Anwendungsversuch von Nicola Vicentinos Enharmonik auf chromatische Vokalmusik des 16. Jahrhunderts
Christian Raimund Schlegel
In seinem 1555 veröffentlichten Traktat L’antica musica ridotta alla moderna prattica unternahm der italienische Komponist und Musiktheoretiker Nicola Vicentino den Versuch, antike Tongeschlechter für die zeitgenössische Musikpraxis nutzbar zu machen. Mit seinem genere enarmonico ging Vicentino über den geläufigen Intervallvorrat hinaus. Die Teilbarkeit des diatonischen Halbtons in eine große und kleine diesis enarmonica ermöglichte ein Tonsystem, dem in voller Ausprägung 31 Tonhöhen pro Oktave zur Verfügung stehen. Die Anwendung dieser Kleinstintervalle demonstrierte er in eigenen Beispielkompositionen. Auch ermutigte er den Leser, bereits existierende Kompositionen durch Hinzufügung enharmonischer Akzidentien eigenhändig zu modifizieren. Eine genaue Anleitung, wie diese neuartigen Intervallqualitäten in bestehender Musik sinnvoll eingesetzt werden können, gibt es jedoch nicht. Ziel dieses Beitrags ist es, anhand enharmonischer Kompositionen Vicentinos ein rudimentäres Regelwerk zur Anwendung enharmonischer Intervallqualitäten zu entwerfen. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden in experimenteller Weise auf Ausschnitte zweier Werke chromatischer Vokalmusik des 16. Jahrhunderts angewendet und hörbar gemacht. Es kann gezeigt werden, dass Kompositionsverfahren mit sukzessiven Terzquintklängen einer Bearbeitung durch enharmonische Versetzungszeichen grundsätzlich entgegenkommen und zu durchaus reizvollen Klangverbindungen führen können. Musikalische Passagen mit höherem Dissonanzreichtum sind für eine enharmonische Bearbeitung dagegen ungeeignet.
In his 1555 treatise L’antica musica ridotta alla moderna prattica, the Italian composer and music theorist Nicola Vicentino intended to make use of ancient genera in contemporary musical practice. His interpretation of the genere enarmonico went beyond the traditional repertory of intervals, by dividing the diatonic mi-fa step into a smaller and bigger diesis enarmonica. This opened the possibility for an entirely new musical temperament with up to 31 pitches per octave. He demonstrated the application of those newly-won intervals in a small set of enharmonic compositions. He furthermore encouraged his readers to modify existing compositions with enharmonic accidentals, but failed to provide proper guidance on how to apply such microintervals. The aim of this paper is to develop a rudimentary set of rules to make the application of enharmonic intervals into existing music possible. The insights thus gained will subsequently be tested experimentally on two excerpts of sixteenth-century chromatic compositions. It can be shown that composition techniques that make prolonged use of successive sounds with stacked thirds and fifths are generally much more feasible for enharmonic arrangement. Musical passages with a higher number of dissonances are much less suitable.
Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, Hochschule für Musik Detmold, Universität Mozarteum Salzburg, [Hanover University of Music, Drama and Media, Detmold University of Music, Mozarteum University Salzburg]
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