Froebe, Folker / Jan Philipp Sprick (2010), »Musiktheorie und Improvisation. IX. Kongress der Gesellschaft für Musiktheorie, Hochschule für Musik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 8. bis 11. Oktober 2009«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 7/3, 381–384. https://doi.org/10.31751/579
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 22/12/2010
zuletzt geändert / last updated: 05/07/2011

Musiktheorie und Improvisation

IX. Kongress der Gesellschaft für Musiktheorie, Hochschule für Musik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 8. bis 11. Oktober 2009

Folker Froebe, Jan Philipp Sprick

Eine zentrale Legitimationsstrategie der jüngeren deutschsprachigen Musiktheorie besteht darin, Historisierung und Praxisbezug miteinander zu verbinden. Dahinter steht das Bestreben, an der Dignität historischer Wissenschaft teilzuhaben und dem Historischen durch seine performative Vergegenwärtigung zugleich künstlerische Relevanz zu verleihen. So gewinnt neben der traditionellen, werkästhetisch ausgerichteten Analyse, die im vergangenen Jahrzehnt bedeutende Impulse vor allem aus der anglo-amerikanischen ›music theory‹ aufgenommen hat, zunehmend ein produktionsästhetischer Ansatz an Bedeutung, der einerseits an die Lehrtradition des ›künstlerischen Tonsatzes‹ anknüpft, andererseits durch Quellenstudium und historische Differenzierung geprägt ist. Diese Entwicklung spiegelt sich seit dem ersten GMTH-Kongress vor 10 Jahren in zahlreichen Einzelbeiträgen und Veröffentlichungen wider.

Mit der Rekonstruktion und reflexiven Aufarbeitung musikalischen Herstellungs- und Handlungswissens rückt zugleich die unmittelbarste Weise musikalischer Produktion in den Fokus: die Improvisation. Insofern war es naheliegend, gerade an einem Institut wie der Hochschule für Musik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die über profilierte Kirchenmusik- und Jazzabteilungen verfügt, das Verhältnis von »Musiktheorie und Improvisation« erstmals auf einem Jahreskongress der GMTH in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. So widmeten sich gleich vier der sechs Sektionen explizit dem Thema: »Das Verhältnis von Improvisation und Komposition«, »Improvisation in der gegenwärtigen Praxis«, »Improvisation im historischen Kontext« und »Improvisation in der arabischen Musik«. Freilich verliefen, nicht anders als auf den bisherigen GMTH-Kongressen, thematische ›rote Fäden‹ und inhaltliche Querverbindungen über die Sektionsgrenzen hinweg.[1]

Einen zentralen programmatischen Aspekt des Kongressthemas stellte Markus Jans in seiner Keynote prononciert dar: Der herkömmlichen Sicht, die europäische Musikgeschichte gründe in der Schriftlichkeit und dem aus ihr erwachsenden Werkverständnis – eine Sicht, die der Improvisation tendenziell den Statuts eines gegenüber dem ›Meisterwerk‹ defizitären musikalischen Usus zuweist – setzte er die These entgegen, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sei die musikalische Improvisation das eigentliche Fundament einer schöpferischen Musikkultur geblieben. Improvisation und Komposition hätten demnach zwei Seiten einer Praxis gebildet, auf deren Instruktion die Mehrzahl der überlieferten Quellen ziele.

Ganz in diesem Sinne verfolgte eine große Zahl von Beiträgen Fragestellungen aus dem Bereich der ›Alten Musik‹. Den instruktiven Wert historischer Quellen auch im Hinblick auf eine Annäherung an die jeweils zeitgenössische Improvisationspraxis thematisierten etwa die Beiträge von Hans Aerts (»Auf dem Prüfstand: Zarlinos Kontrapunkt ›à mente‹«) und Stefan Eckert (»Friedrich Erhard Niedts ›Musicalische Handleitung‹ als Anleitung zur Improvisationskunst«).

Der Paradoxie, dass sich auf die improvisatorische Praxis vergangener Zeiten nur aus schriftlichen Quellen schließen lässt, begegnete eine Reihe von Referenten mit dem vielversprechenden Ansatz, überlieferte Werke als Zeugnisse vergangener Improvisationskunst zu interpretieren, so etwa Florian Vogt und David Mesquita Joanes (»Wie improvisiert man eine Josquin-Motette«), Martin Erhardt (»Improvisation und Komposition in der Vokalpolyphonie des späten 15. Jahrhunderts: Eine gegenseitige Befruchtung«) sowie Volker Helbing (»Patchwork: Überlegungen zur Ostinatotechnik bei Josquin«) und, mehr entwicklungsgeschichtlich ausgerichtet, Pierre Funck (»Der Weg vom cantus super librum zur ricercata«). Auf die Relevanz entsprechender Ansätze auch für die Musik des 19. Jahrhunderts verwies Hans-Peter Reutter, der im Hinblick auf die Rolle »überformter Satzmodelle« für die formale Dramaturgie in Anton Bruckners 5. Symphonie (»Wellenzüge – Felsblöcke«) von »Improvisation auf dem Papier« sprach. Jan Hendrik Rörden eröffnete am Beispiel von Chopins Mazurka op. 68,4 einen Weg von der Rückführung komplexer Harmonik auf einfache Satzmodelle zur eigenen Stilimprovisation (»Modellhaftigkeit in Chopins Mazurka op. 68 Nr. 4 als Einstieg in die Improvisation«).

Den ›Modelldiskurs‹ auf Basis der historischen Quellenlage analytisch fruchtbar zu machen, unternahmen zwei Beiträge der freien Sektion. So verortete Felix Diergarten die »Die ächten Fundamente der Sezkunst« Joseph Haydns in der Partimento-Tradition, während Folker Froebe in seiner Untersuchung von Johann Sebastian Bachs Orgelfantasie G-Dur historische Stilkritik und eine modellbasierte Systematik miteinander verknüpfte (»Zur Rekomposition eines ›französischen‹ Modellkomplexes in Bachs Pièce d’Orgue BWV 572«).

Mit dem Diskurs um Satzmodelle eng verbunden ist die Frage nach dem Verhältnis von musikalischer ›Substanz‹ und diminutiver ›Oberfläche‹. Ihr widmeten sich vor allem die Beiträge von Torsten Mario Augenstein zur »willkürlichen Veränderung der Arie« im 18. Jahrhundert und, in enger Anlehnung an den ›Schema‹-Begriff Robert O. Gjerdingens, Uri Rom (»Was Mozart auf keinen Fall improvisiert wissen wollte«).

Den von Markus Jans angesprochenen Umbruch hin zur Vorrangstellung der Schriftlichkeit und die damit verbundene Trennung von musikalischer Produktion und Reproduktion reflektierte Florian Edler unter Einbeziehung sozialgeschichtlicher Gesichtspunkte in seinem Beitrag zum »Dilemma der poetischen Improvisation im mittleren 19. Jahrhundert«. Einen interessanten Kontrapunkt hierzu bildete Philipp Teriete, der Henri Rebers Traité d’Harmonie und Chopins Lehrmethode in Beziehung setzte und so zu zeigen vermochte, welch breiten Raum noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine praxisorientierte Theorieausbildung einnahm (»Musiktheoretische Inhalte in der Klaviervirtuosenausbildung des 19. Jahrhunderts«).

Dass trotz des Paradigmenwechsels im 19. Jahrhundert mit dem Thema ›Improvisation‹ keine Verengung auf ältere Musik bzw. ›vormoderne‹ Praktiken einhergehen muss, betonten Hans-Jürgen Kaiser, der Leiter der Mainzer Kirchenmusikabteilung, und der mittlerweile verstorbene Komponist Johannes Fritsch in ihren Keynotes. So verwies Kaiser auf die ungebrochene Kontinuität der Improvisationspraxis im organistischen und kirchenmusikalischen Bereich, die später von Birger Petersen auch historisch perspektiviert wurde (»Norddeutsche Orgelkultur und Satzlehre im frühen 19. Jahrhundert«). Fritsch seinerseits veranschaulichte die künstlerische Bedeutung improvisatorischer Elemente in Neuer Musik anhand vorwiegend eigener Werke.

Der zeitgenössischen Improvisation widmeten sich vor allem zwei Beiträge: Sebastian Sprenger zeigte, wie die Musiktheorie des 20. Jahrhunderts der Instruktion zeitgenössischer Improvisationspraxis dienstbar gemacht werden kann (»Messiaens 3. Modus als Materialtonleiter für Improvisationen in verschiedener Stilistik«). Dem Zusammenhang von Affekten, Topoi und Formvorstellungen in improvisierter Filmmusik ging Jörg-Peter Mittmann nach (»Improvisation zu Filmen«). Mit dem eindrucksvollen Eröffnungskonzert von Lehrenden der Jazzabteilung (Jesse Milliner, Hugo Read, Michael Küttner, Sydney Christian Ramond) rückte ein weiterer, ganz eigenständiger und durch die etablierte Musiktheorie weitgehend vernachlässigter Bereich gegenwärtiger Improvisationspraxis ins Bewusstsein: Fragen der Jazzimprovisation behandelten unter anderem die Beiträge von Jesse Milliner (»Wechselbeziehung improvisierter und komponierter Musik im Jazz«), Alexander Gelhausen (»Jazzimprovisation ohne Netz und doppelten Boden – Scatgesang«), Andreas Kissenbeck und Claus Rückbeil (»Jazzimprovsiation ohne Akkord/Skalen-Theorie«).

Die Beiträge der freien Sektion repräsentierten in gewohnter Breite den gegenwärtigen musiktheoretischen Diskurs. Sie widmeten sich systematisch ausgerichteten Fragestellungen (Ulrich Kaiser, »Die Formfunktionen mediantischer Harmonik in Sonatenmusik des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts), der gegenwärtigen Theoriebildung (Stephan Lewandowski, »Vom Akkordbegriff zum pitch class set«; Konstantin Bodamer, »Tradition im Klavierwerk Franz Liszts«, mit Bezug auf die Tonfeldtheorie Albert Simons), empiriebasierten Analyseverfahren (Dieter Kleinrath/Christian Utz: »Entwurf einer analytischen Annäherung an das Verhältnis von Klangfarben- und Tonhöhenorganisation im 20. und 21. Jahrhundert«) oder musikästhetischen Fragen (Benjamin Sprick zu Albrecht Wellmers »Versuch über Musik und Sprache«). Mehrere Workshops und die Präsentation diverser Projekte rundeten das Kongressprogramm ab.

Dem regionalen Bezug trug eine eigene Sektion zum Thema »Der Verlag Schott und die Musiktheorie im 20. Jahrhundert« Rechnung, wobei den Referenten jeweils Paul Hindemiths bei Schott erschienene Unterweisung im Tonsatz als Bezugspunkt diente (Jürgen Blume: »Hindemiths ›Unterweisung im Tonsatz‹ – ein Analysesystem im Schatten Schenkers«; Joachim Junker: »Tonale Reste in serieller Musik: Luigi Nonos Rezeption von Paul Hindemiths ›Unterweisung im Tonsatz‹«).

Kennzeichnend für den Mainzer Kongress war die im Vergleich zu den Vorjahren erhöhte Präsenz einer jüngeren Generation von Musiktheoretikerinnen und Musiktheoretikern, die sich durch das Thema ›Improvisation‹ offenbar besonders angesprochen fühlte. Dies lässt erwarten, dass Improvisation und verwandte Thematiken auch künftig Schwerpunkte der deutschsprachigen Musiktheorie bilden werden.

So bleibt, den freundlichen und jederzeit ansprechbaren Mitgliedern der Kongressleitung für die hervorragende Organisation zu danken. Besonders erfreut, dass infolge der engen Zusammenarbeit mit dem Schott-Verlag schon in Kürze mit dem Erscheinen des von Jürgen Blume und Konrad Georgi herausgegebenen Kongressberichtes gerechnet werden darf.[2]

Anmerkungen

1

Auf eine namentliche Nennung aller Referenten bzw. eine Rekapitulation aller Kongressbeiträge, Workshops etc. wird im Folgenden verzichtet, ohne dass mit der exemplarischen Auswahl eine Wertung verbunden wäre. Das vollständige Kongressprogramm ist einsehbar unter: http://www.gmth.de/static/files/GMTH-Kongressheft-Mainz-09.pdf

2

Jürgen Blume und Konrad Georgi (Hgg.), Musiktheorie und Improvisation, Kongressbericht der IX. Jahrestagung der Gesellschaft für Musiktheorie in Mainz, Mainz: Schott 2011.

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