Richter, Christoph (2011), »Musiktheorie zwischen Philosophie und Handwerkslehre«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/1, 31–34. https://doi.org/10.31751/620
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 14/06/2011
zuletzt geändert / last updated: 04/07/2013

Musiktheorie zwischen Philosophie und Handwerkslehre

Christoph Richter

Vorbemerkungen

Musiktheorie – verstanden als Disziplin und als Lehrfach – gilt sowohl als eine von vier Säulen der Musiklehrerausbildung und des Musikunterrichts (neben dem künstlerisch-praktischen Bereich, der Musikwissenschaften und der Musikpädagogik) als auch als unverzichtbarer Teil der Lehre und Forschung.

Um die besondere Prägung dieses Bereichs zu markieren, sei auf zwei Unterscheidungen hingewiesen. Es ist (erstens) zu unterscheiden zwischen der Musiktheorie im Wortsinne, also im Verständnis einer ›Schau‹ auf die naturwissenschaftlichen und geistigen Fundamente der Musik, d.h. zwischen einer Philosophie mit kosmologischen, theologischen und (später) ästhetischen Fragestellungen – und (zweitens) den ebenfalls Musiktheorie genannten einzelnen Lehr-, Lern- und Anwendungsfächern, die zusammen eine historisch und systematisch angeordnete Handwerkslehre der Musik bezeichnen.

Die Musiktheorie als Philosophie fragt nach Modellen (Mythen) der Entstehung von Musik, nach ihrem besonderen Wesen und ihrer kosmologischen und/oder religiösen Abkunft und gesellschaftlichen Funktion. Die Musiktheorie als Handwerkslehre bietet Modelle und Regeln für das Verstehen, für das Komponieren, für die klangliche Darstellung und für die Analyse von Musik an.

Beide Bereiche haben sowohl für die musikpädagogische Ausbildung als auch für die musikpädagogische Praxis unverzichtbare Bedeutung. Sie nötigen zu einer zweiten Unterscheidung, nämlich der Musiktheorie als Studienfach und einer Musiklehre als Lehr- und Lernfach des Musikunterrichts.

Unterscheidungen

Eine Schwierigkeit sowohl in der genannten doppelten Unterscheidung als auch in ihrer Anwendung in der Lehre und Forschung liegt darin, dass beide innerhalb ›schwimmender Grenzen‹ agieren, mit Fragen wie: Wie ist das Feld der schuldidaktischen Fragen einzugrenzen? Wo und wie begegnen sich Musiktheorie und Musikwissenschaft? Wie sind ›abbildungsdidaktische‹ Schnellschüsse zu verhindern?

Infolge können Schwierigkeiten sowohl hinsichtlich der Kompetenzzuweisungen der Lehrenden als auch hinsichtlich der Zuordnung der Lehr- und Lernfelder für die Musiklehrerausbildung auftreten. In diesem Störungsstreit befinden sich oft genug Musikwissenschaftler, Musiktheoretiker und Musikpädagogen. Dieser schon recht alte Streit um Zuständigkeiten, um Besitzstände und um Auffassungen der Prioritäten behindert seit je die Reformen und den Studienalltag. Eine Überwindung der Grenz- und Inhaltskriege ist – nach meiner über dreißigjährigen Erfahrung als Dauerreformer – jedoch durch fortgesetzten Diskurs und personale Zusammenarbeit möglich.

Musiktheorie als Philosophie

Eine Philosophie der Musik fragt nicht danach, wie Musik hergestellt wird, wie sie bestimmte Wirkungen erzeugt, wie sie bestimmte Funktionen erfüllt, wie man sie hören kann oder soll… Sie sucht vielmehr nach Antworten auf Fragen ihrer Herkunft und Entstehung; nach ihrer Bedeutung im Leben von Menschen; danach, was sie aus den Menschen und ihrem Zusammenleben macht; danach, wozu sie gebraucht wird. Man kann also nach dem Wie, Wann und Warum der Musik fragen, und man kann nach ihrem Ursprung fragen, aus dem das Wie, wann, warum usw. entstehen. Zur Formel verkürzt: Philosophisch gibt die Musiktheorie Antworten auf ihr ›Dasein‹; handwerklich auf ihre ›Sosein‹.

Die beiden Seiten der Musiktheorie gehören eng miteinander zusammen. Deswegen sind sie auch gut in einer gemeinsamen musiktheoretischen Wissenschaft untergebracht. Das schließt einerseits die Forderung ein, die handwerkliche Musiktheorie in einem Studium immer wieder mit Fragen oder Theorien des ›Daseins‹ (einer Philosophie der Musik) zu verbinden oder auf sie zurückzuführen: seien sie kosmologisch, naturwissenschaftlich oder – wie im Mittelalter – theologisch begründet oder in Mythen erzählt. Fragen der Musiktheorie als Philosophie im Musikunterricht können sein: Wodurch unterscheidet sich das Klingende der Natur von jenem der menschlichen Kultur? Warum ist das Prinzip der Wiederholung in der Musik von so prägender Bedeutung? Was unterscheidet das Sprechen vom Singen? Welche Funktion hat eigentlich ein Instrument, und was macht es aus den Spielern? Solche Besinnungen schuldet der Musikunterricht dem allgemeinen Bildungsgedanken, der den Musikunterricht mit den anderen Fächern verbindet.

Für den Musikunterricht in der allgemeinbildenden Schule scheint mir folgender Dreischritt sinnvoll zu sein, der auch in angemessener Form und Sprache mit sehr jungen Schülerinnen und Schülern möglich ist:

  • Beschäftigung mit dem jeweiligen Phänomen

  • Musizieren, Erfinden, Bewegen, Erörtern…

  • Nach dem ›Dasein‹ fragen.

Musiktheorie als ehrenwertes und anspruchsvolles Handwerk

Unter ›musiktheoretischem Handwerk‹ verstehe ich die künstlerisch-wissenschaftliche Tätigkeit, die dabei hilft, Musik nach überlieferten oder neuen Modellen und Regeln zu erfinden, zu untersuchen, zu lehren. Dieses Handwerk, dessen Begriff (τέχνη) ich aus der Metaphysik des Aristoteles übernehme (als auf Erfahrung und Weisheit gegründetes Handeln und Lehren[1]) umfasst üblicherweise eine Lehre vom Klingenden und Zusammenklingenden, von der musikalischen Formung und der Gestaltung der Zeit, von der Klanggestaltung, den verschiedenen Arten der Mehrstimmigkeit, der melodischen Erfindung u.a. Diese Gebiete in theoretischer und angewandter Hinsicht (vor allem an Beispielen) zu verstehen und zu vollziehen, ist Aufgabe und Voraussetzungen für jeden musikpädagogischen Umgang mit Musik – in der Hochschullehre und im allgemeinbildenden Musikunterricht (auch im Instrumentalunterricht).

Zu Teil mögen sie selbstzwecklich den Interessen an der Musiktheorie als einem eigenständigen Gebiet gelten. Gleichzeitig jedoch dienen sie übergeordneten Zielen und Aufgaben – der Untersuchung von Musikwerken, dem historischen Verstehen der Kompositionsgeschichte und ihrer Entwicklung, dem Musizieren, der Herstellung von Ausgaben und anderen. Für den allgemeinbildenden Musikunterricht überwiegt vermutlich ihre dienende Funktion, weil es in ihm vornehmlich um die Lebensgestaltung von Menschen (auch) mit Musik geht.

Wenn diese Bestimmung gilt, muss das Gebiet der Musiktheorie in der Musiklehrerausbildung gleichsam in zwei Strängen angelegt werden – als ein selbstzweckliches Fach (wenn denn die Lehrerausbildung als akademisches Studium und nicht nur als prolongierte Unterrichtsvorbereitung verstanden wird), und als eine auf den Schulunterricht bezogene Didaktik und Methodik der Musiklehre – nämlich als eine der Bedingungen des (historischen wie systematischen) Musikverstehens, des Musizierens und des Musikerfindens.

Seit langem gibt es Streit darüber, ob und auf welche Weise die selbstzweckliche und die dienende-didaktische Lehre der Musiktheorie konzipiert und ins Verhältnis zueinander gebracht werden sollen. Mehrere Modelle des Studienfaches Musiktheorie in der Lehrerausbildung sind möglich, werden aber leider kaum sinnvoll durchdacht und verwirklicht:

  1. Abzulehnen ist eine ›abbilddidaktische‹ Auffassung der Musiktheorie im Musikunterricht, d.h. die gedankenlose Übernahme der Hochschullehre in den Musikunterricht. Vielmehr ist eine Umwandlung der hochschulischen in eine schulische Musiktheorie unerlässlich, wenn Musiktheorie für Schüler (und Laien) sinnvoll und nützlich sein soll. Die schulische Musiktheorie muss elementar, sprachlich und sachlich einfach, immer mit Beispielen verknüpft und nach Möglichkeit stets zur schülergemäßen Anwendung geeignet sein. Hierfür gibt es Anregungen u.a. bei Diether de la Motte, Clemens Kühn, Hans Mersmann und in Bereichen der experimentellen Musik.

  2. Die musiktheoretische Handwerkslehre kann am Anfang des Studiums stehen (gleichsam als Übergang von der schulischen Erfahrung und als Propädeutikum). Aus ihr kann die hochschul-gemäße systematische und historische Musiktheorie allmählich hervorgehen (mit zunehmender Abstraktion, Fachterminologie, Modell-Theorien usw.).

  3. Umgekehrt kann die hochschulübliche Musiktheorie zunehmend vereinfacht, elementarisiert und auf Grundfragen zugespitzt didaktisiert werden. Dies ist übrigens keine Frage von leichter oder schwerer; vielmehr hat jede Sorte und jede Zielsetzung ihren Anspruch.

  4. Musiktheorie in seinen beiden Bestimmungen kann nebeneinander angeboten werden, als a) wissenschaftlich-künstlerisches und b) schuldidaktisches Studienfach. Ich finde es nicht günstig; aber es erscheint nicht unmöglich.

  5. Es kann jeder einzelne Bereich der musiktheoretischen Handwerkslehre in schuldidaktische Überlegungen, Aufgaben, Verstehensweisen überführt werden.

In allen möglichen Lehrsituationen scheint es mir unverzichtbar,

  • für die Studierenden den Unterscheid zwischen beiden Konzepten der Handwerkslehre zu verdeutlichen;

  • die Handwerkslehre stets an Musikbeispielen zu erörtern und nicht an abstrakten Modellen, seien sie noch so sehr für Prüfungen geeignet;

  • anstelle verfrühter Fachterminologie Alltags- und Privatsprachen als Verstehensvehikel zu benutzen;[2]

  • die Handwerkslehre stets mit anderen Bereichen des Musikunterrichts zu verknüpfen, mit Hören, Musizieren, Musikgeschichte, fachübergreifenden Parallelerscheinungen.

Die Frage ist zu stellen, ob für die beiden Richtungen der musiktheoretischen Handwerkslehre und auch für die Musiktheorie als Philosophie verschiedene Lehrer tätig werden sollten – ich fände das nicht gut. Sie sollten alle die drei behandelten Bereiche der Musiktheorie miteinander verknüpfen können.

Anmerkungen

1

Aristoteles opera 1831, 981 a/b, 982.

2

Wagenschein 1962.

Literatur

Aristotelis opera. Aristoteles graece (1831), hg. von Immanuel Bekker, 2. Bde., Berlin: Reimer.

Wagenschein, Martin (1962), »Physikunterricht und Sprache«, in: Die pädagogische Dimension der Physik, Braunschweig: Westermann, 119–126.

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