Vanselow, Stefan (2010), »Das Eigene im Fremden. Kompositorische Postmoderne zwischen Verarbeitung einer Vorlage und ausgeprägtem Personalstil am Beispiel von Sven-David Sandströms Motette Lobet den Herrn«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 7/3, 361–377. https://doi.org/10.31751/601
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 22/12/2010
zuletzt geändert / last updated: 30/06/2011

Das Eigene im Fremden

Kompositorische Postmoderne zwischen Verarbeitung einer Vorlage und ausgeprägtem Personalstil am Beispiel von Sven-David Sandströms Motette Lobet den Herrn

Stefan Vanselow

Der schwedische Komponist Sven-David Sandström gilt als herausragender Vertreter der musikalischen Postmoderne. In seinen Werken setzt er sich immer wieder mit historischen Vorbildern auseinander, wobei eine reizvolle Dialektik von Personalstil einerseits und Aneignung der Vorlage andererseits entsteht. Am Beispiel von Lobet den Herrn (2003), das auf Johann Sebastian Bachs gleichnamige Motette Bezug nimmt, werden zentrale Kompositionstechniken der neueren Chorkompositionen Sandströms, darunter die serialistische Organisation von Rhythmik und Motivik, die formale Gliederung mittels großflächiger Veränderungen von Tempo und Dynamik sowie der Einsatz von Bi-Akkordik, diatonischen Feldern und dissonanzfreiem Satz, detailliert analysiert und Vergleiche mit der Vorlage angestellt, um Sandströms Schaffen im Koordinatensystem postmodernen Komponierens zu verorten.

Schlagworte/Keywords: Basso continuo; Baustein; canon; diatonisches Feld; dominant chord; Dominantseptakkord; Dreiklang; ionic; ionisch; Johann Sebastian Bach; Kanon; module; motet; Motette; Permutation; Polyphonie; polyphony; Postmoderne; postmodernism; Sven-David Sandström; triad

Der Begriff ›Postmoderne‹ spielt in den Geistes und Kunstwissenschaften seit nunmehr über 30 Jahren eine wichtige Rolle, freilich ohne dass die Forschung bisher einen allgemein anerkannten Konsens hinsichtlich seiner zeitlichen und inhaltlichen Bestimmung herstellen konnte. Als Bezeichnung der auf die ›(klassische) Moderne‹ folgenden historischen Epoche[1] hielt der Terminus im Laufe der 1980er Jahre auch in den musikologischen Diskurs Einzug[2], wo in der Folge die Bewertung der ›Postmoderne‹ und ihr Verhältnis zur ›Moderne‹ kontrovers diskutiert wurden.[3] Die Differenzen hinsichtlich Definition und Charakterisierung der Postmoderne liegen nicht zuletzt darin begründet, dass sie – hierin herrscht immerhin Einigkeit – keinen homogenen Stil und keine einheitliche Programmatik besitzt, sondern zahlreiche, teils sehr unterschiedliche Ausprägungen aufweist. Zu ihren möglichen philosophischen und ästhetischen Positionen gehören beispielsweise die Abkehr von traditionellem Fortschrittsglauben und absolutem Wahrheitsanspruch verbunden mit der Bejahung von Relativismus und Pluralismus, ein verstärktes soziales und ökologisches Bewusstsein, die Wiederentdeckung der Expressivität, eine Hinwendung zum Publikum sowie die Verbindung von bisher als unvereinbar geltenden Elementen.[4] Auch die mehr oder minder explizite Bezugnahme auf Kunstwerke der Vergangenheit ist ein zentrales Merkmal des künstlerischen Schaffens der Postmoderne[5], wobei die Bandbreite der angewandten Verfahren von Stilkopie über Zitat, Collage und Verfremdung, Fortsetzung und Ergänzung bis hin zu Kommentar, Infragestellung, Ironisierung und Kritik reicht.

Einer der profiliertesten zeitgenössischen Komponisten, der immer wieder mit der Postmoderne in Verbindung gebracht wird[6], ist Sven-David Sandström. Geboren 1942 im schwedischen Borensberg, studierte er bei Ingvar Lidholm an der Stockholmer Musikhochschule, wo er später selbst unterrichtete, bevor er 1999 als Kompositionsprofessor an die Indiana University, Bloomington (USA), berufen wurde. Sandström gehört zu den wichtigsten skandinavischen Komponisten seiner Generation und hat ein umfangreiches, gattungsübergreifendes Œuvre vorzuweisen. In den 1980er Jahren wendete er sich verstärkt der Chormusik zu und gilt heute als einer der herausragenden Protagonisten der mittleren Komponistengeneration des schwedischen ›Chorwunders‹.[7] Gerade in seinen Chorwerken setzt er sich immer wieder mit Gipfelwerken der Musikgeschichte auseinander, beispielsweise in Es ist genug (1986) nach einer Kantate von Dietrich Buxtehude[8] oder in seinem vielbeachteten und häufig aufgeführten Hear my prayer, o Lord (1986), in dem das gleichnamige achtstimmige Anthem Henry Purcells bis zum drittletzten Takt tongetreu zitiert wird, um sich dann plötzlich vom Bass ausgehend gleichsam zu zersetzen und in unbestimmt flirrende Klänge mit eingestreuten Zitaten aufzulösen. In den letzten Jahren hat Sandström u.a. mehrere von Bach inspirierte Kompositionen (High Mass, 1994; Christmas Oratorio, 2004; Magnificat, 2005; Paraphrasen zu den sechs Motetten, 2003–2008) sowie einen Messias (2009) auf den Originaltext des Händelschen Vorbilds veröffentlicht.

Im Folgenden soll eine Analyse von Lobet den Herrn, das sich an die gleichnamige, wahrscheinlich von Johann Sebastian Bach stammende Motette BWV 230[9] anlehnt, exemplarisch Sandströms kompositorische Sprache und seine Aneignung der Vorlage untersuchen. Lobet den Herrn wurde 2003 als Auftragskomposition des Uppsala University Choral Centre vom Schwedischen Rundfunkchor unter der Leitung von Stefan Parkman, der auch Widmungsträger des Werkes ist, uraufgeführt und erschien im selben Jahr in Gehrmans Musikförlag (Stockholm).

Text und formale Anlage

Wie auch in seinen übrigen Paraphrasen der Bach-Motetten (Singet dem Herrn, 2003; Komm, Jesu, komm, 2005; Jesu, meine Freude, 2007; Fürchte dich nicht, 2007; Der Geist hilft unser Schwachheit auf, 2008) verwendet Sandström in Lobet den Herrn ausschließlich den bereits in der Bachschen Vorlage vertonten Text – in diesem Fall handelt es sich um Psalm 117, den mit seinen nur zwei Versen kürzesten der 150 biblischen Psalmen, nach der Übersetzung Martin Luthers:[10]

Lobet den Herrn, alle Heiden, und preiset ihn, alle Völker!
Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit. Alleluja.

Die textlichen Unterschiede zwischen Bachs und Sandströms Vertonung fallen erst bei genauerer Betrachtung ins Auge: Außer im Titel kommt der Text »den Herrn« in Sandströms Komposition nicht vor, so dass der erste Psalmvers als »Lobet, alle Heiden, und preiset ihn, alle Völker!« unvollständig, ja geradezu zerstückelt wirkt. Ein weiteres, wenn auch weniger bedeutendes Details ist die lautlich geringfügig abweichende Version »Halleluja« (Sandström) gegenüber »Alleluja« (Bach) am Ende des Psalms.[11]

Auch Sandströms Gliederung des Textes in eine dreiteilige Großform entspricht bis in die Wahl von gerader bzw. ungerader Taktart weitgehend der Anlage von BWV 230, wie die folgende Übersicht zeigt:

Teil

Text

Bach

Sandström

A

Lobet den Herrn, alle Heiden,

und preiset ihn, alle Völker!

Takt 1–58.1, Taktart 4/2

Takt 1–120, Taktart 4/4

B

Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit.

Takt 58.2–98, Taktart 4/2

Takt 121–171, Taktart 4/4

C

Alleluja. / Halleluja.

Takt 99–165, Taktart 3/4

Takt 172–210, Taktart 3/4

Tabelle 1: Vergleich der großformalen Gliederung Bach/Sandström, Lobet den Herrn

Allerdings unterteilt Sandström diese Abschnitte anders als Bach: Während bei letzterem gemäß der Gattungstradition der Motette die polyphone Verarbeitung und Kombination von wortgezeugten Soggetti im Vordergrund steht, stellt ersterer architektonische Blöcke unterschiedlicher musikalischer Struktur und Textur nebeneinander und arbeitet mit groß angelegten Steigerungen von Tempo und Dynamik.

Bach[12]

Abschnitt

Takte

Text

Musikalische Gestaltung

A1

1–23

Lobet den Herrn, alle Heiden,

Fuge über Thema a1 (s. Sopran, T. 1–4)

A2

24–42

und preiset ihn, alle Völker!

Fuge über Thema a2 (s. Sopran, T. 24–26)

A3

43–58a

(Texte aus A1 und A2)

Kombination der Themen a1 und a2

B1

58b–76

Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit.

dreimalige variierte Wiederholung einer sechstaktigen homophonen Passage im mehrfachen Kontrapunkt

B2

77–98

(wie B1)

viermalige steigernde Kombination zweier Themen b21 (s. Alt, T. 77–80) und b22 (s. Tenor, T. 77–80) im doppelten Kontrapunkt

C

99–165

Alleluja.

Fuge über Soggetto c (s. Sopran, T. 99–102)

Tabelle 2: Detaillierte Gliederung Bach, Lobet den Herrn

Sandström

Abbildung

Tabelle 3: Detaillierte Gliederung Sandström, Lobet den Herrn

Die Besetzungsunterschiede zwischen der Bachschen Vorlage und Sandströms Paraphrase haben auch satztechnische Konsequenzen: Während in BWV 230 vier Singstimmen und ein Basso continuo, der bis auf wenige Takte colla parte mit dem Chorbass geführt ist, durchgehend polyphon interagieren (sieht man einmal von den kurzen homophonen Passagen der Takte 58–60, 64–66 und 70f. ab), disponiert Sandström sein Lobet den Herrn für achtstimmigen Doppelchor a cappella, wobei beide Chöre über weite Strecken jeweils homorhythmisch – gewissermaßen in ›rhythmischer Zweistimmigkeit‹ – singen. Durch die Vermeidung von Periodizität und Taktschwerpunkten entsteht jedoch trotz dieser vergleichsweise einfachen Struktur der Eindruck großer Komplexität, rhythmischer Labilität und witziger Raffinesse. Eine polyphone Struktur deutet sich lediglich in Passagen mit reduzierter Stimmenzahl an: in den Anfangstakten von Abschnitt A3 sowie im Schlussteil C, in dem sich beide Chöre zur Vierstimmigkeit vereinigen.[13]

Kompositorische Sprache

Im musikalischen Vokabular von Lobet den Herrn begegnen viele Kompositionstechniken, die auch in anderen – insbesondere den seit der Jahrtausendwende entstandenen – Vokalwerken Sandströms zu finden sind und die als konstitutiv für seinen Personalstil der letzten Jahre angesehen werden können.

Formale Gliederung durch groß angelegte Veränderungen von Tempo und Dynamik

Ein zentrales kompositorisches Mittel Sandströms zur Gestaltung der Form sind groß dimensionierte Accelerandi und Ritardandi, die nicht selten über das doppelte bzw. halbe Tempo hinausgehen, sowie lange Crescendi und Decrescendi, meist von extrem leise zu extrem laut (und umgekehrt).

In Lobet den Herrn werden Tempomodifikationen ausschließlich in der Überleitung zum Mittelteil sowie im Mittelteil selbst (Abschnitte A5, B1, B2) eingesetzt, in Passagen also, die eher klanglich-flächig als rhythmisch-punktuell geprägt sind. Allmähliche, sich über eine Vielzahl von Takten erstreckende Veränderungen der Dynamik finden sich dagegen in der gesamten Motette: Während in den Abschnitten A3/A4, B1 und B2 jeweils eine große Steigerung von einem Abfall der Lautstärke gefolgt wird, ist die großformatige Steigerung der Abschnitte A1 und C als Folge mehrerer Anläufe angelegt, die über eine Reihe einander überbietender dynamischer Hochpunkte schließlich zur Klimax führt.

Diatonische Felder

Die Suche nach neuen Formen von Tonalität als Gegenentwurf zur Atonalität der Moderne ist ein wichtiges Merkmal postmodernen Komponierens.[14] In diesem Zusammenhang sind auch die Wiederentdeckung der Diatonik[15] und der Verzicht auf Chromatik in Kompositionen von Terry Riley, Arvo Pärt, Peteris Vasks u.a. zu sehen. In Sven-David Sandströms Chorwerken lässt sich eine Entwicklung vom hochchromatischen Satz der frühen Stücke hin zu einer Bevorzugung von Passagen, deren Tonmaterial auf die sieben Töne einer ionischen Skala beschränkt ist, beobachten. In Anlehnung an den Begriff ›Zwölftonfeld‹ werden solche Passagen im Folgenden als ›diatonische Felder‹ bezeichnet.

Auch wenn Sandström in Lobet den Herrn Akzidenzien ausschließlich vor die betreffenden Noten setzt, so steht die Motette spätestens ab Abschnitt A3 in EsDur, wobei das Tonmaterial bis auf gelegentliche Einfärbungen durch expressive chromatische Durchgänge im klangorientierten BTeil[16] ausschließlich die sieben leitereigenen Töne umfasst. Auch die Anfangstakte, die der Befestigung der Tonika EsDur in Takt 58[17] vorausgehen, sind streng diatonisch: Takt 1–21.1 (entspricht dem ersten Anlauf der dynamischen Steigerung in Abschnitt A1) mit dem Tonmaterial der ionischen Skala auf F, Takt 21.2–37 (entspricht dem zweiten Anlauf der dynamischen Steigerung in Abschnitt A1) mit dem Tonmaterial der ionischen Skala auf B, Takt 38–50 (entspricht dem dritten Anlauf der dynamischen Steigerung in Abschnitt A1) mit dem Tonmaterial der ionischen Skala auf Es und schließlich T. 51–53 mit dem Tonmaterial der ionischen Skala auf As; die verbleibenden Takte 54–57, in denen weder d noch des auftritt, bilden ein ambivalentes Bindeglied zwischen dem vorangehenden und dem folgenden diatonischen Feld.

Abbildung

Beispiel 1: Lobet den Herrn, T. 1–10

Im Gegensatz zu dem klaren EsDur ab Takt 58 kann vorher nicht von Bereichen mit befestigter Dur-Tonika gesprochen werden, da sich die Harmonik beider Chöre infolge von ständig wiederholten, aus jeweils drei Akkorden bestehenden Patterns gleichsam im Kreis dreht, ohne dass die jeweilige Tonika erreicht würde (der Übersichtlichkeit halber wird im Folgenden dennoch die ionische Finalis des jeweiligen Tonmaterials als I. Stufe angegeben):

Takte

I. Stufe

Akkorde in Chor I

Akkorde in Chor II

1–19

F

VI, II, V7 (Terzbass)

V, III (Quintbass), II

21.2–36.3

B

V, III, II

VI, II, V7

38–50.3

Es

(ab T. 38.3) VI, II, V7

V, III, II

Tabelle 4: Akkordmuster in Abschnitt A1

Es springt sofort ins Auge, dass ausschließlich zwei verschiedene Akkordmuster, nämlich VIIIV sowie VIIIII, Verwendung finden, wobei die Zuordnung zu Chor I bzw. Chor II simultan mit dem Tonmaterial wechselt. Dieses Konstruktionsprinzip wird mit serialistischer Strenge durchgeführt. Die fünf Abweichungen, bei denen jeweils ein Akkord und dessen unmittelbarer Vorgänger wiederholt werden, bevor die Fortschreitung in die reguläre Reihenfolge zurückkehrt[18], sind dabei lediglich Einschübe, die als Ergänzungen in rhythmischer und akkordlicher Hinsicht gewissermaßen in Parenthese stehen[19] und somit das Akkordmuster nicht in Frage stellen.

Auffällig ist ferner, dass die Bindeglieder an den Übergängen zwischen den diatonischen Feldern (T. 20–21.1, 36.4–37) jeweils durch einen Orgelpunkt der V. Stufe mit stufenweise abwärts geführten Sopranstimmen und darunter liegendem Dominantseptakkord harmonisiert sind; und tatsächlich wird im Anschluss die lange hinausgezögerte I. Stufe erreicht – dies ist nun jedoch zugleich bereits V. Stufe des neuen Tonmaterials, wie der Fortgang deutlich macht.[20]

Die tonale Struktur von Lobet den Herrn lässt sich demnach als Abfolge von fünf diatonischen Felder beschreiben, wobei im Abschnitt B vereinzelt chromatische Nebennoten auftreten; an den Nahtstellen überlappen sich die Felder jeweils, solange der für die Bestimmung des Tonmaterials entscheidende Ton weder in seiner alten noch in seiner neuen Ausprägung erscheint:

Takte

Bezugston (ionische Finalis bzw. I. Stufe) des Tonmaterials

Tonänderung

1–21.1(–21.4)

F

 

21.2–37(–38.3)

B

ees

38–50(–51.1)

Es

aas

51–53(–58.1)

As

ddes

(54–)58–210

Es

desd

Tabelle 5: Tonänderungen zwischen den einzelnen diatonischen Feldern

Bi-Akkordik

Eine weitere für Sandström charakteristische Kompositionstechnik ließe sich als ›Bi-Akkordik‹ bezeichnen. Hierbei handelt es sich um die Überlagerung zweier Akkorde, die im Unterschied zur Bitonalität dem gleichen diatonischen Tonmaterial angehören.[21] Sandström beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf Dur und Moll-Dreiklänge sowie den Dominantseptakkord als Vierklang, so dass durch die Überlagerung, je nach Anzahl der gemeinsamen Töne, Vier bis Siebenklänge entstehen.[22] Bezieht man den Fall der Überlagerung zweier identischer Akkorde mit ein, so reicht das Klangspektrum vom konsonanten Dreiklang bis zum diatonischen Cluster.

In Lobet den Herrn ist Bi-Akkordik das bestimmende harmonische Prinzip der Teile A und B, also aller doppelchörigen Abschnitte der Motette. Dabei wird jeder Chor weitgehend dissonanzfrei in Dreiklängen der I. bis VI. Stufe und ihren Umkehrungen geführt (auf der V. Stufe ist oft die kleine Septime hinzugefügt); die bi-akkordischen Strukturen entstehen durch Kombination beider Chöre. Diese Technik, die – allerdings mit dem Hauptaugenmerk auf den Akkordfortschreitungen der einzelnen Chöre – bereits untersucht wurde[23], soll nun noch einmal an zwei Beispielen detailliert dargestellt werden:

a) Takt 97ff.

Von Takt 97.2.2 (Chor I) bzw. Takt 97.3.2 (Chor II) bis zum Ende von Abschnitt A3 in Takt 105 singen beide Chöre in einem strengen Kanon im Abstand einer Viertel.[24] Durch die besonders enge Einsatzfolge und die hohe harmonische Aktivität – nach spätestens drei Achteln folgt ein Akkordwechsel – entsteht ein sich stetig veränderndes bi-akkordisches Klangfeld, das durch den Einsatz der Kanontechnik gleichwohl durchhörbar bleibt.

b) Takt 121ff.

Abbildung

Beispiel 2: Lobet den Herrn, T. 121–130

Im Mittelteil B überlagern sich die Akkordfolgen von Chor I und Chor II, wodurch ein expressives Spektrum changierender diatonischer Klänge vom konsonanten Dreiklang bis zum Siebenton-Cluster entsteht.

Takt

121

 

 

 

122

 

 

 

123

 

 

 

124

 

 

 

125

 

 

 

Chor I

III

 

I

 

 

V7

 

 

I

 

V7

 

III

 

 

VI

 

 

III

 

Chor II

I

 

 

III

 

 

 

VI

 

 

 

V7

 

 

VI

 

 

I

 

 

erklingende Töne

4

 

3

4

 

4

 

6

4

 

6

4

5

4

5

4

3

4

3

4

Takt

126

 

 

 

127

 

 

 

128

 

 

 

129

 

 

 

130

 

 

 

Chor I

I

 

 

V7

 

III

 

VI

 

 

I

 

 

IV

 

V7

 

usw.

 

Chor II

 

III

 

 

 

VI

 

 

III

 

 

VI

 

V7

 

VI

 

 

erklingende Töne

3

4

 

4

 

5

 

3

5

 

4

5

 

6

7

6

6

 

 

 

Tabelle 6: Übersicht über die Grundtöne der durch die beiden Chöre gebildeten Dreiklänge und die gleichzeitig erklingenden Töne[25]

Es ist augenfällig, wie sorgfältig Sandström die Akkordüberlagerungen disponiert, einzelne Verdichtungen vorbereitet und erst unmittelbar vor Erreichen des ersten dynamischen und melodischen Höhepunkts in Takt 130, der auch Zielpunkt des accelerandos ab Takt 121 ist, für längere Zeit eine dissonantere Klangballung entstehen lässt. Im Anschluss daran nimmt die Intensität der vier Parameter Dynamik, Melodik, Tempo und Dissonanzgrad bis Takt 137 wieder ab, um die noch gewaltigere Klimax der Takte 154f. vorzubereiten, bevor das musikalische Geschehen nach decrescendo, melodischer Abwärtsbewegung und ritardando auf einem konsonanten gMoll-Dreiklang mit dem für Sandström typischen Tremolo gänzlich zum Erliegen kommt.

Erst auf den zweiten Blick erschließt sich, dass auch hier die Kanontechnik angewandt wird, und zwar im Hinblick auf die Rhythmik: Die jeweilige Verweildauer beider Chöre auf einem Akkord ist als Augmentationskanon organisiert, bei dem die Zeit zwischen den Akkordwechseln in Chor II anfangs jeweils eine Viertel länger ist als in Chor I (diese Beziehung wird durch gelegentliche Lagenwechsel innerhalb eines Akkordes sowie durch Abweichungen in der Textverteilung verschleiert); ab dem 9. Akkord werden die Akkordlängen (und die Textunterlegung) dann angeglichen:

Akkordlängen in Chor I ab T. 121 (in Vierteln):

2

3

3

2

2

3

3

2

3

2

2

3

3

2

Akkordlängen in Chor II ab T. 121 (in Vierteln):

3

4

4

3

3

4

4

3

3

2

2

3

3

2

Tabelle 7: Verweildauer beider Chöre auf den einzelnen Akkorden (ohne Berücksichtigung von Lagenwechseln)

Während also in Beispiel a) beide Chöre sowohl harmonisch als auch rhythmisch aneinander gekoppelt sind, gehen sie in Beispiel b) hinsichtlich ihrer Akkordfolgen jeweils eigene Wege, sind aber in ihren Notenwerten aufeinander bezogen.

Rhythmik und Melodik im Baukastenprinzip

Die Rhythmik eines Großteils von Lobet den Herrn folgt dem Baukastenprinzip. Dabei werden einzelne rhythmische Zellen gemäß einer vorgegebenen Reihe kombiniert, wie im Folgenden beispielhaft gezeigt werden soll:

a) Takt 1–50:

Der hinsichtlich seines Tonmaterials und seiner Harmonik bereits untersuchte Abschnitt A1 setzt sich aus folgenden fünf rhythmischen Zellen zusammen:[26]

Abbildung

Beispiel 3: Lobet den Herrn, T. 1–50, Bausteine

Diese Bausteine werden wie folgt kombiniert:[27]

Takt 1–19:

Chor I:

(3 Viertel Pause)-n-n-o-o-n-n-o-o-n-o*-n-n-o-n-o-o-n-o-o-o-n

Chor II:

n-m-m-n-n-m-m-n-m-n-n-m-m-n-m

Takt 21–36:

Chor I (bis T. 36.3):

o-n-n-o-o-n-n-o-n-o-o-n*-n-o-n*-o-o-n

Chor II (ab T. 21.2):

(1 Viertel Pause)-o-o-p-p-o-o-p-o-p-p-o-o-p-o*-p-p-o-p-p-p-o-o-p-o*-p

Takt 38–50:

Chor I (bis T. 50.2):

q-p-p-q-q-p-p-q-p-q-q-p-p-q-p-q-q-p-q-q-q-p-p-q-p-q-q-p-q

Chor II (bis T. 50.3):

p-o-o-p-p-o-o-p-o-p-p-o-o-p-o-p-p-o-p-p-p

Tabelle 8: Reihenfolge der rhythmischen Zellen in T. 1–50

In den einzelnen Teilabschnitten sind jedem Chor genau zwei rhythmische Zellen zugewiesen, von denen jeweils eine in beiden Chören auftritt. Dabei vollzieht sich der Wechsel der verwendeten Bausteine für jeden Chor nur einmal.[28] Da die rhythmischen Zellen im Laufe der Entwicklung zudem immer kürzer werden, verdichtet sich parallel zur dreimaligen dynamischen Steigerung des Abschnitts auch die Rhythmik.

Die Reihenfolge, in der die einzelnen Bausteine kombiniert werden, scheint auf den ersten Blick unregelmäßig zu sein, aber auch sie folgt einem strengen Ordnungsprinzip: Wie die bereits untersuchten Akkordlängen ab Takt 121[29] ist sie nach einem System organisiert, das Sandström im Anschluss an seine harmonische Neuorientierung in den 1980er Jahren zur rhythmischen Strukturierung seiner Partituren entwickelte und das die Konstruktion von ausgedehnten Passagen mit scheinbar unvorhersehbaren rhythmischen Abläufen erlaubt.[30] Die Reihe, die bereits in dem Blechbläserquintett Heavy Metal von 1991 Verwendung findet[31], ist lediglich aus zwei verschiedenen Werten zusammengesetzt, die hier mit X und O bezeichnet seien. Sie besteht aus zehn Elementen, die in vier Gruppen mit abnehmender Länge gegliedert sind, wobei die zweite bis vierte Gruppe jeweils durch Verkürzung der vorhergehenden Gruppe gebildet wird:

X, O, O, X; X, O, O; X, O; X

Daran schließt sich eine weitere zehn-elementige Folge an, die als Permutation aus der Original-Reihe entsteht, indem die zweite und dritte Gruppe gespiegelt werden:

X, O, O, X; O, X, X; O, X; X

Ersetzt man die Pausen am Anfang des ersten sowie zweiten Teilabschnitts durch die jeweils fehlenden Bausteine[32], so folgen alle oben untersuchten Abfolgen mit einer Ausnahme[33] exakt dem Schema: Original-Reihe – Permutation – Permutation.

Dabei führen die aus der Unregelmäßigkeit der verwendeten Original-Reihe resultierenden aperiodischen rhythmischen Sequenzen und die aufgrund des hohen Tempos beträchtliche Ereignisdichte dazu, dass die Passage trotz oder gerade wegen ihres hohen Organisationsgrads hinsichtlich Akkordfolge sowie Auswahl und Kombination der Bausteine eine überwältigende, ausgelassene Spielfreude, Vitalität, Frische und Energie verströmt. Sandström wendet hier gleichsam die von György Ligeti in seiner berühmten Kritik am Serialismus postulierte Dialektik, »das total Determinierte wird dem total Indeterminierten gleich«[34], ins Positive, indem er durch serialistisch strenges Durchorganisieren der Parameter Tonhöhe und Rhythmik einen beinahe chaotisch wirkenden Klangeindruck erzeugt, der erst allmählich in eine Regelmäßigkeit zu münden scheint.

b) Takt 59–105:

Während im soeben betrachteten Abschnitt A1 die Stimmführung aus der ständigen Wiederholung zweier dreiteiliger Akkordpatterns resultiert[35] und somit unabhängig von der Rhythmik ist, wendet Sandström das Baukastenprinzip im Abschnitt A3 nun auch auf die Melodik an. Die einzelnen Zellen sind dabei wortgezeugte Motive, deren Tonmaterial sich auf wenige Töne – meist Tonleiterfragmente oder Drei bzw. Vierklangsbrechungen – beschränkt, wie im Folgenden beispielhaft am Bass I gezeigt werden soll:

Abbildung

Beispiel 4: Lobet den Herrn, Bass I, T. 59–105, Bausteine

Ähnlich wie bei den in Anmerkung 27 erwähnten Einschüben gestattet sich Sandström auch hier minimale Freiheiten, indem er seine acht Grundbausteine durch geringfügig rhythmisch oder melodisch modifizierte Varianten ihrer jeweiligen Umgebung anpasst. Die Reihenfolge der rhythmisch-melodischen Zellen ergibt sich wiederum mit wenigen Abweichungen[36] aus der Original-Reihe sowie ihrer Permutation:

T. 59–70:

r-s-s-r-r-s-s-r-s-r’

T. 71–84:

t-s’-u-t-t’-u-u-t’-u-t-t-u-u-t-u-t

T. 85–96.2:

(drei Achtel Pause)-v-w-w-v-v-w-w-v’-w-v-v’-w-w-v-w-v-v’-w

T. 96.3–105:

x-x-y-y-x-x-y-y-x-y-x-x-y-y-x-y-x-x-y-x-x-x

Tabelle 9: Reihenfolge der rhythmisch-melodischen Zellen in T. 59–105

Die Wirkung der dynamischen Steigerung wird dabei wie schon im Abschnitt A1 durch eine stetige Verkürzung der motivischen Zellen und insbesondere der in ihr enthaltenen Pausen intensiviert; in der kanonischen Engführung beider Chöre T. 97–105[37] gibt es dann überhaupt keine Pausen mehr, was zum Eindruck von Atemlosigkeit und höchster Erregung führt und der Vorbereitung des absoluten dynamischen Höhepunkts der Motette in Takt 109 dient.

Dissonanzfreier Satz

In Abschnitt C, dessen Polyphonie an ein barockes Fugato erinnert, ist eine weitere für Sandström typische Kompositionstechnik zu finden: der dissonanzfreie Satz. In den teilweise äußerst virtuosen Melismen auf der dritten Silbe des Wortes »Halleluja« inklusive der halsbrecherischen, achtelweise harmonisierten Koloraturen der Takte 197–205 steht keine einzige dissonante Nebennote; vielmehr erklingen ausschließlich die Dreiklänge der I. bis VI. Stufe sowie auf der V. Stufe meist der Vierklang des Dominantseptakkords, wobei die Akkorde auch verkürzt und sowohl mit dem Grundton als auch mit der Quinte oder (seltener) der Terz im Bass auftreten. Dass das alles andere als selbstverständlich ist, beweist ein Blick auf vergleichbare Koloraturen bei Johann Sebastian Bach, wo infolge eines erheblich niedrigeren harmonischen Tempos eine Vielzahl an Durchgangs, Wechsel und Vorhaltsnoten auftritt.

Berücksichtigt man, dass Sandström den Dominantseptakkord auf der V. Stufe, der auch in den anderen Abschnitten der Motette gleichberechtigt mit den Dreiklängen auf der I. bis IV. und VI. Stufe eingesetzt wird, trotz der milden Dissonanz der kleinen Septime als quasi konsonanten Klang verwendet, so steht die einzige ›echte‹ Dissonanz des gesamten Abschnitts C im vorletzten Takt des Stückes, wo der Dominantseptakkord für die Schlusswirkung durch Hinzufügung der großen Sexte angeschärft ist.

Aneignung der Vorlage und Personalstil

Die Motette Lobet den Herrn ist ein typisches Beispiel für Sven-David Sandströms kompositorische Auseinandersetzung insbesondere mit den Werken Johann Sebastian Bachs: Während er sich in Text und formaler Anlage eng an seine Vorlage anschließt, geht er hinsichtlich der musikalischen Sprache eigene Wege. Sandström selbst beschreibt dieses Vorgehen am Beispiel seiner an Bachs hMoll-Messe angelehnten High Mass wie folgt:

Nachdem ich den Auftrag zur Komposition der Messe erhalten hatte, entschied ich mich, den Text auf die gleiche Weise zu unterteilen wie Bach in seiner h-Moll-Messe. Es inspirierte mich, sozusagen neben ihm zu sitzen. Als ich dann die High Mass komponierte, hörte ich die ganze Zeit Bachs Messe. Und obwohl meine Musik völlig anders klingt, gibt es doch trotz aller Differenzen einige sehr spezielle Affinitäten. Durch einen Text wird man in bestimmte kompositorische Richtungen gelenkt.[38]

Mit dem kreativen Rückgriff auf Werke der Musikgeschichte steht Sandström in einer Reihe mit Komponisten wie Mendelssohn, Brahms oder Stravinsky. Dabei besteht das Spezifische seines Ansatzes darin, dass er nicht die stilistische Essenz oder bestimmte satztechnische Charakteristika einer Epoche verarbeitet oder gar zu imitieren sucht, sondern sich stets auf ein einzelnes Werk bezieht, von dem er einige – meist formale – Aspekte gleichsam als ein ›äußeres‹ Gefäß übernimmt, während die ›innere‹ Ausgestaltung gänzlich der eigenen Idiomatik verpflichtet ist.[39]

Wie bereits angedeutet, sind die in der vorliegenden Untersuchung herausgearbeiteten Kompositionstechniken typisch insbesondere für Sandströms nach der Jahrtausendwende entstandene Chormusik und finden sich entsprechend oder in modifizierter Form auch in weiteren Vokalwerken aus seiner Feder:

Formale Gliederung durch groß angelegte Veränderungen von Tempo und Dynamik:

En ny himmel och en ny jord, T. 85–102; Hear My Prayer, O Lord, T. 40–67; Laudamus te, T. 36–99; Komm, Jesu, komm, T. 61–88

Diatonische Felder:

En ny himmel och en ny jord, T. 17–35; Laudamus te, T. 1–14, 16–34 etc.; Komm, Jesu, komm, T. 61–88; Four Songs of Love, Nr. 3, T. 1–15, 18–30, 31–38

Bi-Akkordik:

Ave Maria; Psalm 139, T. 29–48; Komm, Jesu, komm, T. 1–21; Jesu, meine Freude, Nr. 2, T. 17–22

Rhythmik und Melodik im Baukastenprinzip:

Komm, Jesu, komm, T. 61–88; Fürchte dich nicht, T. 1–21, 122–142; Singet dem Herrn, T. 77–85

Dissonanzfreier Satz:

Psalm 139, T. 75–83; Fürchte dich nicht, T. 87–99; Singet dem Herrn, T. 73–80

Tabelle 10: Beispiele für den Einsatz der dargestellten Kompositionstechniken Sandströms in seinen jüngeren Chorwerken

Selbstverständlich ist Sandströms Personalstil durch die aufgeführten Kompositionstechniken keineswegs erschöpfend beschrieben. Zum einen kann die Analyse eines Einzelwerkes immer nur eine Momentaufnahme aus der kompositorischen Entwicklung des jeweiligen Komponisten sein – so haben in dieser Untersuchung beispielsweise klanglich-harmonisch deutlich avanciertere Techniken aus Sandströms früheren Chorwerken (namentlich der ausgedehnte Einsatz von Clustern sowie Chromatik) keine Rolle gespielt. Zudem repräsentieren die beschriebenen Merkmale von Sandströms Kompositionsstil nur die technische Seite seiner kompositorischen Arbeit.

Allerdings spiegeln sich in der Wahl bevorzugter Kompositionstechniken und musikgeschichtlicher Anknüpfungspunkte auch inhaltliche und ästhetische Positionen. Zwar verwendet Sven-David Sandström den Begriff ›Postmoderne‹ nicht explizit für seine Musik.[40] Seine Auseinandersetzung mit Werken früherer Epochen, die neo-romantische Expressivität seiner Schreibweise sowie sein Stilpluralismus, der musikhistorisch sich scheinbar ausschließende kompositorische Prinzipien wie Reihenorganisation des musikalischen Materials einerseits und Diatonik sowie Dreiklangsharmonik andererseits kombiniert, machen ihn gleichwohl zu einem ihrer herausragenden Vertreter auf dem Gebiet der Musik.

Anmerkungen

1

de la Motte-Haber 1989, 53–58.

2

Danuser 1997, 109–112.

3

Danuser 1989, 69–73.

4

Pasler 2001, 213.

5

Eco 1984, 78.

6

Tillman 2001, 69f.

7

Fagius 2009, 9f.

8

Reimers 1990, 50–53.

9

Hofmann 2000, 48f.

10

Die hier zitierte Fassung des Textes von BWV 230 entspricht der Neuen Bach-Ausgabe, die in einigen Details von der originalen Luther-Übersetzung (1545) abweicht (vgl. Hofmann 2000, 44–48).

11

Dass Bach hier die lateinische – und nicht wie Sandström (und Luther) – die deutsche Umschrift der hebräischen Aufforderung zum Lob des Herrn verwendet, könnte möglicherweise auf eine heute verschollene lateinische Urfassung von BWV 230 zurückzuführen sein, wie Klaus Hofmann (2000, 48) vermutet (vgl. auch die vorige Anm.).

12

Hofmann 2000, 50.

13

Ein vergleichender Blick auf die doppelchörigen Motetten Johann Sebastian Bachs (BWV 225, 226, 228, 229) ist hier aufschlussreich: Zwar enthält jede dieser Motetten Fugen oder dezidiert kontrapunktische, fugierte Abschnitte. Allerdings sind diese in drei Fällen (und zwar auffälligerweise jeweils gegen Ende, also als Schlusssteigerung!) lediglich vierstimmig gesetzt (BWV 225, T. 255 bis zum Schluss; BWV 226, T. 146–244; BWV 229, T. 77b–151a). In zwei weiteren Fällen bleibt der Satz zwar bis zu achtstimmig, die Fuge jedoch ist nur vierstimmig durchgeführt, wobei die verbleibenden Stimmen eine Art auskomponierte Aussetzung des Basso continuo bilden (BWV 225, T. 75–151; BWV 226, T. 124–145); nach einem ähnlichen Prinzip wird das anfänglich von den beiden Sopranstimmen vorgestellte Kopfmotiv von BWV 226 (T. 1–8, 9–16) in der Folge auch im Alt (T. 17–24, 25–32), Bass (T. 33–40), Tenor (T. 69–76) und erneut im Bass (T. 77–84) durchgeführt, während die übrigen Stimmen jeweils chorweise alternierend begleiten. Nur zwei fugierte Passagen in BWV 229 (T. 44–56, 64b–78) sind tatsächlich achtstimmig polyphon. In allen verbleibenden Abschnitten alternieren die beiden Chöre gemäß dem Prinzip der konzertanten Mehrchörigkeit miteinander (besonders klar in BWV 228 T. 1–77a). Allerdings kommt es infolge der latenten Polyphonie des Bachschen Kompositionsstils nirgends zu einer so weitgehenden Vereinheitlichung der Rhythmik innerhalb eines Chores wie bei Sandström.

14

Hirsbrunner 1989, 183.

15

Mit ›Diatonik‹ ist in diesem Artikel ausschließlich das Tonmaterial gemeint, das auf der in der westlichen Musik vorherrschenden siebenstufigen Tonleiter aus fünf Ganztönen und zwei Halbtönen basiert.

16

Sopran I bzw. II, T. 128f., 149, 152, 157, 159, 163 (Wechselnote), 167f.

17

Dies geschieht durch Ergänzung des Basstones Es0 zu dem vorher schon mit Quintbass erklingenden EsDur-Akkord sowie durch das Aufblitzen der erhöhten 7. Stufe d2 im Sopran I (nachdem bis in Takt 53 des erklungen war).

18

Takt 9.4 Chor I, Takt 29.4 Chor II, Takt 30.3 Chor I, Takt 33.2 Chor I, Takt 35.4 Chor II.

19

Vgl. den Abschnitt ›Rhythmik und Melodik im Baukastenprinzip‹.

20

Im Übrigen steht auch vor der Etablierung der Tonika EsDur in Takt 58 ein Orgelpunkt auf der V. Stufe; in diesem Fall allerdings nicht als Grundton eines Dominantseptakkordes, sondern als Quintbass der anvisierten neuen Tonika.

21

Von den aus der Jazz-Harmonik geläufigen so genannten ›lower-structure‹ und ›upper-structure‹-Akkorden (z.B. c0e0b0e1a1cis2 = lower structure C7 + upper structure A = C7/9/13) unterscheidet sich die Bi-Akkordik dadurch, dass sich bei ihr beide Akkorde gleichermaßen vom Bass bis in den Diskantbereich erstrecken.

22

Z.B. EsDur + gMoll = Vierklang esgbd; B7Dur + cMoll = Siebenklang bcdesfgas.

23

Vgl. den Abschnitt ›Diatonische Felder‹.

24

Ob die wenigen Abweichungen vom Kanon (Sopran II/Alt II, T. 99, 1./2. Note; Sopran II, T. 101, 5. Note; Bass II, T. 102, 3. Note) beabsichtigte kompositorische Modifikationen oder – was angesichts der Fülle von Druckfehlern in Lobet den Herrn naheliegt – lediglich Irrtümer sind, ist nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden; eindeutig um Druckfehler dürfte es sich zumindest bei Tenor II, T. 101, 5. Note und Alt II, T. 102, 5./6. Note handeln.

25

Mit dem Ziel einer möglichst klaren Darstellung wurde auf die besondere Kennzeichnung von Akkorden mit Quintbass, von verkürzten Akkorden sowie von Sext und Non-Hinzufügungen verzichtet; in der vierten Zeile sind dagegen alle tatsächlich erklingenden Töne berücksichtigt.

26

Die Takte 20 sowie 37 mit ihren durchlaufenden Achteln übernehmen als Übergänge zwischen den drei Teilabschnitten gliedernde Funktion und bleiben daher aus der Analyse ausgeklammert.

27

In mit einem Sternchen (*) gekennzeichneten Bausteinen ist die Viertel-Pause am Anfang der rhythmischen Zelle durch zwei Achtel mit dem Text »Lobet« ersetzt; vgl. zu diesen Einschüben auch den Abschnitt ›Diatonische Felder‹.

28

Auf diese Weise mildert Sandström, der selbst mehrere Jahrzehnte lang Mitglied des renommierten Stockholmer Kammerchors Hägerstens Motettkör war und damit auch die Perspektive der Ausführenden kennt, die Schwierigkeiten für Chorsängerinnen und Chorsänger in diesem rhythmisch höchst anspruchsvollen Abschnitt.

29

Vgl. den Abschnitt ›Bi-Akkordik‹.

30

Broman 2005, 4.

31

Tillman 2001, 58–60.

32

Chor I, Takt 1: Baustein o; Chor II, Takt 21: Baustein p.

33

Im Chor I, Takte 1–19, sind das 9. und 10. Element der Original-Reihe vertauscht.

34

Ligeti 1960, 9.

35

Vgl. den Abschnitt ›Diatonische Felder‹.

36

Im zweiten Teilabschnitt (T. 71–84) steht an zweiter Stelle Baustein s’ statt u; zudem bleiben die anfängliche Pause im dritten Teilabschnitt (T. 85–96.2) sowie der erste Baustein x im vierten Teilabschnitt (T. 96.3–105) als Einschübe ohne Auswirkung auf die Abfolge der rhythmisch-melodischen Zellen.

37

Vgl. den Abschnitt ›Bi-Akkordik‹.

38

Broman 2005, 3 (übers. vom Verfasser).

39

Wilfried Gruhn verwendet ein ganz ähnliches Bild zur allgemeinen Charakterisierung der Postmoderne und ihres Umgangs mit der Vergangenheit: sie sei vergleichbar mit einem »neuen Wein, der in alten Behältnissen aufbewahrt wird, um akzeptiert und konsumiert zu werden, aber auch, um überhaupt wieder gereicht werden zu können.« (1989a, 7)

40

Tillman 2001, 69.

Noten

Bach, Johann Sebastian (1965), Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 3.1, Motetten, hg. von Konrad Ameln, Kassel: Bärenreiter.

Sandström, Sven-David (1982), En ny himmel och en ny jord / A new heaven and a new earth, Stockholm: AB Nordiska Musikförlaget.

––– (1986), Hear My Prayer, O Lord, Stockholm: AB Nordiska Musikförlaget / Edition Wilhelm Hansen.

––– (1987), Es ist genug, Stockholm: AB Nordiska Musikförlaget / Edition Wilhelm Hansen.

––– (1994a), Laudamus te, Stockholm: AB Nordiska Musikförlaget.

––– (1994b), Psalm 139 / O Lord, you have searched me, Stockholm: Gehrmans Musikförlag.

––– (2003a), Lobet den Herrn, Stockholm: Gehrmans Musikförlag.

––– (2003b), Singet dem Herrn, Stockholm: Gehrmans Musikförlag.

––– (2004), Ave Maria, Stockholm: Sveriges Körförbunds Förlag.

––– (2006), Komm, Jesu, komm, Stockholm: Gehrmans Musikförlag.

––– (2008a), Four Songs of Love, Stockholm: Gehrmans Musikförlag.

––– (2008b), Fürchte dich nicht, Stockholm: Gehrmans Musikförlag.

––– (2008c), Jesu, meine Freude, Stockholm: Gehrmans Musikförlag.

Literatur

Broman, Per F. (2005), »Bach to the future«, Highlights 18, 2–5.

––– (1997), »Neue Musik«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hg. von Ludwig Finscher, 2., neubearbeitete Aufl., Sachteil Bd. 7, Kassel u.a.: Bärenreiter, 75–122.

Danuser, Hermann (1989), »Zur Kritik der musikalischen Postmoderne«, in: Das Projekt Moderne und die Postmoderne, hg. von Wilfried Gruhn, Regensburg: Bosse, 69–83.

de la Motte-Haber, Helga (1989), »Merkmale postmoderner Musik«, in: Das Projekt Moderne und die Postmoderne, hg. von Wilfried Gruhn, Regensburg: Bosse, 53–67.

Eco, Umberto (1984), »Nachschrift zum Namen der Rose«, übers. von Burkhart Kroeber, München und Wien: Hanser.

Fagius, Gunnel (2009), The Swedish Choral Miracle, Stockholm: Rikskonserter.

Gruhn, Wilfried (1989a), »Vorwort«, in: Das Projekt Moderne und die Postmoderne, hg. von dems., Regensburg: Bosse, 5–13.

Hirsbrunner, Theo (1989), Die neue Tonalität bei Lorenzo Ferrero, in: Das Projekt Moderne und die Postmoderne, hg. von Wilfried Gruhn, Regensburg: Bosse, 181–196.

Hofmann, Klaus (2000), »Die Motette ›Lobet den Herrn, alle Heiden‹ (BWV 230). Alte und neue Probleme«, in: Bach-Jahrbuch 2000, hg. von Hans-Joachim Schulze und Christoph Wolff, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 35–50.

Ligeti, György (2001), »Wandlungen der musikalischen Form«, in: Die späte Chormusik von György Ligeti, hg. von Bernd Englbrecht, Frankfurt a.M.: Lang, 18–19.

Pasler, Jann (2001), »Postmodernism«, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. von Stanley Sadie, London: Macmillan, 213–216.

Reimers, Lennart (1990), »Sven-David Sandström«, in: Dietrich Buxtehude und die europäische Musik seiner Zeit, Bericht über das Lübecker Symposion 1987, hg. von Arnfried Edler und Friedhelm Krummacher, Kassel u.a.: Bärenreiter, 50–53.

Tillman, Joakim (2001), »Från ,De ur alla minnen fallna‹ till ›High Mass‹«, in: Svensk tidskrift för musikförskning (2001), 45–72. http://www.musikforskning.se/stm/STM2001/STM2001Tillman.pdf

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