Scheideler, Ullrich / Kilian Sprau (2019), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 16/2, 5–7. https://doi.org/10.31751/1027
eingereicht / submitted: 16/12/2019
angenommen / accepted: 16/12/2019
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 23/12/2019
zuletzt geändert / last updated: 14/01/2020

Editorial

Die vorliegende Varia-Ausgabe 2019/2 der ZGMTH versammelt Texte mit einer großen Spannbreite an Themen, die regional in Mittelamerika und Mitteldeutschland angesiedelt sind und vom 18. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre reichen. In mehreren Beiträgen spielen Fragen des Musiktheorieunterrichts bzw. der Vermittlung musiktheoretischer Inhalte im weiteren Sinne eine zentrale Rolle.

Den Anfang macht der Aufsatz »Mexicanidad und Ironie durch die Revolution hindurch. Kompositionsstrategien in und diskursive Konstellationen um Revueltas’ Janitzio« von Jonas Reichert, in dem unter dem analytischen Blickwinkel der Ironie Kompositionsstrategien in Silvestre Revueltas’ (1899–1940) Orchesterstück Janitzio (1933) untersucht und im Kontext kultureller Identitätskonstruktion durch Musik in den Jahrzehnten nach der Mexikanischen Revolution interpretiert werden. Gezeigt wird, dass Revueltas den Nationalismus-Diskurs der frühen 1930er Jahre ironisch durchbricht, aber der ironischen Distanzierung zugleich ein affirmatives Moment innewohnt, die zuletzt als dialektische Teilhabe an der Konstruktion einer spezifisch mexikanischen kulturellen Identität interpretiert wird.

Der zweite Text, »Semidissonanzen. Ein Beitrag zur Didaktik der Harmonielehre« von Hans Aerts, widmet sich dem Umgang theoretischer Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts mit solchen Dissonanzen, die nicht (mehr) vorbereitet und nur noch korrekt aufgelöst werden müssen. Hintergrund der Darstellung ist die Beobachtung, dass die resultierenden Klänge gewöhnlich als harmonische Entitäten (wie etwa als Dominantseptakkord) interpretiert werden, was nach gängigem Erklärungsmodell die Dissonanzen von einer Vorbereitung entbinde. Aerts zeigt u. a. anhand von Schriften Johann David Heinichens und Joseph Riepels, dass die Schwierigkeiten, solche Dissonanzen mit dem traditionellen Regelapparat in Übereinstimmung zu bringen, auch schon in Schriften des 18. Jahrhunderts thematisiert worden sind. Zudem schärft Aerts den Blick dafür, dass das Denken in Akkordumkehrungen ein älteres und gleichsam darin aufgehobenes kontrapunktisches Denken, das den Einzeltönen unterschiedliche Bedeutungen zuweist, zu überdecken droht, sodass manche Akkordumkehrungen in der Theorie tendenziell als gleichwertig oder gleichrangig angesehen werden, obwohl sie es in der Praxis nicht waren. Abschließend werden Möglichkeiten diskutiert, solche ›Semidissonanzen‹ im Theorieunterricht sowohl innerhalb satztechnischer als auch analytischer Fragestellungen adäquat zu behandeln.

Derek Remeš entfaltet im Beitrag »New Sources and Old Methods« aktuelle Forschungsergebnisse zur Kompositionspädagogik Johann Sebastian Bachs, die dem verhältnismäßig schlichten generalbassbasierten Choralbuch-Stil eine gegenüber den reich ausgestalteten vokalen Choralgesängen bevorzugte Rolle attestieren. Auf der Basis aktueller Archivfunde stellt Remeš einen »Music-Theoretical Paratext« des Bach’schen Kompositionsunterrichts zur Diskussion und macht so historische musiktheoretische Konzepte für eine Rekonstruktion bestimmter Aspekte des Bach’schen Unterrichts fruchtbar. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Harmonisierung von Choralmelodien mithilfe multipler Bässe zu. Der Artikel gibt Einblick in ein umfassendes Forschungsprojekt des Autors, das dem Generalbass des frühen 18. Jahrhunderts als theoretischer und praktischer Grundlage des Verständnisses von Komposition zu jener Zeit gewidmet ist.

Im direkten Anschluss an diesen Fachartikel macht Remeš in einer umfangreichen Quellenedition zentrale Ausschnitte aus dem zuvor dargelegten Diskurszusammenhang verfügbar: Vier kritisch edierte und ausführlich kommentierte Lehrschriften aus dem Umfeld Johann Sebastian Bachs bieten unmittelbaren Zugang zum ›Paratext‹ des Bach’schen Unterrichtens. Den zeitlichen Rahmen setzen die Generalbassschulen des Lüneburger Michaeliskantors Friedrich Emanuel Praetorius (»Kurtzer doch gründlicher Unterricht vom General-Baß«; 2. Hälfte 17. Jahrhundert) sowie des Bach-Schülers Johann Christian Kittel (»Generalbass Schule«; ca. 1786–89). Dazwischen stehen zwei Texte des Pachelbel-Schülers Johann Valentin Eckelt, die die besondere Praxisnähe zeitgenössischen Kompositionsunterrichts verdeutlichen: »Diesen Kurtzen Unterricht wie man eine Fuga oder Præludium formiren und einrichten soll« (1722) und »Kurtzer Unterricht was einen Organist[en] nötig zu wißen seÿ« (undatiert).

Im Aufsatzwettbewerb der GMTH 2019 prämiert wurde der von Ansgar Jabs und Pascal Rudolph gemeinschaftlich verfasste Artikel »Visualisierung harmonischer Prozesse mithilfe des Circular Pitch-Class Space am Beispiel der Tristan-Sequenz«. Der ebenso an Wagnerforschung wie an Musiktheorien der Gegenwart anschließende Aufsatz greift aus dem Umfeld der Neo-Riemannian Theory stammende Konzeptionen auf und stellt unter Bezugnahme auf Arbeiten von Richard Cohn und Dmitri Tymoczko eine Visualisierungsmethode vor, die harmonische Prozesse als das Resultat virtueller Stimmführung zwischen Tonklassen nachvollziehbar macht. Anhand der Wagners Tristan und Isolde einleitenden Sequenztakte wird das epistemologische Potenzial dieser Visualisierungsform untersucht.

Der Rezensionsteil umfasst vier Rezensionen von Büchern zur Musik des 19. und 20. Jahrhunderts. Kilian Sprau nimmt mit dem von Birger Petersen und Patrick Boenke 2014 im Olms-Verlag edierten Sammelband Musikalische Logik und musikalischer Zusammenhang eine Publikation in den Blick, die substanzielle Fragestellungen im Schnittfeld von Musiktheorie und Musikästhetik behandelt. Das Buch versammelt prominente Autor*innen der Musiktheorie und Musikwissenschaft und reicht von diskursanalytischen Darstellungen über konkret werkbezogene Beiträge bis hin zu Aspekten zeitgenössischer Theoriebildung.

Markus Böggemann bespricht das von Jörn Peter Hiekel und Christian Utz herausgegebene und 2016 bei Bärenreiter / Metzler erschienene Lexikon Neue Musik, das nicht nur einen umfangreichen lexikographischen Teil mit gut 100 Artikeln enthält, sondern diesem zugleich neun längere Texte vorschaltet, die zentralen Fragen zur neuen / Neuen Musik im Rahmen von Überblicksdarstellungen nachgehen. Diese betreffen mit der Klangorganisation, der Mikrotonalität, der Raumkomposition sowohl die Materialbasis und Technisches wie Ästhetisches, berühren darüber hinaus aber auch Fragen nach Weltbezügen und transnationalen Querverbindungen, ebenso wie nach Abgrenzungen oder dem Verhältnis zur Musikwissenschaft. Böggemann stellt dem Buch ein hervorragendes Zeugnis aus und bescheinigt ihm, sich in der Praxis (und nicht nur der musikwissenschaftlichen) bereits umfassend bewährt zu haben.

Jan Philipp Sprick befasst sich mit dem von Felix Wörner, Ullrich Scheideler und Philip Rupprecht herausgegebenen Sammelband Tonality Since 1950 (Stuttgart: Steiner 2017), in dem u. a. in einer Reihe von Fallstudien Spielarten von Tonalität in der Musik etwa Hanns Eislers, Steve Reichs, György Kurtágs, aber auch in der Pop-Musik vor allem der 1960er Jahre nachgegangen wird. Ähnlich wie das Lexikon Neue Musik ist dieses Buch der Versuch einer Öffnung des musikwissenschaftlichen wie musiktheoretischen Diskurses für eine Musik jenseits der Avantgarde.

Gegenstand der Rezension von Ariane Jeßulat ist das Buch The Romantic Overture and Musical Form from Rossini to Wagner von Steven Vande Moortele, das 2017 bei Cambridge University Press erschien. In diesem Buch werden fast 200 zwischen ca. 1815 und 1830 komponierte Ouvertüren im Anschluss an Kategorien der ›New Formenlehre‹ analysiert und in gewisser Weise auch rehabilitiert. Die Rezension hebt den vom Autor ins Zentrum gestellten Ansatz hervor, bestimmte Formstrategien nicht als defiziente Modi etwa einer Sonatenform zu betrachten, sondern als originäre Lösungen von Formfragen jenseits von Kategorien wie organischer Einheit oder prozessualer Logik zu würdigen.

Großer Dank gebührt abschließend den Autorinnen und Autoren der Ausgabe, den Gutachter*innen sowie der Jury und den Jury-Koordinator*innen des Aufsatzwettbewerbs der GMTH für ihre Beiträge bzw. die Mitarbeit an dieser Ausgabe.

Ullrich Scheideler, Kilian Sprau

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