Froebe, Folker / Birger Petersen / Jan Philipp Sprick (2012), »›Musiktheorie im 19. Jahrhundert‹ – XI. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Hochschule der Künste Bern, 2. bis 4. Dezember 2011«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 9/1, 145–148. https://doi.org/10.31751/676
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 26/11/2012
zuletzt geändert / last updated: 18/11/2013

»Musiktheorie im 19. Jahrhundert« – XI. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Hochschule der Künste Bern, 2. bis 4. Dezember 2011

Folker Froebe, Birger Petersen, Jan Philipp Sprick

Wer heute von ›historisch informierter Musiktheorie‹ spricht, meint damit in der Regel eine Musiktheorie, die sich explizit auf die Quellen des 16. bis 18. Jahrhunderts bezieht. Dass hingegen viele Zeugnisse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts lange Zeit unberücksichtigt blieben, kann als Folge einer Fixierung auf Lehrtraditionen und ›Systeme‹ dieser Epoche verstanden werden, von denen sich in einer ersten Phase der ›Historisierung‹ des Faches zumeist programmatisch abgegrenzt wurde. Vor diesem Hintergrund verfolgte die Themenstellung des XI. Jahreskongresses der GMTH ein doppeltes Anliegen, nämlich einerseits den »heute noch nachwirkenden großen systematischen Entwürfe[n]«[1] dieser Zeit neue Aspekte abzugewinnen und andererseits vergessene oder weniger dominante Strömungen und Lehrtraditionen aufzuarbeiten. Angesichts des Umstandes, dass sich die Institutionen unseres gegenwärtigen musikalischen Ausbildungssystems im 19. Jahrhundert formierten, schien es den Gastgebern zudem geboten, die Aufmerksamkeit auf den kulturgeschichtlichen Zusammenhang zwischen inhaltlichem und institutionellem Wandel zu lenken.

Der Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie war nach Basel (2003) zum zweiten Mal in der Schweiz zu Gast und spiegelte damit das Selbstverständnis der GMTH als Forum der gesamten deutschsprachigen Musiktheorie. In allen drei deutschsprachigen Ländern gibt es, unabhängig von den konkreten institutionellen Ausformungen, Tendenzen, das wissenschaftliche Profil musikalischer Ausbildungsstätten zu stärken. In der Schweiz zeigt sich diese Entwicklung u.a in der Integration früherer Musikhochschulen und -akademien in künstlerische Fachhochschulen mit einem ausgeprägten Forschungsprofil. Daraus resultiert auch an der gastgebenden Hochschule der Künste Bern (HKB) eine Infrastruktur, insbesondere im Hinblick auf Stellenprofile und wissenschaftliche Projekte, die an deutschen Musikhochschulen nach wie vor die Ausnahme darstellt. Dass der Kongress in der Forschungsabteilung einer fächerübergreifenden Kunsthochschule stattfand, zeigte schon der für Musiktheorie-Kongresse ungewöhnliche Veranstaltungsort, dem die direkte Nachbarschaft der bildenden Künstler – äußerlich wie atmosphärisch – anzumerken war.

Die Veranstaltungen am Eröffnungstag fanden jedoch nicht in der HKB statt, sondern in dem stimmungsvollen Berner Veranstaltungszentrum ›Dampfzentrale‹. Begrüßt wurden die Kongressbesucher von Thomas Beck (dem Direktor der HKB), Graziella Contratto (der Leiterin des Fachbereichs Musik an der HKB), Martin Skamletz (dem Leiter des ›Forschungsschwerpunkts Interpretation‹ der HKB), dem die Hauptverantwortung für die Organisation der Veranstaltung oblag, Roman Brotbeck (dem Leiter ›Forschung‹ an der HKB) sowie Anselm Gerhard (dem Direktor des Instituts für Musikwissenschaft an der Universität Bern) und Johannes Menke (dem Präsidenten der GMTH).

Die Stärkung des Forschungsprofils künstlerischer Hochschulen geht vielfach einher mit der Installierung von Promotionsprogrammen unterschiedlichen Zuschnitts und ist eng verbunden mit Überlegungen zur Frage des sogenannten ›Dritten Zyklus’‹, dessen Einführung im Rahmen der Bologna-Reformen auch das Fach Musiktheorie berührt. Die von Marie Caffari (Biel/Bern) geleitete Podiumsdiskussion am Eröffnungstag widmete sich – passend zum wissenschaftlichen Profil des Veranstaltungsortes – »Doktoratsprogrammen für MHS-Absolvent/inn/en«. Im Gespräch richtete sich der Fokus weniger auf musiktheoretische Promotionsprogramme als vielmehr auf Fragen der Vergleichbarkeit von Abschlüssen, auch auf europäischer Ebene. Dabei wies Peter Dejans (Gent) auf die breite Wirkung des erprobten docARTES-Programms am Orpheus Instituut hin, während Ulf Bästlein (Graz) und Anselm Gerhard (Bern) künstlerische Promotionsstudiengänge vorstellten, die wissenschaftlichen Promotionen gleichrangig sind bzw. künftig sein sollen. Ludwig Holtmeier (Freiburg) erörterte die Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung eines ›Dritten Zyklus’‹ bereits im nationalen Kontext entstehen, während Oliver Korte (Lübeck) die Vergabe des akademischen Grades eines ›Dr. phil.‹ für die Fächer Musiktheorie und Musikpädagogik ohne Beifachstudium, wohl aber mit Disputation und Rigorosum dokumentierte und verteidigte.

Die drei Keynotes arbeiteten in erster Linie das Potential kulturgeschichtlicher Perspektiven für musiktheoretische Forschungsfragen und -methodologien heraus. Wer die Musik der Vergangenheit von ihren Voraussetzungen her verstehen wolle, so Thomas Christensen (Chicago) in seinem Vortrag »Monumentale Texte, verborgene Theorie«, müsse nicht allein die in schriftlichen Zeugnissen überkommene ›explizite‹ Theorie, sondern auch orale Lehrtraditionen und die verschiedenen institutionellen und sozialen Orte der Theoriebildung und -vermittlung in den Blick nehmen. Daran anknüpfend zeigte Christoph Hust (Leipzig) anhand konkreter Beispiele auf, über welche Kommunikationswege sich »Musiktheorie als kulturelle Praxis« im 19. Jahrhundert verbreitete. Einer ähnlichen Fragestellung folgte – nunmehr aus einer primär methodologischen Perspektive – Markus Böggemann (Kassel) in seinem Vortrag »Komponieren lernen – Wissensformen und Verbreitungsstrategien im 19. Jahrhundert«.

Auf früheren Jahreskongressen führte die thematische Begrenztheit der Sektionsvorgaben dazu, dass zahlreiche Beiträge entweder von vornherein der freien Sektion zufallen mussten oder sich nur mit Mühe den einzelnen Sektionen zuordnen ließen. Dem versuchten die Berner Organisatoren mit einer Auffächerung in sieben thematisch gebundene Sektionen und eine freie Sektion zu begegnen. Nach Abschluss des Auswahlverfahrens zeigte sich freilich, dass mehrere Sektionen nicht oder nur durch eine Unterzahl an Beiträgen hätten repräsentiert werden können. So führte die Ausdifferenzierung der sektionalen Gliederung letztlich zu deren Abschaffung. Im Ergebnis bedeutete das Kongressprogramm gleichwohl einen gelungenen Ausgleich zwischen dem Interesse, der Veranstaltung ein klares Profil zu verleihen, und dem traditionellen Forumscharakter der Jahreskongresse. Mit drei der ursprünglich vorgegebenen Sektionen bewiesen die Veranstalter überdies Gespür für derzeit virulente Themen: Das »Fortleben des barocken Prinzips des Generalbasses in der Kompositionslehre«, »Aspekte der Entwicklung von Unterrichtskonzepten zwischen Privatunterricht und Institutionalisierung« und die »Tendenz zur Bildung von systematischen Erklärungsansätzen«.

Eine Reihe von Vorträgen würdigte den Beitrag von Theoretikern des 19. Jahrhunderts zur ›longue durée‹ des Generalbasses, so etwa die Darstellungen »Zur Wiener Harmonie-, Generalbass- und Kompositionslehre Joachim Hoffmanns (1784–1856)« von Felix Diergarten (Basel) oder zu Josef Gabriel Rheinbergers Bassübungen für die Harmonielehre im Kontext der Partimento-Tradition im 19. Jahrhundert von Birger Petersen (Mainz). Jürgen Blume (Mainz) porträtierte mit Anton André einen weithin unbekannten Offenbacher Komponisten, der eine beachtenswerte Lehre der Fuge (1842) hinterlassen hat.

Eine weitere Gruppe von Referenten widmete sich Fragen des Akkordbegriffs und der Harmonielehre. Den Akkordbegriff des 18. Jahrhunderts erörterte Ludwig Holtmeier (Freiburg) vor allem im Hinblick auf die deutschsprachige Rameau-Rezeption. Nathalie Meidhof (Freiburg/Bern) thematisierte Charles-Simon Catels Wirken am Pariser Conservatoire zu Beginn des 19. Jahrhunderts und seinen Einfluss auf die weitere Entwicklung der französischen Harmonielehre. Johannes Menke (Basel) interpretierte das »Projekt ›Dreiklang‹« als Ausdruck einer Neuorientierung im Kunstverständnis des mittleren 19. Jahrhunderts und verwies dabei auf Parallelen in der zeitgenössischen Rezeption technischer Innovationen.

An Beispielen aus Werken Johann Sebastian Bachs thematisierte Ariane Jeßulat die wechselseitige Durchdringung der aus dem 16. Jahrhundert überkommenen vokalen und der jüngeren instrumentalen Improvisationspraxis. Hans Peter Reutter (Düsseldorf) stellte mit der Vervollständigung eines frühen Mendelssohn-Fragments seine Überlegungen zur stilistischen Entwicklung des Komponisten zur Diskussion. Folker Froebe (Bremen/Detmold) und Jan Philipp Sprick (Rostock/Berlin) schließlich arbeiteten in einem Analyse-Workshop das didaktische und analytische Potential von Sequenzen im 19. Jahrhundert heraus und gingen auf damit zusammenhängende theoriegeschichtliche Fragen ein.

Eine Vielzahl von Beiträgen spiegelte eine neue Unbefangenheit gegenüber der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts, ferner eine Tendenz, die kontinuierlichen Momente zur früheren Theoriegeschichte zu akzentuieren und schließlich ein Interesse an ›Theorie‹ auch jenseits produktionsästhetischer Relevanz. Die kulturgeschichtliche Akzentsetzung des Kongresses ließ deutlich hervortreten, dass sich die Musiktheorie zunehmend der Frage zu stellen hat, worin das genuin ›Musiktheoretische‹ besteht. Auffällig war die vergleichsweise geringe (und dem Augenschein nach bereits seit dem Mainzer Kongress rückläufige) Präsenz der anglo-amerikanischen Musiktheorie und ihrer gegenwärtigen Diskurse: Ob es sich nach einer längeren Phase intensiver Rezeption um die ersten Anzeichen eines Rückzugs auf neugewonnene Gewissheiten handelt, wird sich zeigen.

Ein inhaltlicher Höhepunkt neben dem regulären Vortragsprogramm war die Präsentation des an der HKB angesiedelten Forschungsprojekts »Peter Cornelius als Musiktheoretiker« durch ein Team um Stephan Zirwes und Martin Skamletz mit Roman Brotbeck, Michael Lehner und Nathalie Meidhof, außerdem Sinem Derya Kılıç und Christoph Hust.[2] Der bislang unveröffentlichte Nachlass Cornelius’, der aus der Zeit nach 1867 stammt, in der er an der Königlich-Bayerischen Hof-Musikschule in Münchener als Kompositionslehrer wirkte, ermöglicht eine exemplarische Auseinandersetzung mit der damaligen Unterrichtspraxis. Die erhaltenen Unterrichtsbücher dienen der Forschungsgruppe zudem als Ausgangspunkt für die Entwicklung gegenwärtiger, historisch verbürgter Unterrichtsmodelle.

Ebenfalls am Eröffnungstag fand die Preisverleihung des 2. Aufsatz-Wettbewerbs der GMTH unter dem Jury-Vorsitzenden Michael Polth statt. Ein zweiter Preis ging an Immanuel Ott (Essen), dessen Beitrag »Das kompositorische Verfahren in Jean Moutons Quadrupelkanon Nesciens mater virgo virum« in der vorliegenden ZGMTH-Ausgabe veröffentlicht wird.[3] Ein erster und ein dritter Preis wurden nicht vergeben.

Die beiden Konzerte des Rahmenprogramms fassten den zur Rede stehenden historischen Zeitraum gewissermaßen von beiden Seiten ein: Der jährlichen GMTH-Vollversammlung am Samstagabend stellten die Organisatoren ein Orchesterkonzert des auf Originalinstrumenten musizierenden Ensembles »Concerto Stella Matutina« (Leitung: Kai Köpp) voran, dessen Motto »Komponierende Musiktheoretiker« allseits Neugierde weckte. Im Mittelpunkt des aufschlussreichen Programms standen weithin unbekannte Sinfonien und Konzerte Joseph Riepels und Heinrich Christoph Kochs. Angesichts deren affektiver Homogenität bedurfte es kaum mehr der einführenden Worte Felix Diergartens (Basel), um Kochs kritisches Urteil über die ebenfalls zu Gehör gebrachte Haydn-Sinfonie Nr. 60 in C-Dur (Il Distratto) als Zeugnis verschiedener Ästhetiken interpretieren zu können.[4] Ein Kammerkonzert am Freitagabend präsentierte Rekompositionen der Lyrischen Suite von Alban Berg, die neun Kompositionsstudierende der Hochschule der Künste Bern unter Anleitung ihrer Lehrer (Xavier Dayer, Christian Henking und Frank Sikora) in Anlehnung an ein entsprechendes Unterrichtskonzept des Komponisten Peter Cornelius erstellt hatten. Der musikalischen Sozialisierung und dem Ausbildungsstand entsprechend reichte die Stilistik der Kompositionen von etüdenhafter Zwölftontechnik bis hin zum Free Jazz. Besonders kreative Übertragungen in eine je eigene, wiedererkennbare Sprache boten zwei (auch interpretatorisch beeindruckende) Triokompositionen für Viola, Bassklarinette und Kontrabass von Alice Baumgartner und Ezko Kikoutchi sowie das sehr differenziertes Klavierquartett von Antoine Fachard. Den mitreißenden Ausklang gestaltete die (instrumental wie elektronisch angereicherte) hochschuleigene Band »Help!« mit MC Alberg von Florian Favre.

Den Veranstaltern ist es gelungen, auch im 11. Jahr der GMTH-Kongresse einen neuen thematischen Akzent zu setzen und den gegenwärtigen Stand des Fachdiskurses einzufangen. Zu danken ist Ihnen nicht zuletzt für die hervorragende Organisation des gesamten Ablaufs und für ein rundherum gelungenes Rahmenprogramm.

Anmerkungen

1

»Musiktheorie im 19. Jahrhundert«. 11. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Hochschule der Künste Bern, Programmheft, 3. http://www.gmth.de/static/files/Programm2011.pdf

2

Website »Peter Cornelius als Musiktheoretiker. Zur historisch informierten Didaktik der Musiktheorie«: http://www.hkb.bfh.ch/?id=3296

3

ZGMTH 9/2, 13–23. http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/671.aspx

4

Vgl. Felix Diergarten, »›Auch Homere schlafen bisweilen‹. Heinrich Christoph Kochs Polemik gegen Joseph Haydn«, Haydn-Studien 10/1, 2010, 78–92.

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