Moßburger, Hubert (2003/05), »Umfrage: Musiktheoretische Kompetenz und Aufführungspraxis«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 1–2/2/1, 209–221. https://doi.org/10.31751/470
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2005
zuletzt geändert / last updated: 15/09/2009

Umfrage: Musiktheoretische Kompetenz und Aufführungspraxis

Hubert Moßburger

Wieviel satztechnische/analytische Kompetenz braucht ein Musiker? Die stets brisante Frage nach Anteiligkeit oder gar Notwendigkeit praktischer Ausrichtung des Theorieunterrichts ist letztlich eine Frage nach dem Selbstverständnis unseres Fachs. Abgesehen von einer Minderheit, die – wie in der Antike und im Mittelalter – Theorie hauptsächlich per se betreibt und auch betreiben muß, um sowohl historische Aufarbeitung als auch künftige Theoriebildung zu leisten, definiert sich unser Fach primär als pädagogische Disziplin (›Dienstleistungsfach‹), die seit der Neuzeit auf das Herstellen und/oder Interpretieren des musikalischen Kunstwerks zielt.

Interpretation, das würde niemand ernsthaft leugnen, setzt satztechnische und analytische Kompetenz voraus, die das Werkverständnis mittels Satzarbeit (Stilkopie) und Analyse vertiefen hilft. Andererseits scheint die Genie- und Gefühlsästhetik des späten 18. und 19. Jahrhunderts in vielen Musikerköpfen (oder besser: Musikerbäuchen) von heute so fest verankert, gleichsam aus der romantischen Musikästhetik vererbt, daß Theorie nur noch als unbrauchbare, lästige Pflichtübung ohne jegliche bewußte Verbindung zur Praxis angesehen wird. Theorie sollte aber, so die allseits proklamierte These, nicht als Gegenpol zur Praxis, sondern in eine fruchtbare Wechselbeziehung zu ihr treten.

Wie soll dies aber geschehen? Durch die seit dem 19. Jahrhundert erfolgte akademische Spaltung der Musikunterweisung in musikalische Teilbereiche stehen die Studierenden im Kreuzfeuer der Einzeldisziplinen, mit deren Zusammenhangsbildung, auf die es eigentlich ankommt, sie meist allein gelassen sind. Dabei bleibt dann meist das theoretische ›Know-how‹ auf der Strecke.

Dem könnte dadurch entgegengewirkt werden, daß bereits im Studium (im Theorieunterricht, im künstlerischen Unterricht oder in einem Zwischenfach?) Kriterien zur Umsetzung theoretischer Erkenntnisse ins Aufführungspraktische entwickelt werden. Die Frage, wieviel satztechnische/analytische Kompetenz ein Musiker benötigt, zielt also auch auf die qualitative Dimension der Vermittlung von theoretischem Wissen einerseits und dessen Konsequenzen für die musikalische Aufführungspraxis andererseits.

Die Redaktion der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Musiktheorie (ZGMTH) erwartet gespannt Ihre Meinung zu diesem Themenkomplex; sie wird voraussichtlich in der nächsten Ausgabe erscheinen.

Otfried Büsing

Die Frage nach ›nur‹ satztechnischer Kompetenz scheint mir etwas zu eng gestellt. Ein ausübender Musiker sollte mit kompositorischen Grundtechniken wie mittelschwerem Generalbaß, einfacherem Kontrapunkt (Renaissance und Barock) sowie ›moderneren‹ Methoden wie Dodekaphonie etc. vertraut sein bzw. so etwas im Studium einmal praktiziert haben, um die von ihm gespielte Musik von der ›Erfinderseite‹ aus kennengelernt zu haben. Wenn es sich um Musiker speziell historischer Instrumente handelt, sollten diese eben auch die Grundelemente der Komposition ›ihrer‹ Musik kennen. Kompositorisch-praktische Erfahrung (auch in bescheidenem Umfang) führt zu einer kompetenteren Interpretation und ist dafür unerläßlich. Und überhaupt: Es geht nicht nur um ›Satztechnik‹ im engeren Sinne, sondern grundsätzlich darum, unabhängig von erlernbaren Techniken und Regeln und darüber hinausgehend ein ›feeling‹ zu entwickeln für das Verhältnis zwischen Tönen, Akkorden, rhythmischen Werten und dergleichen, das unbestechlich ist und einen guten Musiker auszeichnet. So etwas stellt sich nur im praktisch-erfinderischen Umgang mit Tönen ein. Würde die Ausbildung in diesen Bereichen ausbleiben, hätten wir eine pur handwerkerhaft geprägte Musikerschule und nicht mehr ein Musikstudium im universitas-Sinne.

Franz Kaern

Das Fach Musiktheorie/Tonsatz, welches an Musikhochschulen in der Regel als Pflichtfach für alle Musikstudierenden gelehrt wird, setzt sich aus zwei Pfeilern zusammen: Analyse und satztechnische Übungen.

Dieses Fach will, wie ich es verstehe, dazu beitragen, angehenden Profimusikern ein aktives, waches Gespür für die Kräfte, Spannungen und Nuancen verschiedenster Musiken zu vermitteln. Anders als die Musikwissenschaft, die ein Musikstück meines Erachtens eher in den Lebenskontext eines Komponisten oder einer Epoche stellt, an aufführungspraktischen, editorischen Fragen interessiert ist, richtet sich das Hauptaugenmerk der Musiktheorie auf die Noten selbst, auf deren ›Mache‹, auf die spezifischen Mittel, die ein Stück gut, spannend, lebendig, ergreifend sein lassen. Wie schafft ein Komponist das? Wie kommt es, daß manch ein Komponist nur drei Noten aufs Papier setzt, die einfach stimmen, die stark sind und ›dastehen‹, während ein anderer Note auf Note türmt, einen unglaublichen Aufwand betreibt, um den Zuhörer zu packen, und es erscheint einem doch hohl und schal? Im Fach Musiktheorie zählt das, was auf dem Papier steht (manchmal auch das, was zwischen den Notenzeilen zu finden ist), bei gleichzeitiger Ehrfurcht davor, daß so etwas Wunderbares und Ungreifbares wie Musik einfach so als schwarze Noten auf einem Papier stehen kann.

Die Studierenden sollen durch unser Fach die Fähigkeit erlernen, vertiefen, entwikkeln, Noten ernst nehmen zu können, genau wahrnehmen zu können, was da steht, und daraus die Intention des Komponisten nachzuvollziehen. Sie sollen aktiv mit dem Notentext umgehen können und daraus begründen, warum sie ein Stück so spielen, wie sie es spielen. Das Fach will ihnen helfen, Musik und das eigene musikalische Tun nicht immer nur aus dem Gefühl oder hohlen Bauch heraus anzugehen, nein, ein Bewußtheitsprozeß soll in Gang gesetzt werden, der die Fähigkeit zur Reflexion, zur Entscheidung für einen bestimmten interpretatorischen Ansatz, zur Absicherung der eigenen künstlerischen Integrität und Glaubwürdigkeit, zur Erweiterung der Ausdrucksmittel – aber immer geführt vom Verstehen-Wollen des Komponisten, der nun mal die Einfälle hat(te), ermöglichen soll.

Es ist unmittelbar einleuchtend, welche Rolle dabei die Analyse jedweder Musik spielt, das genaue Hinsehen, das Liebgewinnen jeder Note, vielleicht auch das Infragestellen oder Anzweifeln der Notwendigkeit mancher Note, vielleicht auch die Rätselhaftigkeit, die bei manchen Stücken auch nach eingehender Analyse bleibt. Man muß ja nicht alles restlos erklären können, schließlich ist Kunst immer auch ein Mysterium, aber man muß es versucht haben und immer wieder versuchen wollen. Eine gute Analyse soll ohnehin nicht alle Fragen klären, sondern, im Gegenteil, trotz tieferen Verständnisses die Fähigkeit zum Staunen über das Analysierte erhöhen.

»Gedichte sind wie bemalte Fensterscheiben …« – dasselbe gilt natürlich auch für ein Kunstwerk der Musik! Allerdings stelle ich immer wieder im Unterricht fest, daß Musikstudenten häufig schon mit dem Erkennen einfacherer harmonischer Zusammenhänge Schwierigkeiten haben, unabhängig davon, wie intensiv dafür theoretische Grundlagen gelegt wurden. Eine oft formulierte Klage ist, wie mühsam es den Studenten fällt, Akkordtöne aus einem Satz ›herauszuklauben‹, um den Akkord dann bestimmen zu können. Dabei ist ja noch gar nicht die Frage gestellt, warum denn ein bestimmter Akkord an einer bestimmten Stelle steht. Was hat man schließlich von der reinen Fähigkeit, unter jeden Akkord eines Stückes Funktionsbezeichnungen oder andere harmonische Erklärungen ›klatschen‹ zu können? Darüber hinaus ist die Harmonik ja nur ein kleiner Teil dessen, was man an einem Werk analysieren kann. Man sollte schließlich dazu kommen, solche Entdeckungen an einem Stück machen zu können, die wirklich etwas über die ganz individuelle Spezifik eines Stückes aussagen. Solcherlei Untersuchungen können eigentlich nur Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen sein: Welche Konsequenzen ziehe ich aus dem Analysierten? Ändern die Erkenntnisse meine Haltung zum Stück oder zu Details daraus? Spiele ich es dann anders?

Und doch bleibt Analyse immer wieder nur im Vorstadium des wirklich Interessanten und Weiterführenden hängen, weil eben die theoretischen Grundlagen nicht in Fleisch und Blut übergehen. An diesem Problem kann meines Erachtens nur das zweite Standbein des Faches Musiktheorie andocken, der Tonsatz nämlich.

Allerdings darf sich die Übung in Satztechnik meines Erachtens nicht in nur regelhaftem und trockenem Exerzieren häufig stilistisch relativ eingegrenzten Charakters erschöpfen. Ich weiß, wie verhaßt das Fach bei den meisten Studenten ist, wenn sie über lange Semester hinweg nichts anderes machen dürfen, als Kadenzen aufzuschreiben oder zu gegebenen Melodien vierstimmige Sätze in Bach-Choral-Manier zu verfassen. Das wird von den allermeisten als praxisfern, langweilig und frustrierend erlebt, zumal wenn eventuell gar nicht mehr an Anregung erfolgt als der Hinweis auf immer wieder auftretende Quint- und Oktavparallelen.

Welche Rolle also kann die Satztechnik im Musiktheorieunterricht spielen? Ich selbst bin für meinen Unterricht zu dem Schluß gekommen, daß man immer an das kreative Potential eines jeden Studenten appellieren sollte; und ich bin der Überzeugung, daß die meisten Musikstudenten, die auf ihrem Instrument sensibel und versiert spielen können, auch wirklich schöpferisch-kreatives Potential besitzen, mag es noch so unentdeckt schlummern. Wer musikalisch ist, und das sollte ja eigentlich bei Studenten, welche die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule bestanden haben, der Fall sein, hat auch musikalische Vorstellungen. Das heißt nicht, daß jeder Musiker ein genialer, unentdeckter Komponist ist, aber mehr Phantasie als für stupides Regelbefolgen steckt nach meiner bisherigen Erfahrung in allen Studenten. Meist sind sie – wie auch ich – selbst überrascht von den Ideen, die sie entwickeln, wenn man sie einmal läßt und dazu auffordert.

Der Tonsatzunterricht sollte also meines Erachtens nichts weniger als ein Kompositionsunterricht sein, der dazu herausfordert, von Anfang an kleinere und größere Stücke selbst zu erfinden. Das sind natürlich für die meisten Studenten Kopien früherer und neuerer Stile, aber eigene Ideen zeigen sich häufig in sehr wertvollen Details. Ein melodisches Gespür haben beispielsweise wirklich die meisten, und gerade dieses spielt im Tonsatzunterricht so selten eine Rolle! Warum also immer eine auszusetzende Melodie vorgeben? Warum nicht mehr zum eigenen melodischen Erfinden anregen? Sehr geeignet für das Bewußtmachen eigener Kreativität ist beispielsweise die Komposition romantischer Chorstücke oder Klavierlieder, bei denen sich der Student auch selbst Texte aussucht, die ihn persönlich ansprechen. Die schwierige Aufgabe für den Lehrer ist es freilich, die Studenten nicht einfach ›im Trüben fischen‹ zu lassen, sondern erstens natürlich genügend für den theoretischen Hintergrund zu sorgen und zweitens Strukturierungsmöglichkeiten für die eigene kompositorische Arbeit zu zeigen, damit keine Lähmung auftritt. Ein eigenes Stück kann in überschaubaren Etappen und Einzelschritten bei allen entstehen (wenig sinnvoll also ist die Hausaufgabe, bis zur nächsten Stunde ein Chorstück schreiben zu müssen!). Für die ersten eigenen Stücke ist eine textliche Grundlage meistens sinnvoller als abstrakte musikalische Formen, weil der Text natürlich hilft, Ideen und Phantasie freizusetzen. Von der Textanalyse ausgehend, kann man dazu übergehen, sich mit den Studierenden über Möglichkeiten von musikalischen Umsetzungen zu unterhalten. Das setzt ein Bewußtsein dafür frei, warum man ein bestimmtes Ereignis musikalisch auf eine bestimmte Weise formen will, welche Kraft in einer Klangfarbe, einem Akkord, einem Intervallschritt liegen kann. Daraus können schon Grundzüge eines harmonischen Plans, melodischer Charakteristik, modulatorischer Verläufe entstehen, die der Student einzeln zu konkreten Gestalten verdichten kann. Flankierend zum Entwerfen eigener Stükke können natürlich noch gezielte Übungen gemacht werden, die aber immer die Suche nach wirklich musikalischen Lösungen aufzeigen sollten. Die knöchernen harmonischen Gerüstsätze, mit denen beispielsweise Modulationen häufig geübt werden, klingen selten schön und musikalisch überzeugend und machen daher niemandem Spaß, auch dem Lehrer nicht! Man kann Modulationen in bestehenden Stücken auf andere Art neu komponieren, immer mit dem Gespür, was beim Original satztechnisch wichtig und typisch war. Eine neue Modulation sollte sich dann bemühen, wirklich aufzugreifen, was das Urbild vorgibt, sollte für den Zusammenhang passend gemacht werden. Wie schön kann es dann sein, wenn man in seinem eigenen Stück sagen kann, ich will jetzt diese Modulation machen, weil sie etwas Bestimmtes ausdrücken soll! Aber auch rein instrumentale, absolute Musik läßt sich aus Studenten herauskitzeln, immer vorausgesetzt, man unterteilt den Kompositionsprozeß in sinnvolle Einzelschritte.

Es scheint mir daher wichtig, daß, entgegen dem momentan immer stärker zu beobachtenden Trend, Musiktheoriestellen an Hochschulen nur noch mit Absolventen des noch recht jungen eigenständigen Musiktheoriestudiums zu besetzen, auch weiterhin genügend Gelegenheit besteht, daß Komponisten, die am diesbezüglichen Unterricht wirkliches Interesse haben und Musiktheorie/Tonsatz nicht nur als lästige Nebenbeschäftigung zum nicht einträglichen eigenen Komponieren ansehen, Zugang zu solchen Stellen erhalten.

In früheren Zeiten bestand das Fach Musiktheorie (das aber nie so genannt wurde) an allen Hochschulen und Konservatorien zum Großteil tatsächlich aus Kompositionsunterricht. Natürlich ist es nicht die primäre Begabung eines jeden Musikers, zu komponieren! Aber genügend reizvolle oder machmal gar frappierende Einfälle hat wie gesagt fast jeder Musiker. Wenn dann nicht immer alles ganz stilistisch rein ist (wenn beispielsweise in einem romantischen Chorstück manche Jazzanklänge zu finden sind oder ein barockes Instrumentalstück etwas in die Romantik vorschielt), dann kann man darauf hinweisen, aber – sofern sich trotzdem ein in sich stimmiges Stück mit Ausdruck und Stärke ergibt – auch ein Auge zudrücken. Das eigene, kreative Sich-im-Material-Aufhalten-und-Bewegen scheint mir nach wie vor eher dazu geeignet, die Theorie wirklich zu ›begreifen‹ und dadurch sicherer zu lernen, besser tatsächlich anwenden zu können im Bemühen um eine feinere Wahrnehmung, ein schärferes eigenes künstlerisches Profil und eine sicherere Argumentationsfähigkeit für den eigenen Standpunkt, als dies die häufig nur trockenen Übungen tun, mit denen sich die meisten Musikstudenten immer nur gequält fühlen. Meine Erfahrung zeigt, daß die Studenten sich tatsächlich mehr für das Fach begeistern und engagieren, wenn sie immer wieder sagen können, sie haben selbst etwas geschrieben, was sie sich vorher gar nicht zugetraut hatten. Wenn man dann gar so weit geht, die Stücke, die derart im Unterricht entstanden sind, ernst zu nehmen und aufzuführen, und sei es nur ein interner Vortragsabend, ist ein weiterer Anreiz gegeben, das Ausgedachte im praktischen Musizieren nochmals zu reflektieren und daraus etwas über musikalische Wirkungsweisen zu lernen. Selbst wenn die meisten Studenten nach dem Studium vielleicht nicht mehr selbst komponieren werden, so bin ich davon überzeugt, daß sich aus den Erfahrungen, die sie damit im Studium gemacht haben, im weiteren musikalischen Berufsweg immer wieder künstlerisches Kapital schlagen läßt.

Benjamin Lang

Natürlich ist in Zeiten der Einsparungen die Frage nach dem Nutzen des Faches Musiktheorie eine politische. Was nicht heißen soll, daß es nicht notwendig ist, hin und wieder den Sinn und Zweck von Ausbildungsfächern bzw. vielmehr das musikalische Studium (die künstlerischen, musikpädagogischen und wissenschaftlichen Studiengänge) nach den heutigen beruflichen Anforderungen zu überprüfen und mit diesen abzugleichen, sondern es bedeutet, daß ein Fach, welches sich mit grundlegenden kompositorischen Satztechniken inklusive deren Herleitung und Geschichte, also mit den zentralen Schaffensfragen eines Komponisten und der Kompositionsgeschichte an sich, beschäftigt, nicht einmal nur teilweise Kürzungen und Sparmaßnahmen zum Opfer fallen darf. Dies würde der Verringerung oder gar der Abschaffung der Vermittlung historischen Kompositionshandwerks sowie der Kompositionsgeschichte basierend auf satztechnischem Verständnis gleichkommen.

Nun stellt sich also die Frage, wie das ›Dienstleistungsfach‹, gemeint ist das gelehrte Fach Musiktheorie, inhaltlich in Zukunft gestaltet werden könnte, um nicht nur den ›ministerialen Wünschen‹ nach mehr interdisziplinärer Fachvermittlung innerhalb der Studiengänge nachzukommen, sondern auch den Sinn der Lehre historischer und zeitgenössischer Satztechniken und Analyse zu verdeutlichen (angemerkt sei an dieser Stelle ein großes Manko der heutigen Theorie: Selten erhalten Studenten eine verpflichtende, intensive satztechnische Schulung in der Musik des 20. Jahrhunderts. Dabei könnte gerade dies den Zugang und das Erlernen zeitgenössischer und avantgardistischer Literatur um einiges erleichtern). In der theoretischen Unterweisung gibt es verschiedene Methoden, um den Studenten für das ›kluge Interpretieren‹ zu schulen. Dies kann geschehen u.a. durch das Erlernen von Analysemethoden, Satztechniken oder Betreiben von Quellenforschung. Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse sollte dann der Schüler eine mögliche Interpretation ausarbeiten – am Instrument, aber auch verbal ausformuliert. Da es keine richtige oder falsche Interpretation gibt, kann nur der Sinn dieser Übung sein, dem Studenten eine ›intellektuelle‹ Sensibilisierung im interpretatorischen Umgang mitzugeben.

Es wäre doch wünschenswert, wenn an den Schulen mehr kulturelles bzw. musikalisches ›Rundum-Wissen‹ geboten würde. So könnte sich der Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen über die Grenzen der Musiklehre und -geschichte hinaus als weitreichend kulturvermittelndes Fach verstehen und, was mir noch wichtiger erscheint, im Instrumentalunterricht an Musikschulen eine ganzheitliche Ausbildung u.a. unter Einbeziehung der Musiktheorie geboten werden; so wäre der junge Interpret von Anfang an nicht abgekapselt von einem breiten musikalischen Wissen und Verstehen.

An den Musikhochschulen bedarf es einer neuen Strukturierung des Faches Musiktheorie. Mein Vorschlag wäre, Lehrkräften frei verfügbare Semesterwochenstunden zuzuteilen, damit sie dieses Stundendeputat nutzen, um Instrumentalunterricht besuchen und theoretisch begleiten zu können. So sollten jedem Instrumentalstudenten mindestens zwei bis drei Unterrichtseinheiten mit dem Team Hauptfachdozent und Musiktheoretiker pro Semester zur Verfügung stehen. An manchen Musikhochschulen gibt es seitens der Musiktheorie Lehrveranstaltungsangebote im Sinne einer ›angewandten Interpretationskunde‹. Hier können Studenten lernen, theoretisches Wissen für eigenständige Interpretationen solistischer und kammermusikalischer Literatur nutzbar zu machen. In der Regel müssen Kompositionsstudenten verpflichtend ein wöchentliches ›Komponistenseminar‹ besuchen. Dort stellen sie gegenseitig ihre neuen Werke vor, die dann kritisiert und diskutiert werden können. Eine ähnliche Einrichtung für Interpreten wäre wünschenswert, um auch für sie ein theoretisch begleitendes und moderiertes Diskussionsforum zu schaffen. Bisher gibt es normalerweise nur Vorspieltraining und danach einen Kommentar seitens des Lehrers. Dies kann jedoch nicht ausreichend für solistisch oder kammermusikalisch konzertierende Künstler sein. Schafft es die Musiktheorie, sich (zusätzlich) als interpretationskundliches Fach in den Hochschulen zu etablieren, so werden dem Publikum vermutlich einige durchschnittliche bis langweilige Interpretationen erspart bleiben.

Tihomir Popovic

Das Fach Musiktheorie bedarf keiner Apologetik durch die Praxis. Im Laufe der Musikgeschichte war bekanntlich eher der umgekehrte Vorgang – die Apologetik der musikalischen Praxis durch die Theorie – die Regel. Anders als in manchen anderen Disziplinen – etwa in den Ingenieurswissenschaften – sind die Theorien der Künste da, um die Praxis zu erklären, nicht, sie im technischen Sinne zu ermöglichen oder unmittelbar voranzutreiben. Daher sollte ihr Wert auch nicht primär am Praxisbezug gemessen werden. Eine gnadenlos utilitaristische Anschauung, die die Musiktheorie ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer direkten ›Anwendbarkeit‹ in der Musikpraxis bewertet, führt konsequenterweise auch dazu, die Musik selbst auf diese Weise zu betrachten.

Andererseits ist das Fach Musiktheorie, das in seiner heutigen Gestalt zu einem nicht unbedeutenden Teil auf die ›musica practica‹, die ›Practicall Musicke‹ der Renaissance zurückgeführt werden kann, in einigen seiner Aspekte mit der Aufführungspraxis unmittelbar verbunden: Der Unterricht, der einen Kirchenmusiker befähigt, in verschiedenen Stilen souverän zu improvisieren, oder einen Cembalisten, Generalbaß historisch korrekt auszusetzen, ein Fach, das die Kenntnisse liefert, die es etwa einem Pianisten ermöglichen, eine Solokadenz für ein klassisches Konzert zu schreiben, ist von der lebendigen Musikpraxis kaum zu trennen. Inwiefern allerdings die genannten Praktiken zu den Fertigkeiten der heutigen Interpreten gehören, mit anderen Worten: inwiefern sich unser Musikerbild in den letzten rund 150 Jahren verändert hat, sei hier nicht weiter erörtert: Das gehört zu den Aufgaben der Musiksoziologie.

Im Verhältnis zwischen der Musiktheorie und der Aufführungspraxis ist der genannte Aspekt des unmittelbaren Praxisbezugs selbstverständlich bei weitem nicht der einzig relevante. Es gilt z.B. auch unter ›Praktikern‹ als allgemein akzeptiert, daß musiktheoretische Kenntnisse wesentlich zum schnelleren Erlernen der Musik beitragen.

Man muß aber das Essentielle vom Akzidentellen unterscheiden. Die praktischen und praxisbezogenen Aspekte können nicht die Essenz eines theoretischen Fachs darstellen. Das Praktische im Musiktheorieunterricht ist eine Ergänzung, ja eine Bereicherung, kann aber nicht als dessen Fundament verstanden werden.

Allerdings hat auch ein akzidentelles Merkmal seine Wichtigkeit. Für die Aufführungspraxis kann die analytische ›Durchdringung des Geistes‹, zu welcher uns der Musiktheorieunterricht befähigt und der viele heutige Musiker entweder eine mystische oder eine lediglich ornamentale Bedeutung beimessen, von ganz konkreter Bedeutung sein, obwohl das nicht notwendig als ihre primäre Mission verstanden werden muß und die Musiktheorie auch ohne diesen Aspekt eines Platzes im akademischen Pantheon würdig ist.

In diesem Beitrag geht es nicht um die erwähnten allgemeinen Aspekte der ›Praxisrelevanz‹ musiktheoretischer Kompetenz, sondern vielmehr um das praktische Umsetzen konkreter musikanalytisch gewonnener Erkenntnisse. Die ›Praxisrelevanz‹ dieser Erkenntnisse zu systematisieren käme einer Quadratur des Kreises gleich. Einige Analyseergebnisse lassen sich zwar direkter mit der Praxis verbinden als andere, die Trennlinie zwischen dem ›direkt‹ und dem ›indirekt Praxisrelevanten‹ ist aber zu unscharf, um hier von Kategorien sprechen zu dürfen.

Als ein Beispiel für Kompositionen, die schon durch eine flüchtige Analyse dem analysierenden Interpreten einige Aspekte der vom Komponisten erwünschten Aufführungsart mehr oder weniger eindeutig offenbaren, sei hier die Mazurka op. 68 Nr. 4 von Fryderyk Chopin genannt. Nur ein Interpret, der über Kenntnisse der historischen Entwicklung des Tonsatzes verfügt, kann die Bedeutung der (beinahe-)Tristan-Harmonik Chopins (T. 2ff., T. 10ff., insbesondere T. 14) verstehen. Wird er das Stück aber deswegen ›besser‹ spielen? Er wird zumindest sicherlich den substantiellen Unterschied zwischen der Harmonik des zitierten Abschnittes (›A‹) und der des nachfolgenden (›B‹, T. 24ff., s. auch ›A‹, T. 15ff.) bemerken und auch gleichzeitig einen anderen, damit in Bezug stehenden, bedeutenden Kontrast: das Fehlen der sowohl das Metrum als auch die Harmonik markierenden Baßtöne jeweils auf der ersten Zählzeit im chromatischen Abschnitt und die Präsenz dieser Töne im harmonisch vergleichsweise einfachen. Der ›vollkommene Klavierspieler‹ wird dadurch die Wichtigkeit der Pause – als Mittel zur Hervorhebung des Instabilen, das auch durch die Harmonik erzeugt wird – am Anfang der Mazurka begreifen, was sich sowohl auf seinen Umgang mit dem Pedal als auch auf das Spielen der linken Hand direkt auswirken würde: Er würde die Pausen genauso bewußt wie die Noten ›spielen‹, da er deren Bezug zur Chromatik des Anfangs verstehen würde. Darüber hinaus würde er versuchen, den Satz nicht nur klanglich, sondern auch linear zu analysieren, was in seiner Interpretation zu einer höheren Klarheit der Stimmführung, auch in der linken Hand, führen würde.

Das nächste Beispiel ist dem ersten Satz des dritten Klavierkonzertes Beethovens entnommen – womit der Verfasser auch Ergebnisse eigener Analysen auf ihre Bedeutung für die Praxis prüfen möchte.

Die Feststellung, daß im dritten Klavierkonzert zum ersten Mal in den Konzerten Beethovens der Solist das gleiche Hauptthema vorträgt wie das Tutti vor ihm[1], zeigt den Wandel in Beethovens Auffassung des Thematischen auf. Außerdem gewinnen wir aus der Quellenanalyse[2] die Erkenntnis, daß Beethovens Entscheidung, das Thema im Klavier solo mit Oktaven in beiden Händen vortragen zu lassen – ebenfalls ein Novum in der konzertanten Literatur –, das Ergebnis eines intensiven Denkprozesses war, nicht etwa eine situative Lösung (Bsp. 1: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert c-Moll, op. 37. I. Satz, Autograph)[3].

Der Interpret, der sich dessen bewußt ist und der darüber hinaus die Verwandtschaft dieses Themas mit dem Thema des vierten Satzes der fünften Symphonie op. 67 bemerkt, würde dieses Hauptthema mit einer ›forza‹ spielen, die aus dem Bewußtsein hervorgeht, etwas wahrhaft Neues – man zögert, das Wort ›Revolutionäres‹ zu schreiben – vorzutragen.

Die Analyse der ›Entwicklung‹ dieses Hauptthemas in der Soloexposition bietet auch eine für den Interpreten wichtige Information: Es ist darin zum ersten Mal in einem Beethovenschen (nicht nur) konzertanten Hauptthema Polyrhythmik zu finden: eine kompositorische Entscheidung, die Instabilität in jenen Teil der Komposition bringt, der an sich als Symbol der Stabilität eines klassischen Sonatenhauptsatzes gilt[4] und hier durch die majestätischen Oktaven in beiden Händen anfänglich noch stabiler scheint. Ab dem Dritten Klavierkonzert bekommt das Hauptthema dadurch eine völlig neue Konnotation. Hier kann zwar noch nicht, wie in den von Dahlhaus analysierten beispielhaften Werken des ›Neuen Weges‹ von der »Aufhebung des traditionalen Themabegriffes«[5] die Rede sein, wohl aber gewissermaßen von der »funktionalen Ambiguität der Formteile« (ebd.).

Die Polyrhythmik ist von dem Pianisten an dieser Stelle um so ernster zu nehmen, als auch sie – wie die Oktaven am Anfang der Soloexposition – mit Sicherheit eine wohlüberlegte Entscheidung Beethovens darstellt: Im Manuskript stehen in der rechten Hand Sechzehntel und in der linken ›lediglich‹ Achtel[6] (Bsp. 2: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert c-Moll, op. 37. I. Satz, Autograph)[7].

Erst in der Erstausgabe tauchen die Triolenachtel in der linken Hand auf, die die Polyrhythmik verursachen.

Es wäre daher interpretatorisch unverantwortlich, die Triolen in der linken Hand zu ›vertuschen‹, um ein ›schönes Piano‹ zu erzeugen, oder die Qualitäten der Melodie in der rechten Hand hervorzuheben. Der Hörer muß den inneren Streit zwischen den beiden Händen hören, wenn er ein wesentliches Charakteristikum dieses Themas ›auf dem Wege zu Beethovens Neuem Weg‹ verstehen soll.

Beim Vortrag des Seitenthemas (Bsp. 3: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert
c-Moll, op. 37. I. Satz, T. 50–53)[8] muß zuerst auf die Klassizität seines melodischen Duktus geachtet werden (die man ja ohne musiktheoretische Kompetenz nicht als solche registrieren würde), die der Welt der Seitenthemen früherer Konzerte zu entstammen scheint[9], (Bsp. 4: oben: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert B-Dur, op. 19, I. Satz, T. 127–131; unten: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert C-Dur, op. 15, I. Satz, T. 47–52)[10] aber auch auf die Tatsache, daß Beethoven hier zum ersten Mal in einem konzertanten Seitenthema die rechte Hand dreistimmige Klänge spielen läßt und daß sich der Charakter des Themas dadurch und durch die gleichzeitigen ›sforzati‹ in der linken Hand ändert und von denen der frühen Konzerte abhebt. Auch diese wichtigen Nova im dritten Klavierkonzert sind spätere Zusätze[11] (Bsp. 5: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert c-Moll, op. 37. 1. Satz, Autograph)[12].

Die Veränderung des Kompositionsstils Beethovens ist hier im Rahmen einiger Takte spürbar: Mit Oktavsprüngen in der linken Hand, dem ›sforzato‹ und der Dreistimmigkeit in der rechten Hand in T. 168 schlägt die gesamte Geschichte des konzertanten Seitenthemas einen anderen Weg ein. Der ›lyrische Kontrapart‹ des Hauptthemas bekommt bisher unbekannte Charakterzüge. Hier kann wieder von der Dahlhausschen »funktionalen Ambiguität der Formteile« die Rede sein.

Direkt in Bezug dazu steht die Tatsache, daß Beethoven in diesem Konzert in der Soloexposition auch Pauken und Trompeten im Seitenthema einsetzt (Popovic 2003, Abs. 16). Die geschilderte Akzentuierung im Klavierpart ist das solistische Analogon. Der sensible Pianist wird versuchen, allen diesen Aspekten des Themas durch kontrastreiches Spielen Rechnung zu tragen – die ›sforzati‹ und Oktavsprünge in der linken Hand dürfen also nicht beiläufig vorgetragen werden –, aber auch, sie durch ausgewogene Interpretation miteinander zu versöhnen, denn sie sind Elemente ein und desselben musikalischen Geflechts.

Während die obigen Beispiele eine mehr oder weniger direkte Kommunikation zwischen dem Komponisten und dem Interpreten illustrieren – wobei der Interpret erst mit Hilfe von Musiktheorie die ästhetische Botschaft zu verstehen vermag –, kann in vielen Fällen die Analyse dem Aufführenden zwar helfen, die Besonderheiten einer Komposition zu erkennen und dadurch den Imperativ ihrer besonderen Aufführung zu begründen, nicht aber den exakten Modus dieser Aufführung zu bestimmen.

Ein gutes Beispiel liefert die Fuge As-Dur aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers von J. S. Bach. Das Fugenthema ist von einem auf den ersten Blick beinahe olympisch anmutenden Gestus (zwei Quartsprünge aufwärts, Quint- und Oktavsprung), der aber durch den ›passus duriusculus‹ (T. 3, hier in seiner von Christoph Bernhard definierten melodischen Ausprägung[13]) im (ständigen) Kontrasubjekt gleich in Frage gestellt wird. Genauso wird aber der überlieferte Charakter des melodischen ›passus duriusculus‹ durch den Charakter des Themas verändert.

Solche Erkenntnisse, so unwillkürlich und historisch begründet sie sein mögen, können nicht als direkte Empfehlung an den Interpreten verstanden werden. Eine Aufführung auf einem modernen Flügel, die das Thema ›olympisch‹ und das Kontrasubjekt ›lamentierend‹ erklingen lassen würde, wäre nicht nur technisch kaum möglich, sie wäre meines Erachtens auch in ihrer ideellen Form eine Simplifizierung des komplexen Bedeutungsgeflechts Bachs. Daß jemand, der die affektive Bedeutung der Figur ›passus duriusculus‹ kennt, die Fuge mit einer größeren Klarheit der Stimmführung spielen würde, ist wahrscheinlich; wie genau die Fuge wegen des ›passus duriusculus‹ interpretiert werden sollte, ist eine Frage, die offen bleiben muß. Höchstens kann der passus duriusculus als zusätzlicher Hinweis zur Tempobestimmung dienen, das aber auch nur bedingt.

Ähnliches gilt für die Fuge E-Dur, ebenfalls aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers von J. S. Bach. Ein Interpret, der sowohl den Vokalkontrapunkt des 16. als auch den Instrumentalkontrapunkt des 18. Jahrhunderts kennt, wird unfehlbar Parallelen zum Stil der klassischen Vokalpolyphonie bemerken, so z.B. das ›rhythmische Crescendo‹ des Themas (T. 1ff.), die Quartsprünge vor den Synkopendissonanzen (T. 3, 5, 6, 13, 14 etc.), den Einsatz der zweiten Stimme mit einer perfekten Konsonanz (T. 2).[14] Wie soll aber ein heutiger (auf modernem Flügel spielender) Pianist diese Kunstgriffe Bachs interpretieren? Sollte er versuchen, ›archaisierend‹ zu spielen? Oder den Gestus einer Vokal- oder Orgelkomposition imitieren? (Wenn ja, dann wie?) Jedenfalls scheinen die genannten Merkmale des ›stile antico‹ die These Mäsers hinsichtlich des langsamen Tempos der Fuge zu bestätigen.[15]

Diese Reflexionen können zwar nicht im Verhältnis eins zu eins in die Praxis umgesetzt werden, sie wirken aber bewußtseinsschärfend, ›bringen Klarheit in die Gedanken des Interpreten‹ dieser Komposition, was auch das ganze Fach Musiktheorie auf der Ebene des Allgemeinen tut.

Eine Systematisierung musiktheoretischer (Er-)Kenntnisse nach dem Kriterium der ›Praxisrelevanz‹ wäre daher nur mit Mühe zu vollziehen. Denn es gibt kaum solche, die nicht bewußtseinsschärfend wirken und dadurch die Qualität der musikalischen Interpretation beeinflussen können.

Ohne die Spezifika des Bedeutungs- und Zeichensystems Musik zu ignorieren und die Musik mit der Sprache gleichsetzen zu wollen[16], kann der folgende Vergleich gewagt werden: Auch eine Sprache kann ohne systematische Grammatikkenntnisse erlernt werden, das dadurch erreichte intuitive Verständnis – und dementsprechend auch der persönliche Sprachgebrauch – wird aber, mit Ausnahmen der Fälle der extrem hohen Begabung, nie so sicher sein wie dasjenige, das sich auf Grammatikkenntnisse stützt. Ähnliches gilt für das die musikalischen Grammatikkenntnisse liefernde Fach Musiktheorie in bezug auf die praktische Musikausübung.

Umberto Eco schreibt in einem anderen Text: »Die Kunst der Restaurierung basiert letzten Endes auf dieser Möglichkeit, von den existenten Teilen der Botschaft auf die Teile, die rekonstruiert werden sollen, zu schließen. Dies sollte an sich unmöglich sein, da man ja Teile rekonstruiert, die der Künstler geschaffen hatte, indem er über alle Systeme von Normen und Voraussichten, die in seiner Zeit galten, hinausging: Aber der Restaurator ist, wie der Kritiker (und auch der Interpret in bezug auf eine musikalische Partitur), derjenige, der das Gesetz wiederfindet, das das Werk beherrscht, seinen Idiolekt, das strukturale Schema, das in allen seinen Teilen herrscht.«[17] Wie kann ein Interpret, der sich nur auf sein ›Gefühl‹ stützt, dem häufig eher Konventionen des 19. Jahrhunderts als etwa eine ›qualitas occulta‹ zugrunde liegen, diesem hohen Anspruch gerecht werden? Das ›Wiederfinden des das Werk beherrschenden Gesetzes‹ ist – entsprechend dem vorausgegangenen kompositorischen ›Schaffensprozeß‹ – eine Tätigkeit, die vom Interpreten viel mehr verlangt als seine sich häufig hinter dem Zauberwort ›Interpretationsfreiheit‹ verbergenden Vorurteile.

Auf die Frage, wieviel musiktheoretische Kenntnisse ein praktischer Musiker benötigt, sei hier daher geantwortet: so viel, wie er aufnehmen kann.

In welchem didaktischen Rahmen sollte aber die Zusammenhangsbildung von Theorie und Praxis, von welcher in der Umfrage der Zeitschrift der GMTH die Rede ist und die hier an einigen Beispielen geschildert wurde, stattfinden?

Jeder (Re-)Integrationsprozeß, der seinen Namen verdient, beruht auf Gegenseitigkeit. Die beste Lösung für eine ›Reintegration‹ der Musiktheorie in die Musikpraxis – bei voller Wahrung ihrer unabhängigen Wissenschaftlichkeit – wäre daher langfristig eine Ausbildung von Instrumentallehrern, die über umfangreiche und profunde theoretische Kenntnisse verfügen, und gleichzeitig von Musiktheorielehrern, denen der Praxisbezug nicht fremd ist. (Selbstverständlich geschieht das bereits vielerorts, aber, wie die Notwendigkeit der GMTH-Umfrage zeigt, vielleicht nicht in ausreichendem Maße.) Ob der künftige Schüler bzw. Student dann bei einem oder beim anderen vielseitig ausgebildeten Lehrer – oder am besten bei beiden – einen integrativen Unterricht bekommt, ist dann von sekundärer Bedeutung. Es wäre aber sicherlich nicht nur empfehlenswert, daß die Instrumentallehrer mit ihren Studenten – und eventuell zusammen mit Theorielehrern – die im Unterricht gespielten Werke verstärkt gemeinsam analysieren und/oder musiktheoretische bzw. musikwissenschaftliche Literatur studieren (wie das bereits mindestens in den Abteilungen für Alte Musik allseits geschieht – hier sei nur das Stichwort historische Generalbaßpraxis erwähnt), sondern auch daß die Musiktheorielehrer mit ihren Studenten verstärkt ›Musik machen‹, z.B. die im Unterricht analysierten Kompositionen nach Möglichkeit zusammen vortragen, und zwar nicht nur, um etwa eine gute Arbeitsatmosphäre zu schaffen, sondern in erster Linie um den musiktheoretischen Erkenntnissen Rechnung zu tragen. Man sollte sich zwar vor Banalisierung hüten, aber auch nicht die Bedeutung der Theorie für die Praxis verschweigen, die unleugbar ist, auch wenn sie nicht ein essentielles Merkmal der Musiktheorie oder der Prüfstein ihres Wertes ist.

Nur eine zweigleisige Annäherung der Disziplinen kann zum tatsächlichen Verständnis zwischen ihnen führen, zu einer ›Sinfonia‹ – im ursprünglichen griechischen Sinne des Wortes – von Theorie und Praxis, die uns unter voller Berücksichtigung veränderter Umstände zum Wiederfinden jenes integralen Musik(er)bildes führen würde, das wir anscheinend irgendwo in den Tiefen des 19. Jahrhunderts verloren haben.

Anmerkungen

1

Vgl. Popovic 2003, Abs. 19, in diesem Band S. 59.

2

Vgl. Küthen 1984, 48; Popovic 2003, Abs. 20, in diesem Band S. 59.

3

Siehe: http://www.gmth.de/www/artikel/2005-02-21_05-18-36_4/zz02_pop_nb1.html.

4

Vgl. Popovic 2003, ebd.

5

Vgl. Dahlhaus 1987, 217.

6

Vgl. Küthen 1984, 48; Popovic 2003, ebd.

7

Siehe: http://www.gmth.de/www/artikel/2005-02-21_05-18-36_4/zz02_pop_nb2.html.

8

Siehe: http://www.gmth.de/www/artikel/2005-02-21_05-18-36_4/zz02_pop_nb3.html.

9

Vgl. Popovic 2003, Abs. 15, in diesem Band S. 58.

10

Siehe: http://www.gmth.de/www/artikel/2005-02-21_05-18-36_4/zz02_pop_nb4.html.

11

Vgl. Popovic 2003, Abs. 23, in diesem Band S. 61.

12

Siehe: http://www.gmth.de/www/artikel/2005-02-21_05-18-36_4/zz02_pop_nb5.html.

13

Vgl. Müller-Blattau, 77f.

14

Vgl. Dürr 1998, 311ff.; Keller 1965, 144ff.; Wolff 1968, 61, 65f., 99, 104, 147, siehe auch Register auf S. 196.

15

Mäser 2000, 387.

16

Zu diesem Themenkomplex s. z.B. Eco 1987, 31.

17

Eco 1992, 411.

Literatur

Eco, Umberto: »Die ästhetische Botschaft«, in: Theorien der Kunst, hg. von Dieter Henrich, Wolfgang Iser, Frankfurt a.M. 1992.

Eco, Umberto: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987.

Dahlhaus, Carl: Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber 1987.

Dürr, Alfred: Johann Sebastian Bach – Das Wohltemperierte Klavier, Kassel 1998.

Keller, Herman: Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach: Werk und Wiedergabe, Kassel 1965.

Küthen, Hans-Werner: »Kritischer Bericht« zu: Beethoven. Werke, Abt. III, Bd. 2: Klavierkonzerte I, München 1984.

Mäser, Rolf: Bach und die drei Temporätsel (=Basler Studien zur Musik in Theorie und Praxis, Bd. 2), Bern 2000.

Müller-Blattau, Joseph (Hg.): Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, Kassel 1999.

Popovic, Tihomir: »Zwei Wege in Beethovens drittem Klavierkonzert«, Zeitschrift der deutschen Gesellschaft für Musiktheorie 1 (2003, 47–74 Printausgabe in diesem Band).

Wolff, Christoph: Der stile antico in der Musik Johann Sebastian Bachs. Studien zu Bachs Spätwerk (=Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 6), Wiesbaden 1968.

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