Funk, Vera (2017), »Einen Anfang finden. György Ligetis Skizzen und Entwürfe zu den Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin für 16-stimmigen gemischten Chor a cappella«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 14/2, 263–283. https://doi.org/10.31751/949
eingereicht / submitted: 16/07/2017
angenommen / accepted: 07/11/2017
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 31/12/2017
zuletzt geändert / last updated: 03/09/2018

Einen Anfang finden

György Ligetis Skizzen und Entwürfe zu den Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin für 16-stimmigen gemischten Chor a cappella

Vera Funk

Die Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin für 16-stimmigen gemischten Chor a cappella (1982/83) erklingen regelmäßig in Konzerten professioneller Chöre, die sich z.B. der Hölderlin-Rezeption der 1980er Jahre widmen. Die bisher überschaubare Forschung zu diesem anspruchsvollen Werk, das 1983 von Eric Ericson mit dem Stockholmer Rundfunkchor uraufgeführt wurde, orientierte sich überwiegend an einzelnen Äußerungen des Komponisten zur Werkgenese. Die Korrespondenz und vor allem Skizzen und Entwürfe, die die Paul Sacher Stiftung (Basel) aufbewahrt, ermöglichen neue Erkenntnisse zur Kompositionsweise Ligetis. Damit lassen sich neue Aspekte im Entstehungsprozess benennen, die auch zu einer differenzierteren Analyse des Werks beitragen können. Aus den Skizzen wird ersichtlich, dass Ligeti beim Komponieren zunächst einfache, weniger komplexe Ideen quasi als Impulse entwickelte, die sich auf die weitere spezifische Formung etwa der Harmonik und Motivik der dann rasch komponierten Sätze auswirkten. Dabei entsprach die Besetzung nicht von vornherein der von Lux aeterna (1966), auch die Textauswahl aus den Gedichten Hälfte des Lebens, Wenn aus der Ferne und Abendphantasie des von Ligeti geschätzten Autors Hölderlin veränderte sich noch in den Skizzen der ersten Takte jedes Stücks. Die Skizzen lassen außerdem erkennen, inwiefern der Differenzierungsprozess vor allem die Rhythmik sowie die Konzeption betraf. Am Beispiel verbaler Eintragungen wie den Hinweisen auf das chorische Atmen wird schließlich deutlich, dass Ligeti auch seine frühen Erfahrungen als Chorsänger in der ungarischen Zeit für eine dem Chorklang angemessene kompositorische Gestaltung nutzt.

The Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin for mixed, 16-voice choir a cappella (1982/83) are regularly performed by professional choirs, especially those specializing in Hölderlin reception of the 1980s. The difficult work was first performed in 1983 by the Swedish Radio Choir, conducted by Eric Ericson. Existing research on the genesis of the works has focused on single comments by the composer. Correspondence and sketches, kept by the Paul Sacher Foundation in Basel, allow for new insights into Ligeti’s compositional process, enabling a more sophisticated analysis of the work. The sketches show that Ligeti initially developed simple ideas and then employed these as impulses in respect to harmony and the motivic shaping while quickly composing the movements. This also explains why the partition did not correspond to that of Lux aeterna (1966) from the beginning and why Ligeti’s selection of texts from Hölderlin’s poems Hälfte des Lebens, Wenn aus der Ferne and Abendphantasie changes in the sketches of the very first bars of each movement. The sketches make visible how the composing process of differentiation worked, rhythmically and conceptionally. Verbal comments – e.g. for choric breathing – reveal how Ligeti employs the choir singing experiences of his early years in Hungary as recommendations for an adequate compositional design.

Schlagworte/Keywords: György Ligeti; sketch studies

Einleitung und Problemaufriss

Die sängerisch anspruchsvollen Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin (Uraufführung 1983) von György Ligeti wirken zunächst wie eine Reminiszenz an das bekanntere Lux aeterna (Uraufführung 1966), denn beide Werke wurden zu 16 Stimmen a cappella uraufgeführt (die Drei Phantasien von Eric Ericson mit dem Stockholmer Rundfunkchor, dagegen Lux aeterna von Clytus Gottwald mit der Stuttgarter Schola Cantorum).[1] Allerdings änderte Ligeti die Stimmenzahl in den ersten der zugänglichen Skizzen zu den Drei Phantasien mehrfach, orientierte sich also nicht von vornherein an der Besetzung des anderen Chorwerks. Wie dieses später genauer ausgeführte Beispiel zur Besetzung zeigt (siehe unten, Abschnitt 5), kann das Skizzenmaterial somit nicht nur die Genese eines Werks, sondern auch das Verhältnis zu anderen Kompositionen beleuchten und damit Interpretationen von werkübergreifenden Zusammenhängen präzisieren. Das vorliegende Material zu den Drei Phantasien erscheint besonders hinsichtlich der mehrfach ausgeführten Anfangsideen zu den drei Sätzen des Werks interessant, weil eigentliche Pläne oder Aufzeichnungen zur Gesamtanlage des Werks nicht vorliegen. Es wäre also zu fragen, welche Bedeutung die skizzierten Eröffnungstakte der drei Sätze für die Entstehung des gesamten Werks hatten und inwiefern solche Anfänge sogar als Impuls für die zügig ausgeführten folgenden Takte anzusehen sind.[2]

Die Untersuchung der Skizzen vermag aber darüber hinaus für die Beantwortung weiterer Fragestellungen relevant zu sein. Wenn man vor allem die ersten Phasen der Werkentstehung zu rekonstruieren versucht, kann zum einen genauer nachvollzogen werden, welche Rolle das ›Instrument‹ Chor für die kompositorische Auseinandersetzung mit den Texten Hölderlins spielte. Zum anderen lässt sich erkennen, in welchem Umfang die Textauswahl, die Motivik und die Harmonik das Ergebnis einer Vorplanung waren oder ob sie sich gleichsam spontan erst im Kompositionsprozess ergaben – und welche regulativen Instanzen oder Ideen dabei von Bedeutung gewesen sind. Ligeti, der seine Arbeitsweise gegenüber dem eigentlichen Vertonen von Gedichten abgrenzte[3], kürzte nämlich die drei Gedichttexte zum Teil erheblich und komponierte den ausgewählten Text fortlaufend. Auch die Frage nach der Verbindung der drei Texte zueinander – also u.a. nach der Idee einer zyklischen Gestaltung – lässt sich, wie unten zu zeigen versucht wird (vgl. Abschnitt 2), gegebenenfalls besser mit solchen frühen Notaten als mit den sprachlich anschaulichen Interviewbeiträgen und Kurztexten des Komponisten selbst beantworten.[4]

Allerdings können die vorliegenden Skizzen und Entwürfe nicht einfach als Schlüssel zu diesem Werk und seiner Genese angesehen werden, da Ligeti bekanntlich die Ergebnisse kreativer Prozesse nicht immer linear bzw. stringent nachvollziehbar aufs Papier brachte. So sind unterschiedliche Stufen der Werkgenese vor allem an Übergangsstellen mit mehrfachen Streichungen und Neuanfängen auch in den Drei Phantasien teilweise nicht voneinander abgrenzbar. Und wenn Ulrich Konrad am Beispiel der Skizzen und Entwürfe von Mozart anhand von verschiedenen Skizzentypen aufzeigt, dass der Komponist entgegen der landläufigen Meinung ein Werk nicht ausschließlich im Kopf entwickelte und dann niederschrieb[5], lässt sich zu Ligeti umgekehrt sagen, dass er diverse notierte Gedanken offenbar im Kopf weiterentwickelte. Eine lückenlos nachvollziehbare Entstehungsfolge vom Einfall zum fertigen Werk bieten die Skizzen Ligetis jedenfalls nicht.[6]

Terminologisch verwende ich im Folgenden den Begriff ›Skizze‹ für schriftlich fixierte Gedanken zu wenigen Takten und für unvollständige Tonsätze (seien sie einstimmig oder mehrstimmig). Dagegen gebrauche ich den Begriff ›Entwurf‹ für mindestens mehrtaktige Partiturschriften, die schon eine deutliche Nähe zur Reinschrift erkennen lassen und im Zusammenhang mit der formalen Konzeption des vollendeten Werks stehen.[7]

Trotz der geschilderten Schwierigkeiten lässt sich festhalten, dass die Untersuchung des Kompositionsprozesses und der durch den Komponisten gesetzten Prioritäten die Analyse und Interpretation des A-cappella-Werks unterstützen kann. Dabei spielen die mehrfach korrigierten Skizzen der Anfangstakte von jedem der drei Sätze der Drei Phantasien offenbar eine besondere Rolle für die spätere Ausarbeitung. Denn in den vorliegenden Notaten zu daran anschließenden Takten ähneln die grundsätzlichen Stimmverläufe schon überwiegend der Reinschrift, wenngleich Ligeti vor allem inhaltliche oder formale Einschnitte bisweilen noch überarbeitet.

1. Entstehung

Ligeti komponierte nach dem Requiem (1962–1965) und dem A-cappella-Werk Lux aeterna (1966) seit Mitte der 1960er Jahre außer dem über Jahre entwickelten Opernprojekt Le Grand Macabre (Uraufführung 1978) vorwiegend Instrumentalmusik, von solistischer Literatur bis zu Orchesterstücken. Insofern mag man mit diesem Komponisten zu dieser Zeit nicht zuerst Chorgesang a cappella verbinden. Wie er in einem Erläuterungstext 1984 anlässlich der Aufführung eines frühen Chorstücks (Magány, 1946) schrieb, sang Ligeti allerdings in Klausenburg in einem Berufskammerchor und in der Budapester Studienzeit in kleinen Chorvereinigungen oder privaten Zirkeln. Bis zur Flucht 1956 aus Ungarn nach Wien schrieb er etwa 30 Chorsätze vor allem in ungarischer Sprache.[8]

Laut einer schriftlichen Nachricht Ligetis an seinen Lektor Klaus Schöll bei Schott[9] regten der Musikwissenschaftler Bo Wallner sowie der Komponist Ingvar Lidholm zusammen mit Eric Ericson die Hölderlin-Chöre an. Genaue Datierungen der Skizzen zu den Drei Phantasien liegen nicht vor. Fest steht jedoch, dass sie innerhalb weniger Monate im Sommer, vor allem ab August 1982 zunächst bis Anfang Oktober entstanden. Ligeti sandte laut einer Postkarte an Eric Ericson die ersten beiden Sätze bereits am 1.10.1982 nach Stockholm und kündigte den dritten Satz für die nächste Zeit an.[10] Dieser letzte Satz ging später mit einem maschinenschriftlichen Brief vom 2.2.1983 dem Lektor Klaus Schöll zu.[11] Auf der Rückseite einer Skizzenseite befindet sich die verworfene Reinschrift des vierten Satzes zum Horntrio (Trio für Violine, Horn und Klavier, 1982; Image 11[12]). Dieses für Ligeti typische ›Papierrecycling‹ klärt allerdings nicht, ob er bereits vor der Uraufführung des Horntrios (7.8.1982) die vorliegenden ersten Skizzen zu den Drei Phantasien niedergeschrieben hatte.

Bereits unmittelbar nach der Uraufführung des Grand Macabre (12.4.1978) hatte sich Ligeti gedanklich an ein Chorwerk herangetastet. So findet sich um 1979 auf der Rückseite einer Konzertankündigung in Mappe 246 der Sammlung György Ligeti in der Paul Sacher Stiftung bereits eine Notiz für ein Chorwerk a cappella für Ericson neben dem Wort Idee »Kantate«, was im Zusammenhang mit Helmuth Rillings seit 1973 hartnäckig verfolgter Bitte um ein neues Werk für die Gächinger Kantorei steht.[13] In den Tagen um die Uraufführung des Trios für Horn, Violine und Klavier stieg Ligeti intensiv in die Komposition der Drei Phantasien ein, deren Uraufführung mit Eric Ericson und dem Stockholmer Rundfunkchor anlässlich einer USA-Tournee im Februar 1983 vorgesehen war. Letztlich führte der von Ligeti seit den 1960er Jahren sehr geschätzte Ericson die Drei Phantasien wegen Ligetis verzögerter Abgabe erst im September 1983 in Stockholm auf. Aus diesem Grund fand auch während des SDR-Festkonzerts anlässlich des 60. Geburtstags des Komponisten im Mai 1983 die geplante deutsche Erstaufführung des Werks nicht statt. Stattdessen komponierte Ligeti Anfang 1983 für Clytus Gottwald noch ein weiteres Chorwerk a cappella. Der Dirigent, der sich für dieses Konzert engagiert hatte, brachte daher zwei der später drei Magyar Etüdök (Ungarische Etüden, 1983) nach Texten von Sándor Weöres für zwölf und 16 Stimmen mit der Stuttgarter Schola Cantorum zur Uraufführung.

2. Zur Textauswahl

Bekanntlich war Ligeti ein vielseitig interessierter Künstler, mit besonderem Interesse an naturwissenschaftlichen Themen und Mathematik. Weniger bekannt dürfte sein, dass er zeitlebens (mit mehr als dem zu erwartenden bildungsbürgerlichen Literaturinteresse) Belletristik sowie Lyrik in verschiedenen Sprachen las, wie sich anhand der Korrespondenz, die die Paul Sacher Stiftung aufbewahrt, nachvollziehen lässt. Die Entscheidung, für die Drei Phantasien ausgerechnet einen Autor wie Friedrich Hölderlin zu wählen, erschließt sich aus Ligetis Schriften oder der Korrespondenz jedoch nicht, im Gegensatz zu wiederholten Hinweisen auf den von ihm verehrten Sándor Weöres (1913–1989) oder in der Zeit vor der Entstehung der Chorstücke auf T.S. Eliot (1881–1965) und sein Versdrama Sweeney Agonistes als mögliche Autoren für Textvorlagen.[14] Doch Lyrik – und darunter nach der Emigration auch Hölderlin – las Ligeti laut seiner Witwe zeit seines Lebens leidenschaftlich und thematisierte diese gerne im Kreis der Familie und enger Freunde.[15] Zu den langjährigen Freunden gehörte György Kurtág, der mehrfach Hölderlin für eigene Kompositionen auswählte. Ligeti äußerte in einer dokumentierten Vortragsdiskussion, dieser Autor sei Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre nicht einfach zufällig in einem spezifischen ästhetischen Kontext aktuell geworden. Dabei verwies er auf den Zeitgeist; jedenfalls habe er während der Komposition nur Heinz Holligers Vertonungen, jedoch nicht Luigi Nonos Streichquartett oder andere Hölderlin-Kompositionen gekannt.[16]

Die Reihenfolge der zugrunde liegenden Gedichte Hälfte des Lebens, Wenn aus der Ferne und Abendphantasie stand laut Ligetis Korrespondenz mit dem Verlag Schott spätestens Anfang September 1982 fest.[17] Die Texte wurden in unterschiedlichem Umfang gekürzt: Ligeti strich in Hälfte des Lebens (erster Satz) nur zwei einander folgende Verse, dagegen im Fragment Wenn aus der Ferne (zweiter Satz) längere Textpassagen mehrmals auch strophenübergreifend; den dritten Satz mit der Ode Abendphantasie beginnt Ligeti überhaupt erst mit der vierten der sechs Strophen. Die Forschung verweist bezüglich Ligetis Textauswahl auf die Akzentuierung der Naturbilder[18]; die Gedichte sind in der gekürzten Form zudem durch das Thema der Sehnsucht und einer eher wehmütigen Perspektive auf die Vergangenheit charakterisiert (biografisch stand Ligeti, wie erwähnt, kurz vor dem 60. Geburtstag). Durch die dargestellten Kürzungen entfallen diverse in der Germanistik diskutierte sprachlich verschlüsselte Bilder wie das des »heilig-nüchterne[n]« Wassers (Hälfte des Lebens). Zu solchen Kürzungen äußerte sich Ligeti im bereits erwähnten Diskussionsbeitrag:

Ich wollte einfach nicht den Gedichten entlang komponieren, denn dann würde so eine Duplikation entstehen […]. […] wo Musik sich von selbst einstellte, habe ich Textfragmente genommen, hingegen verzichtet, wo Musik sich nicht eingestellt hat – vor allem bei Stellen, die abstrakt oder von gedanklicher Natur sind.[19]

Dass die Textauswahl nicht bereits vor Aufnahme der Komposition der ersten Takte feststand, zeigen nur die Skizzen. So erprobte Ligeti in einer frühen Skizze (Image 10, Bsp. 1) die ersten Takte zur Abendphantasie mit dem Textbeginn »Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt der Pflüger« des vorliegenden Gedichts und verwendete – offenbar mit dem Gedanken einer zyklischen Anlage – die gleiche abwärts gerichtete Melodie für den Gedichtanfang von Wenn aus der Ferne, dessen Text (und auch Setzweise) in der Endfassung nicht mehr erscheinen.

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Beispiel 1: György Ligeti, Drei Phantasien, Melodieanfänge zu Nr. 2 Wenn aus der Ferne und Nr. 3 Abendphantasie gemäß den frühen Skizzen (Übertragung gemäß Image 10 in Mappe 41 der Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung)

3. Quellenlage

Die Paul Sacher Stiftung bewahrt in Mappe 41 der Sammlung György Ligeti zu den Drei Phantasien insgesamt 26 Seiten loser Blätter mit originalen Skizzen (Bleistift und Farbstifte) auf.[20] Ligeti schrieb grundsätzlich mit Bleistift und notierte ergänzend mit Buntstiften (auch solchen mit mehrfarbigen Minen) Streichungen, Hinweise und Korrekturen. Weiterführende Notizbuchblätter mit verbal niedergeschriebenen Ideen oder Tabellen und Zeichnungen, wie sie z.B. auch bei Chorwerken für die später entwickelten Nonsense Madrigals (1988–1993; Mappe 167) oder bereits für Lux aeterna (1966) existieren (Mappe 148), sind derzeit nicht auffindbar. Anders als für Takte im späteren Satzverlauf liegen für alle drei Sätze mehrere Versionen der ersten Takte in teilweise sehr frühen Stadien vor. Zum ersten Satz Hälfte des Lebens sind derzeit insgesamt nur drei Seiten überliefert (Images 6, 7 sowie die offenbar etwas später entwickelte Seite mit Image 5). Sie enthalten mehrere, teilweise gestrichene Entwürfe zu den beiden Anfangstakten. Am Fuß der Seite 1 (Image 5) finden sich kurze Skizzen mit nicht rhythmisierten Melodien. Der zweite Satz Wenn aus der Ferne liegt relativ vollständig vor, er wurde ab Takt 18 bis zum Schluss mit kontinuierlicher Seitenzählung bis Seite 15 entworfen. Eindeutig fehlen hier aber einzelne Skizzen und Entwürfe. Denn entsprechend der Paginierung und den Taktangaben waren die Takte 49 und 50 auf einer derzeit fehlenden Seite 11 notiert. Auch fehlt angesichts der Entwicklungsstadien eine weiterentwickelte Fassung der Seiten 1 und 2 mit den Takten 1–17. Zum dritten Satz Abendphantasie liegen mehrere Versionen für die ersten Takte und mehrere größtenteils aufeinanderfolgende, zum Teil flüchtig notierte Seiten für alle Takte im zweiten Teil vor. Es fehlen womöglich Notizen zu den Takten 4–12 sowie eindeutig Blätter mit den Seitenzahlen 4 und 5 für die Takte 18–34 (also mit der für Ligetis Schreibweise typischen Anzahl von etwa acht Takten pro Partiturseite).

Für die Drei Phantasien ist insgesamt wie bei anderen Werken des Komponisten davon auszugehen, dass eine Reihe kompositorischer Ideen im Kopf direkt ohne Zwischenskizzen (weiter-)entwickelt und dann in der Reinschrift oder womöglich zunächst teilweise auf nicht mehr vorliegenden weiteren Skizzenseiten notiert wurde. Entsprechend den zunächst aufeinander bezogenen motivischen Einfällen auf einer Skizzenseite (Image 10) kann geschlossen werden, dass zumindest die ersten Skizzen für Wenn aus der Ferne und Abendphantasie zeitnah zueinander entstanden, aufgrund der ähnlichen Überlegungen zur Besetzung jedoch wohl auch parallel zu ersten Skizzen von Hälfte des Lebens. Ein vergleichbares Vorgehen beobachtete bereits Wolfgang Marx bei den Skizzen der für die King’s Singers später komponierten Nonsense Madrigals. Auch er geht aufgrund der Quellenstudien davon aus, dass die später nachgereichten Madrigale Nr. 5 und 6 bereits in der ersten Phase der Werkkonzeption mit angedacht wurden.[21]

Folgt man den Definitionen von Peter Benary für vier Skizzentypen[22], legte Ligeti vor allem Verlaufsskizzen bzw. bereits fortlaufende Entwürfe in Partitur an. Doch an deren Kopf oder öfter in den letzten übriggebliebenen Notenzeilen am Fuß und am Rand der Seiten finden sich zusätzlich öfter knappe Skizzen zum Tonmaterial und beispielsweise mehrfach Niederschriften von nicht-rhythmisierten Melodien. Dies gilt beispielsweise für den Textanfang (»Mit gelben Birnen und voll mit wilden Ro[sen …]«) zu Hälfte des Lebens (Image 5; Bsp. 2). Solche knappen Notate müssen sich nicht in jedem Fall auf die darüber notierten Partiturtakte beziehen. Einzelne verbale Eintragungen, die farbig in oder unter die Partituren notiert wurden, verweisen wie im vorliegenden Material zur zweiten der Drei Phantasien (Image 14) beispielsweise auf die Klavieretüden (1985–2001) und das Klavierkonzert (1983/84; direkte kompositorische Bezüge zu beiden Werken ließen sich bisher jedoch nicht herstellen). Nicht nur die diastematische Anlage der Stimmen ist in diesen frühen Skizzen zunächst vorwiegend schlicht. Auch die Rhythmik differenziert Ligeti erst in einer späteren Skizze, wenn er statt einfacher Achtel zu Beginn von Hälfte des Lebens triolische, sich kanonisch überlappende Anlagen oder statt Ganzer Noten rhythmisierte Tonfolgen in einzelnen Bassstimmen verwendet. Bereits die noch suchend wirkenden Anfangsskizzen zu Hälfte des Lebens sind allerdings mehrstimmig angelegt. Eigentliche Ausschnittsskizzen existieren allenfalls für wenige Takte, z.B. ohne Textnotation (Image 13). Im vorhandenen Material dominiert nach den Anfangstakten der Sätze die Verlaufsskizze, die gleich den Gesamtsatz in Partiturform entwickelt.[23]

4. Zu Ligetis Arbeitsweise – Die Rolle der Anfangstakte

Das vorliegende Material lässt erkennen, dass Ligeti mehrfach die Gestaltung des Anfangs aller drei Sätze veränderte, teilweise Skizzen überarbeitete bzw. überschrieb und dabei auch parallel mehrere Gedanken auf einer Seite anordnete, um womöglich zwischen verschiedenen Konzeptionen abwägen zu können. Die Skizzen des zweiten und teilweise des dritten Satzes deuten darauf hin, dass spätestens ab dem fünften Takt recht zügig durchkomponiert wurde. Für die Gesamtgestaltung sind die ersten Takte aller drei Sätze interessant, weshalb Details hierzu im Folgenden an Beispielen aus dem ersten und dritten Satz erläutert werden sollen.

Ligeti erprobte und entschied erst bei der Notation der Anfangstakte manche (und teilweise grundlegende) Details des Tonsatzes. Hierzu zählen Tempo, Taktart, Anfangsmotivik, Besetzung und Einsatz bestimmter Stimmen – und natürlich mitunter erkennbar die Textverwendung. Dabei legte Ligeti offenbar bereits am Anfang die Gesamtdauer eines Satzes mit der Anzahl der Takte fest, die er teilweise schon in diesem frühen Stadium schriftlich festhielt. Nach den grob skizzierenden Anfangsskizzen, die zunächst sämtlich (also auch zum zweiten Satz) in einer geraden Taktart notiert sind, ändert Ligeti die Stimmführung nur im Detail. Am ehesten verändert er die Rhythmik und streicht nur ausnahmsweise komplette kurze Passagen der Entwurfsfassung, wobei sich dann z.B. eine Silbe vom synkopisch gestalteten Auftakt zum Volltakt verschieben kann. Womöglich wollte Ligeti dadurch in bestimmten Fällen Wortbetonungen angemessener gestalten.

Aus der Betrachtung der vorliegenden Skizzen geht hervor, dass Ligeti nach den anfänglichen Überlegungen zu den ersten Takten der drei Sätze eine recht genaue Konzeption zur Textverteilung einschließlich einer ›dramaturgischen Gestaltung‹ und damit auch die Form des Werks im Kopf hatte. Dafür spricht auch, dass er die geplante Dauer mittels Minutenangaben und Taktzahlen mehrfach für den kompletten zweiten Satz am Rand der vorliegenden Skizzen notierte.[24] Da sich der kompositorische Entscheidungsprozess insgesamt am ehesten an den Anfängen nachvollziehen lässt, folgen nun Fallstudien, die für den ersten und den dritten Satz jeweils unterschiedliche Aspekte beleuchten.

5. Die ersten Takte zu Hälfte des Lebens

Die Skizzen der Anfangstakte zu allen Sätzen der Drei Phantasien in Mappe 41 geben Hinweise darauf, dass Ligeti vor allem Besetzungsmöglichkeiten – mit oder ohne Solist*innen – sowie die Anfangsmotivik für die Gedichtanfänge erprobte. Das Skizzenmaterial des ersten Satzes veranschaulicht, wie Ligeti sich allmählich an die endgültige Besetzung herantastete und die rhythmisch-motivische Struktur differenzierte.

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Beispiel 2a: György Ligeti, Drei Phantasien, Skizze zu Nr. 1 Hälfte des Lebens (Mappe 41, Image 6, Faksimile der Handschrift), © Paul Sacher Stiftung, Basel

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Beispiel 2b: György Ligeti, Drei Phantasien, Skizze zu Nr. 1 Hälfte des Lebens (Mappe 41, Image 5, Faksimile der Handschrift), © Paul Sacher Stiftung, Basel

Besetzung

Wenn Ulrich Dibelius im MGG-Artikel zu Ligeti von einer »lang gewohnte[n] Besetzung«[25] der Hölderlin-Phantasien spricht und damit wohl vor allem auf das populäre Lux aeterna anspielt (das Requiem verlangt einen 20-stimmigen Chor, frühe Chorwerke weniger als 16 Stimmen), relativieren die Skizzen und Entwürfe diese Aussage. Denn in den Anfängen aller drei Sätze änderte Ligeti mehrfach die Besetzung. Dabei beschäftigte ihn offensichtlich vor allem die Frage, ob solistische Stimmen und ein Chor, nur Solist*innen oder nur Chor eingesetzt werden sollten. Zudem war er zunächst von einem acht- bis zwölfstimmigen Satz ausgegangen, welcher erst später in die Besetzung mit größerer Stimmenzahl überführt wurde.[26]

Die beiden Skizzenseiten 1 (Images 6 und 5) und 2 (Image 7) zum ersten Satz Hälfte des Lebens spiegeln den schwankenden Entscheidungsprozess bezüglich der Besetzung wider. Ligeti erwog Besetzungsgrößen mit acht, womöglich zehn, in jedem Fall auch zwölf und 16 Stimmen, mit und ohne Solist*innen, als mehrfach besetzter Chor oder nur solistisch. Eine echte Mehrchörigkeit erwog er offenbar für dieses Stück nicht, anders als bei den folgenden Magyar Etüdök.

Auf der wohl frühesten Skizzenseite 1 (Image 6) mit einer noch langsameren Tempovorgabe ( = 40) als in der Reinschrift ( = 48) notierte Ligeti mehrere verworfene Ideen für zehn bis zwölf Stimmen: links zunächst sechs Soli (S1, S2, M, A, T, B[a]r) und sechs Chorstimmen (S, M, A, T, B[a]r, Bs), von denen die Frauenchorstimmen Sopran, Mezzo und Alt kanonisch auf dem repetierten e1 einsetzen (ein Anfang für »S solo« mit »S« [Chor?] darunter ist nicht fortgeführt); in blau finden sich danach Partiturangaben für vier Soli (S, M, T, Bar) und sechs Chorstimmen (S, M, A, T, Bar, Bs). Direkt darauf folgen wohl im Sinne einer Korrektur eine dick blau notierte Besetzungsvorgabe mit fünf bzw. sechs Solostimmen (S solo 1, S solo 2, M, A [ad lib….], T, Bar) sowie sechs eingerahmte Angaben für sechs Chorstimmen (S, M, A, T, Bar, Bs). Unterhalb der Noten formulierte Ligeti am Fuß der Seite den Vorschlag »oder 12 Soli«. Hier schwankte er also zwischen der Entscheidung für zwölf gleichberechtigte Solist*innen oder für bis zu sechsstimmiges Solist*innenensemble plus sechsstimmigen Chor.[27] Offenbar erschien ihm letztlich die Option, Solist*innen einzusetzen, jedoch nicht attraktiv genug, sodass er für einzelne oder auch alle Stimmgruppen kanonische polyphone Strukturen mit gleichberechtigten Stimmen entwickelte.

Nach dem Studium der geschilderten Anfangsskizzen bleibt offen, ob Ligeti zunächst erwog, für jeden Satz der Drei Phantasien eine andere Besetzung zu wählen. Immerhin hatte er Jahre zuvor in Budapest zwei A-cappella-Chöre (1955) nach Texten von Sándor Weöres in verschiedenen Besetzungen komponiert: für acht Stimmen mit bis zu zwei Soli in Éjszaka (Nacht) sowie fünf bzw. dann zehn Stimmen in Reggel (Morgen).

Für heutige Aufführungen spielt der Entscheidungsprozess in Bezug auf die Besetzung insofern eine Rolle, als Ligeti im Titel der Druckfassung eindeutig einen 16-stimmigen gemischten Chor a cappella und nicht ein Solist*innenensemble benennt. Ericson dirigierte die Uraufführung mit einem 32-köpfigen Chor, also in vermutlich klanglich eher heikler doppelter Stimmbesetzung, und trug in seiner Dirigierpartitur namentlich Solist*innen für die markante »Nachtigallenpassage« des zweiten Satzes ein, ganz entsprechend Ligetis Vorschlag »Soli ad lib.« für diese Stelle.[28] Trotzdem sprechen die stimmlich ausgesprochen virtuose Gestaltung und der dicht gewebte Gesamtklang nicht grundsätzlich gegen eine Aufführung mit nur 16 gleichberechtigten Einzelstimmen. Zudem wäre die ursprünglich für Mai 1983 geplante deutsche Erstaufführung mit Clytus Gottwalds 16-stimmigem Ensemble, der Schola Cantorum, solistisch besetzt gewesen.[29] 16 gleichberechtigte Stimmen ermöglichten aufgrund der vorhandenen Symmetrien jedenfalls, klanglich, räumlich und in der formalen Anlage flexibel zu schreiben, wobei Ligeti weitaus mehr Möglichkeiten innerhalb der Sätze nutzte als noch in Lux aeterna.

Motivik

Die Frage zur Besetzung gewinnt insofern auch für die Motivik an Bedeutung, da Ligeti in der erkennbar frühesten Fassung der Skizzenseite 1 zum ersten Satz (Image 6, Bsp. 2a) zunächst zwischen Motiven der Chor- und Solostimmen unterschied. Er ließ zunächst drei Frauenchorstimmen kanonisch ab dem e1 sekundweise aufsteigen, strich diesen Anfang und gestaltete dann eine in Solist*innenstimmen um g kreisende Motivik mit sekundweise absteigendem Achtelmotiv und darüber schwebendem Liegeton g1 des Sopransolos 1. Es wäre also prinzipiell vorstellbar, dass der Komponist zunächst an zwei getrennte Kanons für Soli und für Chorstimmen dachte. Beim dritten Anfang des Satzes auf Skizzenseite 2 (Image 7) verteilt Ligeti den Liegeton g auf verschiedene Stimmen, die im Abstand eines Viertels einsetzen, den Ton dann unterschiedlich lang aushalten, ehe sie die absteigende Achtelmotivik aus der zweiten Fassung viertelweise kanonisch fortführen. Hier zeigt sich exemplarisch, dass Ligeti mehrere Ideen erprobt und daraus neue Kombinationen weiterentwickelt.

Unten, in der offenbar spätesten Fassung des Anfangs (Image 5, Bsp. 2b), finden sich in Punktnotation Melodieerfindungen zum Gedichtanfang, z.B. mit dem Beginn der aufstrebenden Terz noch um den Anfangston e1 kreisend, und teilweise mit Mikrointervallen. Da sich Ligeti nicht für die erste, aber auch nicht für die zuletzt notierte Folge auf der Seite entschied, wäre vorstellbar, dass hier zunächst ein melodischer ›Pool‹ am Fuß der Seite vor der Notation der Partiturstimmen notiert wurde. Bereits hier ist die kreisende Melodiegestaltung deutlich angelegt. Weitere Notizen dieser Art liegen zu den Drei Phantasien nicht vor. Offenbar notierte Ligeti danach Motive gleich im rhythmischen Zusammenhang.

Rhythmus

In den Skizzen der Anfänge zum ersten Satz ist der Rhythmus recht schlicht gestaltet. Ligeti entschied sich nicht sofort für die gleichsam über dem Metrum schwebende Rhythmik, die in der Druckfassung erkennbar ist, in der sich die synkopierten Stimmen abwechselnd triolisch und binär überlagern. Ligeti gestaltete zunächst sowohl die Rhythmik als auch die Melodieführungen ›gerade‹, langsam fließend und daher mit gleichmäßig aufeinander folgenden Wortakzenten. Die durch ausgehaltene Überbindungen gleichsam sich einschleichende Sekundreibung findet sich jedoch schon in der ersten vorliegenden Skizze (Image 6, Bsp. 2a). Auch wenn die Triolik und die motivische Bewegung in der späteren Skizzenfassung (Image 5, Bsp. 2b) bereits mehr der Endfassung ähnelt, fehlt noch der Rhythmus punktierte Achtel-Sechzehntel, der in den ›geraden‹ Stimmen (Sopran 2, 4, Alt 2, 4, Tenor 2, 4) in der Druckfassung in Takt 1–3 (Textstelle »Birnen«) zu finden ist.

Allen dargestellten Varianten des Anfangs gemeinsam sind bereits die kanonisch angelegte Motivik mit kleinen Intervallen (vom Mikroton bis zur großen Terz), sich einschleichende Sekundklänge und tendenziell die Motivfortschreitung in Gegenbewegung. Der schwebende Klang wird durch die komplexer überlagerten Rhythmen erst sukzessive entwickelt.

Zyklische Ideen

Ligeti geht somit nicht von Anfang an von einer rhythmisch komplexen Satzstruktur aus, auch die Motivik wird erst allmählich entwickelt. Die Forschung beschreibt wiederholt ›Lamento-Motive‹ in Ligetis Werken der frühen 1980er Jahre, vor allem im Horntrio und im Grand Macabre, und greift beispielsweise den Hinweis des Komponisten auf einige ›madrigaleske Wendungen‹ im Sinne einer expressiven Textausdeutung auf.[30] An den Skizzen wird erkennbar, dass auch motivische Wiederholungen bzw. (satzübergreifende) Beziehungen sowie Variationen nicht in jedem Fall von Anfang an geplant sind. So enthält die verworfene erste Skizze zum ersten Satz noch nicht dasjenige Motiv, das später in allen Sätzen (teilweise variiert) zu erkennen ist: Die absteigende Achtelkette mit kleiner, dann großer Sekunde und folgendem größeren Intervall (vor allem einer Terz in Gegenbewegung) kommt also erst im Laufe der Skizzenarbeit hinzu.

Für den Umgang mit Hölderlins Text ist ein anderes Detail besonders interessant: Ligeti erprobte, wie bereits erwähnt, auf einer Seite mit frühen Skizzen zu Wenn aus der Ferne und Abendphantasie (Image 10, Bsp. 1) die Verwendung derselben Melodie für die Anfangsverse aus beiden Gedichten. Ab den folgenden Skizzen einschließlich der Reinschrift verwarf er jedoch nicht nur die Motivik, sondern auch den Text der ersten Verszeile zu Abendphantasie komplett. Somit entsteht der Eindruck, dass Ligeti am Anfang für einen bestimmten melodischen oder auch satztechnischen Einfall den passenderen Text suchte oder kurzzeitig tatsächlich erwog, die Sätze quasi leitmotivisch oder gar zyklisch zu verknüpfen. Eine Skizze am Fuß der Anfangstakte zu Abendphantasie (Image 16, Bsp. 3) zum Text »Unzählig blühn« und zu »[komm du nun] sanfter Schlummer« aus dem Abschluss des Gedichts erinnert an das Motiv zu »Ihr holden Schwäne« aus Hälfte des Lebens. Ob Ligeti hier tatsächlich die Absicht verfolgte, die Gedichtabschnitte zyklisch aufeinander zu beziehen, um gar eine inhaltliche Verbindung etwa hinsichtlich der Vergänglichkeit zu schaffen, kann jedoch angesichts des vorhandenen Skizzenmaterials nicht eindeutig beantwortet werden – und entspricht nicht dem Ansatz Ligetis, der ja (wie oben dargelegt) eigentliche ›Vertonungen‹ ablehnte.

Weitere Aufschlüsse über den Kompositionsprozess können dagegen auch noch verbale Eintragungen des Komponisten geben, die sich vor allem in den eben angedeuteten Skizzen zum Anfang des dritten Satzes finden.

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Beispiel 3: György Ligeti, Drei Phantasien, Skizzen zu Nr. 3 Abendphantasie (Mappe 41, Image 16, Faksimile der Handschrift), © Paul Sacher Stiftung, Basel

6. Die ersten Takte zu Abendphantasie

»váltott«

Wie bereits erwähnt, verfügte Ligeti über Erfahrung als Chorsänger und hatte bereits mehrfach für Chöre geschrieben. Seine Entwürfe und Skizzen zum Werk lassen erkennen, dass er das chorische Atmen nicht als notwendiges, von der Chorleitung zu lösendes Übel betrachtete, sondern dieses von Anfang an in die kompositorische Arbeit mit einbezog. Auf immerhin neun Skizzenseiten notierte er einen Hinweis auf ›chorisches Atmen‹ mit »váltott léggés kiirva« bzw. abgekürzt »vált« oder »váltott«. Diese meist farbig und schräg markierten Vermerke finden sich bereits in solchen Partiturskizzen, in denen die Stimmen bzw. Stimmgruppen noch nicht rhythmisch ausgearbeitet, sondern meist als Orgelpunkt bzw. Liegeton festgehalten sind. Interessanterweise trägt Ligeti dazu nicht einfach (eingeklammerte) Atemzeichen ein. Stattdessen legt er das chorische Atmen exakt fest, indem er rhythmisch versetzte Pausen in den Chorsatz einfügt.

Beispielhaft kann die Rolle des chorischen Atmens im Kompositionsprozess anhand der beiden Anfangsskizzen der ersten Takte zur Abendphantasie auf Skizzenseite 1 (Image 16, Bsp. 3) nachvollzogen werden. Nach dem verworfenen Anfang mit rhythmisch parallel aufsteigenden Linien der Männerstimmen setzen die Stimmgruppen Alt, dann Sopran und schließlich Bass mit aufsteigenden Motiven ein, während der Tenor den Liegeton g aushält. Hier fügt Ligeti nachträglich für den Tenor farbig die Frage »vált[ott]?« hinzu und gibt sich die Anweisung »átirni!«, also ›umschreiben‹. In der Reinschriftfassung erhält letztlich der Bass den Liegeton g und atmet in zwei gekoppelten Stimmgruppen chorisch an rhythmisch exakt festgelegten Stellen, wodurch der Orgelpunkt kontinuierlich erklingen kann (vgl. Bsp. 4).

Doch vor allem hinsichtlich der Bedeutung der rhythmischen Konzeption hilft die Kenntnis der Eintragung »váltott«: So erklärt sich die dicht hintereinander gesetzte, imitatorisch angelegte Pausensetzung nicht nur als Möglichkeit, den Klang durch die Verteilung auf verschiedene Stimmen auf dem Liegeton g womöglich ›farblich‹ zu modellieren. Betrachtet man auch andere »váltott«-Stellen, liegt es nahe, dass Ligeti nicht grundsätzlich von einem mikropolyphonen Wechsel der Klänge mit Silbenwechsel wie in Lux aeterna ausgeht. In der Abendphantasie ist das chorische Atmen genau festgelegt, um ein durchgehendes Klangfundament der ausgehaltenen Liegetöne gegenüber der bewegten Motivik der anderen Stimmen zu gewährleisten. Diese Festlegung sollte es zugleich ermöglichen, den folgenden Text im (subito) piano gesangstechnisch gut zu bewältigen und damit verbunden angemessen pünktlich den Textakzent darzustellen.[31]

»Rakéta«

Einen weiteren Begriff, nämlich »RAKÉTA« (Rakete), notierte der Komponist zu Beginn der Skizzen zum dritten Satz, offensichtlich um einen kompositorischen Grundgedanken zu vermerken. Obwohl sich Ligeti in verschiedenen Veröffentlichungen anschaulich vor allem im Hinblick auf bildhafte Inspirationen und synästhetische Assoziationen äußerte, erwähnte er diesen jedoch nicht. Dagegen existieren in der Forschungsliteratur wiederholt Hinweise auf u.a. Albrecht Altdorfers Gemälde Die Alexanderschlacht (1529), das in den Skizzen nicht erwähnt wird, das aber laut Ligeti den Anfang der Abendphantasie beeinflusst habe (wie er dies ja bereits für Lontano beschrieb). Die also bisher nur in den Skizzen auffindbare Assoziation »Rakéta« bezieht sich nicht direkt auf den Text (allenfalls ist indirekt ein raketengleich aufstrahlender Abendhimmel vorstellbar), spiegelt aber gut den musikalischen Bewegungsimpuls wider, der sich in allen Versionen der Anfangstakte findet. Daher eignen sich diese Takte auch kaum dazu, die durch Ligeti und danach durch die Forschung erwähnten ›Madrigalismen‹ in den Chorwerken zu belegen. Doch lässt der Notentext erkennen, dass Ligeti für die Druckfassung die ursprüngliche Idee der »Rakéta« des verworfenen Takts 1 der Männerstimmen mit zunehmend kürzeren Notenwerten weiterentwickelte: Bereits bis Takt 5 kontrastiert die Dynamik auch durch die verwendete Satztechnik mit den sich imitierenden Stimmgruppen, wie bereits schon tendenziell in der zweiten Anfangsskizze der Seite (Image 16, Bsp. 3). Somit gewinnt der Gedichtanfang an Expressivität, die nicht nur durch die Vorgaben zur Dynamik, sondern auch die besondere Satztechnik entsteht.

Harmonik

Die Harmonik des Werks verdiente an anderer Stelle eine genauere Untersuchung. Hier seien abschließend nur einige Beispiele aus den Skizzen aufgeführt.[32] Die Aufzeichnungen am Fuß der skizzierten Takte lassen erkennen, dass Ligeti außer kurzen Motiven auch kurze Akkordketten festhält. Solche Notate finden sich jedoch nicht unbedingt in Partiturentwürfen oder gar der Reinschrift des Werks wieder. So sind am Fuß der Skizzenseite 1 zur Abendphantasie (Image 16, Bsp. 3) mit den Anfangstakten vier Septakkorde in Buchstaben notiert (mit N bezeichnet, für ungarisch ›nagy‹ = ›groß‹), FN7, X7 (unklar), GN7, DN7, ohne dass sie sich derzeit exakt spezifischen Takten zuordnen lassen. Letztendlich entwickelt Ligeti bis zur Reinschrift wesentlich komplexere Akkorde. So entsteht allein schon in Takt 1 beim Einsatz »Am Abend[himmel]« sukzessive vom Unisono g über die kleine Sekunde mit as ein siebenstimmiger auch im Ambitus aufgefächerter Akkord, der mit seinen Schichtungen kleiner Terzen in den drei oberen Sopranstimmen, dem Sekundaufbau von unten (g, as, b) sowie den enthaltenen Quarten und Tritoni eine strahlende Wirkung entfaltet und sich einer eindeutigen harmonischen Einordnung entzieht.

Abbildung

Beispiel 4: György Ligeti, Drei Fantasien, Nr. 3 Abendphantasie, T. 1–4 (Druckfassung; © B. Schott’s Söhne, Mainz, 1983)

Diese Anfangstakte lassen exemplarisch erkennen, dass Ligeti einige Grundideen der vertikalen Satzgestaltung aus dem zweiten Partiturentwurf in die Reinschrift übernahm: Der Sekundklang am Anfang mit g im Tenor und dem tieferen fis im Alt wird variiert zum Orgelpunkt g im Unisono und der folgenden Sekunde as transformiert, also dem Tonmaterial, mit dem das Bassmotiv ursprünglich begann. Dagegen wird die tragende Funktion des Alts in Takt 1 der nicht verworfenen Skizze reduziert und die absteigende Chromatik motivisch herausgenommen. Der Gesamtklang der ersten Takte wird durch die Initialbewegung von g zu as und den sich daran anschließenden aufsteigenden clusterartigen Effekt organischer erreicht. Ligeti differenziert den Vokalsatz, wie am Beispiel von Takt 2 zu sehen ist, in der Reinschrift (z.B. an der Stelle der unbetonten Silbe »[A-]bend« und bei dem von den Männerstimmen eingeführten Sekundklang bei »Himmel«) mit einer komplexeren Akkordstruktur, die nun insgesamt deutlich über den Stand der Skizzen hinausweist (Bsp. 4).

7. Schlussfolgerungen

Ligetis Skizzen und Entwürfe lassen erkennen, dass auch komplex strukturierte Werke von metrisch bzw. rhythmisch schlichten Ideen und von einem eher einfachen harmonischen Gedanken ausgehen können.

Der Komponist arbeitete, obwohl er die Textausschnitte überwiegend sukzessiv (dabei nur teilweise verschiedene Verse zeitgleich) verwendete, nicht einfach am Text Hölderlins entlang. Vielmehr experimentierte er in den Anfangstakten vor allem mit motivischen Einfällen sowie der Stimmbesetzung und Textverteilung zu Hölderlins Gedichtanfängen. Dabei wurden zunächst solistische Stimmen in verschiedener Stimmenzahl skizziert und wieder verworfen. Die früheste Skizzenseite 1 zur Abendphantasie veranschaulicht, dass Ligeti in der Frühphase der Komposition noch keine eindeutige Entscheidung hinsichtlich der Textausschnitte oder der zyklischen Gestaltung getroffen hatte. Die skizzierten Anfangsideen lassen insgesamt darauf schließen, dass er sich gleichzeitig mit einzelnen Wörtern und einigen bildhaften bzw. musikalischen Einfällen zu den ausgewählten Gedichten beschäftigte, ohne hier (anders als beispielsweise Heinz Holliger in seinen Hölderlin-Werken) ein ausgesprochen literaturwissenschaftliches oder psychologisches Interesse am Autor Hölderlin in den Kompositionsprozess einfließen zu lassen.

Verbale Eintragungen geben weitere Hinweise auf Ligetis Arbeitsweise, zumal separate Notizzettel oder ähnliche frühe Niederschriften zu diesem Werk fehlen. Dichte Klangflächen, beispielsweise in den Männerstimmen als Fundament, sind schon mit verbalen Vermerken konzipiert, während der eigentliche Tonsatz noch nicht ausgearbeitet ist. Es ließ sich nachweisen, dass der Komponist offensichtlich großen Wert auf die rhythmische Festlegung des chorischen Atmens legte. Wie am Beispiel zu den »váltott«-Vermerken ausgeführt, ist eine vermeintliche Tendenz zur mikropolyphonen Anlage an mehreren Stellen vielmehr das Ergebnis der Suche nach einem dichten vokalen ›Klangfundament‹ im Gesamtsatz und ein Mittel, die gesangstechnische Ausführung pragmatisch zu unterstützen. Nicht zuletzt kann die Untersuchung der Skizzen dazu beitragen, die besonderen Gestaltungselemente der Drei Phantasien besser zu erfassen und entsprechend zu würdigen. Dadurch, dass die Skizzen erwogene (und verworfene) Alternativen zeigen, kann deutlich werden, worin die spezifische Qualität des musikalischen Satzes im Hinblick etwa auf Motivik und Harmonik besteht.

Die Skizzen bedeuten jedoch nicht für alle Details einen wichtigen Schlüssel zum Werk: Wenn Ligeti im Kompositionsprozess beispielsweise die Titel anderer Werkprojekte aus der Zeit, wie die darauf entstandenen Etüden für Klavier und wohl das Klavierkonzert, in die Skizzen eintrug, heißt dies nicht zwangsläufig, dass Kompositorisches aus den Drei Phantasien in die genannten Werke eingeflossen ist. Die vorliegenden Skizzen ermöglichen schließlich eine differenziertere Einordnung der publizierten Äußerungen des Komponisten in seinen Werkkommentaren. So verweist Ligeti in den überlieferten Skizzen weder auf die in der Forschung vielzitierte Alexanderschlacht Altdorfers noch auf musikgeschichtliche Referenzen wie die Vokalpolyphonie der Renaissance. Jedoch spiegelt sich der kompositorisch leitende Bewegungsimpuls zu Beginn des dritten Satzes im Begriff »Rakéta«.

Somit erlauben die Skizzen und Entwürfe nicht nur einen Blick in die Kompositionsweise Ligetis, der zeigt, wie die Ideen sich erst in der konkreten Arbeit am Material nach und nach und dann zunehmend rascher entfalten. Sie können zugleich ein wichtiges Hilfsmittel und Korrektiv sein, um wesentliche kompositorische Ideen analytisch genauer zu erfassen.

Anmerkungen

1

Mehrere Themenkonzerte professioneller Chöre widmeten sich in den letzten Jahren Hölderlin: Das SWR Vokalensemble wählte das Werk sowohl 2016 für das Festkonzert zum 70-jährigen Bestehen des Chors als auch für Aufführungen mit einem Hölderlinprogramm im April 2017 in Stuttgart und Heidelberg aus. Zuvor führte der RIAS Kammerchor 2014 die Drei Phantasien in Kombination mit Die Jahreszeiten für gemischten Chor (1925) von Ernst Křenek einschließlich einer Uraufführung von … in der Hülse von Schnee … von Torsten Rasch auf, während der NDR Chor bereits 2012 im Rahmen von »Ein Abend für Friedrich Hölderlin« das Stück u.a. mit Kaija Saariahos Tag des Jahrs für gemischten Chor und elektronische Instrumente (2001) sowie Uraufführungen von Michael Langemann und Jörn Arnecke vortrug.

2

Ohne die Unterstützung der Paul Sacher Stiftung wäre das zweimonatige Skizzenstudium nicht möglich gewesen. An dieser Stelle sei stellvertretend für weitere Mitarbeiter*innen der PSS herzlich Frau Dr. Heidy Zimmermann als Kuratorin der Sammlung und Frau Evelyne Diendorf als Bibliothekarin für die hilfreiche Unterstützung und die motivierenden Anregungen gedankt. Sehr dankbar bin ich ebenfalls Frau Christa Markovits, Basel, und Herrn Dr. Márton Kerékfy, Budapest, für ihre Unterstützung bei der Klärung einiger schwer entzifferbarer ungarischer Wörter in den untersuchten Skizzen der Sammlung in Basel.

3

Vgl. beispielsweise Ligetis Brief an Wilfried Gruhn vom 6.3.1975 (Paul Sacher Stiftung, Mikrofilm 266.1, 1148) sowie Ligeti 2007, Bd. 2, 285f.

4

Ligeti gab auch Interviews und verfasste Kurzeinführungen zu diesem Werk (vgl. seine Äußerungen in Ligeti 2007, Bd. 2, 285f.). Seine Schilderung außermusikalischer Assoziationen findet sich dann in der Forschungsliteratur wieder.

5

Vgl. Konrad 1992.

6

Eigentliche Skizzenbücher wie zu früheren Werken liegen zu dieser Schaffensphase nicht vor. Einen Überblick über die Skizzenarbeit Ligetis mit Erläuterung zu Beispielen aus verschiedenen Schaffensperioden bieten Steinitz 2011 und Steinitz 2012, ohne auf die Drei Phantasien einzugehen. Zu Ligetis Umgang vor allem mit Bleistiftskizzen und frühen Skizzenbüchern vgl. auch Sallis 2015, 7, 107, 158f. Jonathan Bernard (2011) nimmt am Beispiel des Requiems eine Kategorisierung der Skizzen vor, die sich für die vorliegenden Skizzen nicht eignete. Das Verzeichnis Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung (Zimmermann/Diendorf 2016) ermöglicht einen ersten Überblick über das in der Stiftung gesammelte Skizzenmaterial Ligetis.

7

Vgl. Benary 1998, 1508.

8

Vgl. György Ligeti, »Magány«, in: Ligeti 2007, Bd. 2, 145. Bis heute sind neben dem bekannten Lux aeterna insbesondere die zwei Chorsätze Éjszaka (Nacht) und Reggel (Morgen) für achtstimmigen gemischten Chor (1955) öfter im Konzertsaal zu hören; manchmal werden sie auch von engagierten Laienchören aufgeführt.

9

Peter Hanser Strecker Stiftung, Archiv Schott, Dokument 17213, vor dem 26.8.1983 verfasst.

10

Vgl. handschriftliche Postkarte von Ligeti an Ericson vom 3.10.1982 (Kungliga Biblioteket Stockholm, Personarkiv Eric Ericson, Box 2010_61_4&5). Bereits in der Korrespondenz mit Schott wird erwähnt, dass Clytus Gottwald den ersten Satz vor November 1982 als Beispiel erhalten solle. Das Projekt nahm Ligeti um den Jahreswechsel 1982/83 noch einmal intensiv in Angriff, zuletzt lag die Abendphantasie dem Verlag vor.

11

Vgl. maschinenschriftlicher Brief Ligetis an Klaus Schöll vom 2.2.1983 (Peter Hanser Strecker Stiftung, Archiv Schott, in: Mappe 18365, Korrespondenzen und Aktennotizen, Schott 1983, Kopien). Hier kündigte er außerdem an, nun die Magyar Etüdök auf Texte von Weöres zu komponieren.

12

Die Auflistung in ›Images‹ folgt hier der derzeitigen Zählung der Paul Sacher Stiftung zur gescannten Mappe 41 der Sammlung György Ligeti.

13

Vgl. u.a. den Brief Helmuth Rillings an Ligeti vom 5.4.1979 (Paul Sacher Stiftung, Mikrofilm 267.1, 403f.).

14

Vgl. Ligetis Brief an den schwedischen Freund Ove Nordwall vom 3.11.1981 (Paul Sacher Stiftung, Mikrofilm 109.1).

15

So Vera Ligeti in einer E-Mail an die Autorin vom 12.2.2017.

16

Vgl. Diskussionsbeitrag Ligetis in Lichtenfeld 1987, 132.

17

Vgl. Aktennotiz von Klaus Schöll nach einem Anruf Ligetis vom 3.9.1982 (Peter Hanser Strecker Stiftung, Archiv Schott, in: Mappe 18364, Korrespondenzen und Aktennotizen, Schott 1982, Kopien).

18

Vgl. die Zusammenfassungen u.a. mit dem Hinweis auf die sprachliche Antithetik bei Floros (1996, 168–171) und vor allem die früheren Ausführungen bei Lichtenfeld (1987, bes. 123–128). Detailliertere Ausführungen zu Ligetis Umgang mit Literatur (Hölderlins) würden hier den Rahmen sprengen. Diesem Thema möchte die Autorin daher einen eigenen Aufsatz widmen.

19

Diskussionsbeitrag Ligetis in Lichtenfeld 1987, 132f.

20

Im Vergleich dazu enthalten die Magyar Etüdök (1983, nach Sandor Weöres) in Mappe 151 insgesamt nur elf Entwürfe und Skizzen für sämtliche Sätze.

21

Vgl. Marx 2012, 143.

22

Vgl. Benary 1998, 1508. Benary unterscheidet hier zwischen erstens der »thematisch-motivische[n] Skizze, meist einstimmig notiert«, zweitens der »kombinatorische[n] Skizze«, drittens der »Ausschnittsskizze« sowie viertens der »Verlaufsskizze«.

23

Die weiteren Mappen mit Reinschriften, von denen der erste Satz derzeit nur in Kopie vorliegt (Mappe 42), sowie Druck- und Korrekturfassungen (Mappe 43) bieten keine weiteren Aufschlüsse zur Entstehung und zu möglichen analytischen Besonderheiten.

24

Dies ist beispielsweise auf der Skizzenseite 15 (Image 27) gegen Ende des zweiten Satzes erkennbar. Zur genaueren Gestaltung der Form in den Drei Phantasien erläutert die Dissertation von Jane P. Clendinning mit exemplarischen Schautafeln verschiedene Aspekte der Stimmführung wie Mikropolyphonie und »Pattern Meccanico« in den Sätzen, allerdings ohne Bezug auf die Gedichttexte (vgl. Clendinning 1989, v.a. Bd. 2, 176–196).

25

Dibelius 2004, 119.

26

Die zunächst geringere Stimmenanzahl ist jedenfalls nicht darauf zurückzuführen, dass Ligeti den musikalischen Satz in Form eines Particells notierte und daher womöglich zunächst pausierende Stimmen wegließ. Auch die eingesehenen Skizzen zu Éjszaka und Reggel mit fünf bis acht Stimmen in Mappe 47 sowie die zu den sechsstimmigen Nonsense Madrigals in Mappe 167 wurden sofort in einer kompletten Besetzung notiert. Die Seiten zu Lux aeterna in Mappe 66 enthalten eher seriell orientierte Konzeptionen sowie Notizen zu Skalen und Stimmführungen, dann jedoch gleichfalls Skizzen zur vollständigen Besetzung (viermal vier Stimmen).

27

In den direkt nach den Drei Phantasien entstandenen Magyar Etüdök (Uraufführung in Stuttgart mit Gottwalds Ensemble Schola Cantorum im Rahmen des Konzerts zu Ehren des 60. Geburtstags des Komponisten) schwankte Ligeti für den ersten Satz zunächst entsprechend den Skizzen zwischen zwölf und acht Stimmen (Mappe 151).

28

Handschriftliche Notiz des Dirigenten in der Dirigierpartitur (Kungliga Biblioteket Stockholm, Personarkiv Eric Ericson, Box 2010_152).

29

Für die solistische Besetzung entschied sich das SWR Vokalensemble bei Aufführungen in der letzten Zeit. An dieser Stelle sei herzlich dessen Mitgliedern für zwei eindrucksvolle Proben und Konzerte sowie anregende Gespräche zum Thema gedankt.

30

Vgl. Steinitz 2003, 259 und Bauer 1997, 298ff. Bereits zuvor stellte Constantin Floros Beispiele für Ligetis expressive Textausdeutung mit diesem Begriff dar (vgl. Floros 1985 und Floros 1996, 169f.); Englbrecht spricht ohne weitere musikhistorische Einordnung von »madrigalesker Klangsymbolik« (Englbrecht 2001, 173) und stellt mit dem Begriff »Soggetto« von hier ausgehend Varianten eines »motivischen Modells« zum zweiten Satz auf (ebd., 175–177).

31

Das Skizzenmaterial zu Ligetis anderen Chorwerken a cappella zeigt nicht solche gehäuften Eintragungen mit »váltott«. Keine Eintragungen finden sich beispielsweise zu Lux aeterna. In den Materialien zu Magyar Etüdök existiert nur ein kurzer Hinweis auf chorisches Atmen am Ende des eher flächig angelegten zweiten Chorsatzes (Mappe 151). Die Skizzen zu den späteren Nonsense Madrigals (Mappe 167) enthalten nur in I,5 (Image 49) in den Takten 42–44 ausnahmsweise den verbalen Hinweis »váltott légges« für den Bass.

32

Searby spricht summarisch von »pitch centers« und »tonal harmony«, die er an einem kurzen Beispiel des ersten Satzes zeigt (vgl. Searby 2010, 126–128); vgl. auch die sehr vage Andeutung zur Harmonik (»distinkte diatonische harmonische Gestalten in unkonventioneller Abfolge«) bei Englbrecht (2001, 181).

Literatur

Bauer, Amy M. (1997), Compositional Process and Parody in the Music of György Ligeti, Ph.D., Yale University.

Benary, Peter (1998), »Skizze – Entwurf – Fragment«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2. Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 8, Kassel: Bärenreiter / Stuttgart: Metzler, 1506–1519.

Bernard, Jonathan W. (2011), »Rules and Regulation: Lessons from Ligeti’s Compositional Sketches«, in: György Ligeti. Of Foreign Lands and Strange Sounds, hg. von Louise Duchesneau und Wolfgang Marx, Woodbridge: Boydell, 149–167.

Clendinning, Jane Piper (1989), Contrapuntal Techniques in the Works of György Ligeti (2 Bde.), Ph.D., Yale University.

Dibelius, Ulrich (2004), »Ligeti, György«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2. Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 11, Kassel: Bärenreiter / Stuttgart: Metzler, 108–121.

Englbrecht, Bernd (2001), Die späte Chormusik von György Ligeti, Frankfurt a.M.: Lang.

Floros, Constantin (1985), »Ligetis Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin«, Neue Zeitschrift für Musik 146/2, 18–20.

––– (1996), György Ligeti. Jenseits von Avantgarde und Postmoderne, Wien: Lafite.

Konrad, Ulrich (1992), Mozarts Schaffensweise. Studien zu den Werkautographen, Skizzen und Entwürfen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Lichtenfeld, Monika (1987), »›… Und alles Schöne hatt’ er behalten …‹. Fragmente zu Ligetis Ästhetik«, in: György Ligeti. Personalstil – Avantgardismus – Popularität, hg. von Otto Kolleritsch, Wien: Universal Edition, 122–133.

Ligeti, György (2007), Gesammelte Schriften (2 Bde.), hg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott.

Marx, Wolfgang (2012), »›How I wonder what you’re at!‹ – Sketch Studies of Ligeti’s Nonsense Madrigals«, Contemporary Music Review 31/2–3, 135–148.

Sallis, Friedemann (2015), Music Sketches, Cambridge: Cambridge University Press.

Searby, Michael D. (2010), Ligeti’s Stylistic Crisis: Transformation in His Musicial Style 1974–1985, Plymouth: Scarecrow.

Steinitz, Richard (2003), György Ligeti. Music of the Imagination, London: Faber & Faber.

––– (2011), »À qui un hommage. Genesis of the Piano Concerto and the Horn Trio«, in: György Ligeti. Of Foreign Lands and Strange Sounds, hg. von Louise Duchesneau und Wolfgang Marx, Woodbridge: Boydell, 169–212.

––– (2012), »The Study of Composer’s Sketches, and an Overview of those by Ligeti«, Contemporary Music Review 31/2–3, 115–134.

Zimmermann, Heidy / Evelyne Diendorf (Hg.) (2016), Sammlung György Ligeti. Musikmanuskripte, Mainz: Schott.

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