anthony 1997, 17‒38, allgemein zur ›Vorgeschichte‹ Duron 2008.

4

An anderer Stelle habe ich mich dazu ausführlicher geäußert, vgl. Menke 2020.

5

Dazu La Gorce 2002.

6

Hierzu Fumaroli 2001.

7

Zur italienischen ›Gegenkultur‹ unter dem Königsbruder Philippe I. d’Orléans sowie dem späteren Regenten Philippe II. d’Orléans hat Don Fader zahlreiche Texte veröffentlicht, vgl. Fader 2007 und Fader 2013.

8

Couperin 1724, Préface.

9

Nach Charles Perrault (Parallèle des anciens et des modernes (Paris 1688–1697) erweist sich die Überlegenheit der damals ›modernen‹ zeitgenössischen Musik gerade auch in der Entwicklung der Mehrstimmigkeit. Vgl. Perrault 1697 und Seidel 1986, 120‒122.

10

Beaussant 1980, 64–73.

11

»Francesco Coperuni«, »Pecurino« oder »Nupercio«, vgl. Baussant 1980, 68.

12

Vgl. hierzu die instruktiven Ausführungen bei Bockmaier/Mauser 2005, 97–102.

13

Beaussant 1980, 67.

14

Vgl. Anthony 1997, 36.

15

Dass Couperin in seinen Concerts nur die Außenstimmen notierte, so wie es Lully ebenfalls zu tun pflegte, weil er die aufwendige Ausarbeitung der Mittelstimmen seinen Mitarbeitern (wie Marin Marais) überließ, erweist sich in diesem Concert womöglich als hintersinnige Anspielung.

16

Couperin 1724, Préface.

17

Couperin 1725.

18

Offene Besetzungen sind auch in Couperins Concerts Programm. Möglicherweise haben die Pieces de Clavessin (1705) von Gaspard Le Roux ein Modell abgegeben: Diese sind parallel in einer Version für Cembalo und einer für Trio abgedruckt. Letztere Version wiederum kann dazu benutzt werden, um die Stücke mit zwei Cembali aufzuführen, indem eines die obere, eines die mittlere Stimme in der rechten Hand übernimmt und beide denselben Bass in der linken Hand spielen.

19

Beaussant 1980, 298.

20

Dies diskutiert Beaussant 1980, 302.

21

Couperin 1715, 12. Selbstverständlich ist Couperin nicht der einzige Komponist, der an einer Vereinigung oder Überwindung der beiden scheinbar widersprüchlichen Stile gearbeitet hat. Um nur wenige Beispiele zu nennen: In Frankreich gab es schon um 1700 eine »italophile« Fraktion (u. a. Marc-Antoine Charpentier, Sébastien de Brossard oder François Dandrieu), ein Komponist wie Georg Muffat vereinigte beide Kulturräume allein aufgrund seiner Biographie, und Georg Philipp Telemann fühlte sich bekanntlich einem »vermischten Geschmack« verpflichtet und steuerte mit seinen Six Sonates corellisantes (1735) selbst eine Hommage an den römischen Meister bei.

22

Couperin beziffert Nonen grundsätzlich mit »2«.

23

Ein Concerto grosso ist bei Corelli in satztechnischer Hinsicht eine durchgehende Triosonate (Concertino), der ein vierstimmiger Satz (Ripieno) hinzugefügt wird, welcher größtenteils der dynamischen Abstufung dient und das Concertino verdoppelt sowie um eine vierte Stimme erweitert. Corellis Concerti grossi können auch in kammermusikalischer Besetzung, also als Triosonaten aufgeführt werden.

24

Zur Kadenzterminologie siehe Menke 2017, 54‒58. Die französische Musiktheorie des 17. und 18. Jahrhunderts kennt keinen eigenen Begriff für diesen Kadenztypus. Da man diese Kadenz unter den Vorzeichen der Dur-Moll-Tonalität als Halbschluss (Kadenz auf der V. Stufe) hört, die Tenorklausel aber den an den phrygischen Modus gemahnenden absteigenden Halbton hat, ergibt die heute übliche bündige Bezeichnung ›phrygischer Halbschluss‹ durchaus Sinn.

25

Edler 2006. Edler gibt neben Corelli frühere Beispiele von Maurizio Cazzati, Giovanni Maria Bononcini und Alessandro Stradella. Zum mediantischen Übergang (V‒III bzw. III‒i) an formalen Scharnierstellen in barocker Musik siehe La Rue 1957.

26

Dieser Begriff für »Spezialakkorde«, welche die später in der règle des octaves (Campion 1716) kodifizierte Normalität überschreiten, spielt eine wichtige Rolle in der französischen Generalbassharmonik, vgl. Delair 1690, F.

27

Masson 1699, 13.

28

Vgl. Banchieri 1605, 41; Nivers 1667, 18 sowie Masson 1699, 49. Zur Entwicklung im 18. Jahrhundert vgl. ausführlicher Zirwes 2018, 72‒95.

29

Der Begriff stammt von Joseph Riepel und damit aus einem anderen Kontext (vgl. Eckert 2005), hat sich inzwischen aber als fester Terminus im Satzmodelldiskurs eingebürgert.

30

Gjerdingen 2007, 167.

31

Vgl. Menke 2017, 252 f.

32

Berardi 1687, 151.

33

So etwa bei Dandrieu 1718, 41, Tafel XVIII.

34

Vgl. Menke 2020.

35

Inzwischen gibt es sogar einen Wikipedia-Eintrag dazu, der von der Popularisierung des Begriffs zeugt: https://de.wikipedia.org/wiki/Karussell_(Musiktheorie) (4.12.2020).

36

Hierzu Menke 2017, 290.

37

Beaussant 1980, 298.

38

Vgl. Delpech 2020.

39

Jans 1986, 101‒120.

40

Hierzu Menke 2020.

41

Vgl. Dandrieu 1718, 13 f.

42

Mit dem Terminus cadence imparfaite werden im 17. und 18. Jahrhundert oftmals alle Kadenzen beschrieben, die nicht parfaites sind (so etwa Saint-Lambert 1707, 51–54) oder auch die Quartfallkadenz im engeren Sinn (Nivers 1667, 24).

43

Rameau 1722, 64‒67.

44

Penna 1684, 133 f.

45

Vgl. Menke 2017, 118 f.

46

Zur Bewertung dieser virtuellen Begegnung vgl. auch Bockmaier 2020.

Noten

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