Kreidler, Johannes (2007), »Luhmanns Medium-Form-Unterscheidung als Theorie der Satzmodelle«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 4/1–2, 135–141. https://doi.org/10.31751/249
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2007
zuletzt geändert / last updated: 22/03/2009

Luhmanns Medium-Form-Unterscheidung als Theorie der Satzmodelle

Johannes Kreidler

In seinem Schlüsseltext »Das Medium der Kunst« führt Niklas Luhmann eigene Termini für eine Theorie der Kunst ein. Zentral ist dabei seine Unterscheidung von ›Medium‹ und ›Form‹ – Termini, die Luhmann als Variablen verwendet. Gerade in Bezug auf Musik lässt sich diese Abstraktion aufschlussreich konkretisieren. Vom Ton als ›Formung‹ des Mediums Luft über die Tonleiterstruktur als Medium der Themenformen bis zur Fuge als Medium der Kunst der Fuge ließen sich am Beispiel des Bachschen Opus theoretisch unendlich viele analytische Differenzierungen anbringen. Luhmann selbst gelangt mit seinem Vokabular bis zur selbstreferentiellen Formel: Die »Differenz von Medium und Form wird selbst medial«. Da es in dieser Theorie um die Darstellung von Möglichkeiten geht, aus denen selektiert wird, liegt, auf die Musiktheorie bezogen, eine Besprechung der Satzmodelle besonders nahe. Die Verortung der Modelle, ihre Möglichkeiten und Grenzen können anhand Luhmanns Medium-Form-Unterscheidung besprochen werden.

Schlagworte/Keywords: media theory; Medientheorie; medium and form; Medium und Form; Modell; musical schema; Niklas Luhmann; Satzmodell; systems theory; Systemtheorie

Die Termini ›Medium‹ und ›Form‹, die Niklas Luhmann in Das Medium der Kunst einführt, sind Variablen: Aus dem Medium Steine lassen sich Mauern formen, Mauern sind wiederum das Medium für die ›Form‹ Haus, Häuser das Medium für Stadtteile und so fort.[1] Diese Vorstellung ist implizit der aristotelischen Form-Stoff-Relation entlehnt; bereits jene verfolgt die Vorstellung, dass ein Stoff geformt wird, diese Form in einem höheren Sinne aber wiederum Stoff für eine weitere Form sein kann.[2]

Carl Dahlhaus setzt das aristotelische Denkmodell in Beziehung zum musiktheoretischen Formbegriff:

Dass der Formbegriff der musikalischen Formenlehre eng begrenzt ist, lässt sich allerdings nicht leugnen; und er fordert ästhetisch begründete Einwände geradezu heraus. Unter aristotelischen Voraussetzungen ist, um an einem vokalen Satztypus zu exemplifizieren, ein Intervall die Form der Töne, eine melodische Gestalt die Form der Intervalle, eine Durchimitation die Form der melodischen Gestalt und eine Motette die Form der Durchimitationen.[3]

Anders also als der musiktheoretische beschränkt sich der aristotelische Formbegriff nicht auf Phänomene einer bestimmten Größenordnung. Was in einem Bezug Form ist, ist in einem anderen wieder Stoff für eine höhere Form. Dahlhaus verfolgt den Gedanken jedoch nicht weiter.

Luhmanns Medium-Form-Unterscheidung für die Musiktheorie

Luhmann, der den abstrakten Begriff des ›Mediums‹ (an Stelle von ›Stoff‹) von dem Psychologen Fritz Heider übernommen hat[4], macht die Beziehung von Medium und Form zur Grundlage seiner Kunsttheorie. Er gibt Definitionen: Das ›Medium‹ ist eine relativ »lose Kopplung von Elementen«, die ›Form‹ dagegen eine »Verdichtung von Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Elementen, also Selektion aus Möglichkeiten, die ein Medium bietet.«[5] So ist beispielsweise die Tonleiter eine Form aus Tönen, genauer gesagt aus Luftschwingungsfrequenzen. Aber diese Elemente sind nur relativ lose gekoppelt; die Tonleiter selbst ist noch keine Melodie. Eine Melodie wäre eine Formung der Elemente der Tonleiter, eine Selektion daraus, und eine Verdichtung der Abhängigkeitsverhältnisse.

Luhmanns Blick ist historisch: Die Theorie lege nahe, »die Evolution von Kunst als Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens zu beschreiben, als Entwicklung immer neuer Medien-für-Formen.«[6] Aus dem Primärmedium Luft beispielsweise wird ein reiner Ton geformt, was eine gewisse elaborierte Technik fordert. Im Mittelalter nutzt man den Gesangston als Träger der Deklamation liturgischer Texte, und zwar zur akustischen Verstärkung in Kirchengebäuden. Daraus folgen wiederum die Gregorianischen Gesänge, und so schreitet die Entwicklung weiter, bis hin zum gesampelten Mönchschor in der Popmusik.

Die Verwendung des Wortes »Auflösung« bei Luhmann kennzeichnet einerseits das Potenzial eines Mediums, Elemente für die Formung zur Verfügung zu stellen: Zehn Klaviertöne als Medium für ein Decrescendo sind feingliedriger als zwei Klaviertöne. Andererseits impliziert der Ausdruck ›Auflösung‹ auch die Zersetzung einer gegebenen Ordnung und die Rekombination ihrer Elemente, wie zum Beispiel in Variationen nach einem Thema: Man schafft sich neue Medien, in dem eine zuerst bestehende Formidee auf etwas appliziert wird. So stellt der Kunsttheoretiker Arthur C. Danto beim Betrachten der Brillo Boxes Warhols fest, das eigentliche, neue Medium dieses Kunstwerks sei nicht das bemalte Holz, sondern das Rezeptionsverhalten, das es provoziert. Dieses Medium tue sich auf, wo Warhols Objekte nicht als traditionelle Skulpturen, sondern als provokante Ableitungen gesehen werden, als entlehnte Formen, die nun ihrerseits ein neues Medium sichtbar machen. Ein Medium der Kunst kann, nach Luhmann, als solches überhaupt nur in einer formalen Manifestation erkannt werden.[7] Und nach der bekannten These Marshall McLuhans ist das Medium auch der eigentliche Erkenntnisgewinn, »the medium is the message«.[8] Demnach ersteht der Sinn eines Kunstwerks aus der Frage, zu welchen Medien es sich verhilft, welche vorhandenen Medien es dafür nutzt, welche Unterscheidungen von Medium und Form seine Konstitution gliedern.

Die Transfers vom Alten zum Neuen, die Kunst als »durch und durch geschichtlich[e]« (Adorno) vornimmt, sollen als solche auch kenntlich sein. In der sprachlichen Bezeichnung musikalischer Sachverhalte können solche Transfers ebenso zum Ausdruck gebracht wie zugleich auch angeregt und gelenkt werden. Die Metapher, die aus der Übertragung eines spezifischen musikalischen Terminus’ auf einen Gegenstand resultiert, den er bislang nicht bezeichnete, macht das Neue im Alten ebenso erfahrbar wie umgekehrt das Alte im Neuen. Hanslicks Wort von der »Form als Rhythmus im Großen« wäre als Beispiel zu nennen, ebenso Schönbergs Rede von der »Klangfarbenmelodie«. Allerdings ist der Ausdruck ›Klangfarbenmelodie‹ unscharf: Melodien und wechselnde Partialtonverhältnisse gehorchen nicht derselben Logik, und aus der Metapher geht strenggenommen nicht hinreichend genau hervor, welche Teilbedeutungen des Melodiebegriffs auf welche Momente der Klangfarbenfolge bezogen werden sollen. Die universelle Medium-Form-Unterscheidung dagegen verwendet die Ausdrücke ›Medium‹ und ›Form‹ von vornherein als Variablen oder ›Module‹ ohne spezifischen Gehalt. Damit ermöglicht sie Vergleiche zwischen auf verschiedenen Ebenen herausgearbeiteten ›Medien‹ und ›Formen‹. Was etwa den zeitlichen Verlauf der Klangfarben in Schönbergs op. 16,3 von dem der Töne einer beliebigen Melodie unterscheidet und welche Form-Ideen der Klangfolge und der Melodie jeweils zugrundeliegen, läßt sich über die universelle Medium-Form-Operation genau benennen: Im einen Fall wird aus den Medien ›Tonleiter‹ und ›Dauern‹, im anderen aus den Medien ›instrumentale Klangfarben‹ und ›Dauern‹ etwas ›geformt‹. Die Chance der Medium-Form-Unterscheidung ist mithin ihre Abstraktheit. Sie kann die tradierten analytischen Instrumentarien nicht ersetzen, aber doch ergänzen.

Eine Anwendung der Medium-Form-Unterscheidung auf verschiedenen Ebenen könnte beispielsweise ergeben, die Tonleiter in Bachs Kunst der Fuge sei das Medium der Themenformen, eine Themenform das Medium der einzelnen Fuge und die Fuge schlechthin das Medium der Idee einer Abhandlung der Fugenkomposition; weiterhin sei der Ton in Ermangelung einer Instrumentationsanweisung nur die Form der (wie auch immer temperiert unterteilten) Schwingungsfrequenzen. Die rhythmische Formung der Thementöne ließe sich vor dem Hintergrund verfügbarer Metren oder auch von Topoi bzw. Charakteren darlegen. Oder aber die wesentlichen Differenzen ergeben sich aus dem Vergleich mit anderen Stücken; auch ließe sich fragen, ob die ästhetische Erfahrung sich auf die Interpretation oder gar die Repräsentation des Werkes bezieht, und ob das Werk als Kunstwerk oder als Ausstellungsstück interessiert. Schließlich ließen sich die Medien der Analyse untereinander vergleichen.

Theorie der Satzmodelle

Die bei Luhmann aufgegriffene Medium-Form-Unterscheidung ist charakterisiert durch die Operation, etwas Gegebenes auf zu Grunde liegende Möglichkeiten zu beziehen. (mehr an Luhmann soll an dieser Stelle gar nicht durchexerziert werden.[9]) In der Musiktheorie angewandt, führt dies zu Methoden der Tonsatzlehre, dem Anfertigen von Stilkopien. Differenziert man zwischen allgemeinen Grundlagen, wiederkehrenden Mustern und historischen Unterschieden, so lassen sich von den Werken Schemata zur eigenen Anwendung abstrahieren. Die Musiktheorie ist in den letzten Jahrzehnten dazu übergegangen, Regeln aus konkret gegebenen Werken abzuleiten. Verglichen werden dabei Medien, Formen und deren Differenzen. An einem einfachen Beispiel dargestellt: In den Messen von Josquin gibt es einen bestimmten Vorrat an Verzierungsformen der Klauseln. Diese verschiedenen Formen der Klauseln sind ihrerseits Medium für Abwechslung, ›variatio‹ innerhalb eines ganzen Messsatzes. Entsprechend können Übungen entworfen werden, deren didaktisches Konzept auf der jeweils klaren Differenzierung von Medium und Form liegt: Auf das Formen von verzierten Klauseln folgt das abwechslungsreiche Interpunktieren größerer Verläufe durch verschieden verzierte Kadenzen. Das erste Medium ist das Repertoire an Verzierungen: Vorhalte, Antizipationen, Nebennoten etc. bilden ›lose gekoppelte Elemente‹, die verschieden kombiniert werden können. Die Formen daraus sind ›Selektionen‹, Zusammenstellungen dieser Elemente, ›Verdichtungen‹ zur jeweils vollständigen Kadenz. Das Repertoire verschiedener solcher Kadenzen bildet wiederum das ›Medium‹ zur Gestaltung verschiedener Schlüsse. Schließlich tragen variantenreich gestaltete Kadenzen und Kadenzfluchten, über einen ganzen Messensatz verstreut, zu einer reichhaltigen Formung des Ganzen bei.

Derart hierarchische Modelle prägen die Methodik etlicher Tonsatz- und Improvisationslehren seit dem Mittelalter, sei es mehr oder weniger abstrakt oder orientiert an bestimmten Komponisten, Zeiten und Gattungen. Die Medium-Form-Unterscheidung ist das heuristische Mittel für die Analyse historisch gewordener Musik und deren Re-Synthese in der Stilkopie. Prototypisch dafür ist Johann Joseph Fux’ (in seiner Didaktik) epochaler Traktat Gradus ad Parnassum.[10] Der darin gelehrte ›Palestrina-Stil‹ wird in regelgesteuerten Einschränkungen des Spielraums, den sogenannten »Gattungen«, aufbereitet. Fux macht Medien sichtbar und staffelt sie hierarchisch; sein Werk ist der eigentliche Beginn einer modernen Didaktik der Musiktheorie. Was sich in der Geschichte der Musiktheorie nach Fux gewandelt hat, ist die Dogmatik: Wurde früher versucht, Qualitäten mit Regeln zu umschreiben, bezieht man sich heute vermehrt auf Quantitäten.[11] Dabei hilft die Medium-Form-Unterscheidung, denn im Tonsatzunterricht muss auch die Quantität der Fuxschen Medien dargestellt werden: Allzuoft denken Schüler vor lauter Regeln, dass man gar nichts mehr darf, sondern nur muss – doch zu Regeln gehören Möglichkeiten.

Bei einer Medientheorie der Stilkopie offenbart sich der historische Unterschied von heute zu damals, der über die Qualität entscheidet: Die Zeitgenossen, und vor allem die ›Meister‹ schufen sich, trotz und wegen der Traditionsbestände, ihre Medien selber, dank Formen, die inspirierte Ideen sind. Heute liegen diese Medien und Formideen der Großen vor, und im besten Falle schafft man reizvolle Kombinationen aus dem gegebenen Vokabular, doch die kreative Zündung, die die Formung eines neuen, eigenen Mediums wohl auslöst, ist so nicht zu erreichen. Denn die Form-Ideen sind seinerzeit aus Prozessen und vor allem auch aus Widerständen heraus entstanden, ihr Repertoire wurde erst gebildet, die Selektionen waren teils unbewusst, und dies kam der schöpferischen Arbeit durchaus zu Gute. Josquins Missa La-Sol-Fa-Re-Mi, deren zentrales Medium die anekdotische Tonfolge ist, taugt schlecht zum Muster einer Stilkopie, man könnte nur das individuelle Werk nachahmen. Satzmodelle orientieren sich an allgemeineren Medien, der Schnittmenge von Medien vieler Werke. Die allgemeinsten Medien sind die in einer bestimmten Zeit gar nicht hinterfragten, die Dauern des Metrums, die Töne der Tonleiter, bestimmte Zusammenklänge. Nicht jede Form kann wieder nach dem dahinterliegenden Medium befragt werden; das Dodekachordon war praktisch eine unhintergehbare Instanz (mit der Natur bzw. Gott begründet). Von diesen Medien heben sich die individuelleren ab, die den Stil einer Person, Gattung oder Zeit ausmachen. Bei der Frage, was denn nun in einem Werk der traditionellen Musik gestaltet wurde, sind gerade die individuellen Spielräume von Komponisten von Interesse, die sich in der Aneignung, Ausdifferenzierung und Überwindung von Konventionen manifestieren. In der traditionellen Musik ist die Tradition interessant: Welche Medien lässt die Tradition zu? Welche Rolle spielen Normabweichungen bis hin zu produktiven Regelverletzungen für die evolutionäre Herausbildung neuer Medien? Hier freilich stößt die Kategorie des ›Modells‹ an ihre Grenzen, es sei denn, man schafft es, noch Abweichungen von konstitutiven Eigenschaften eines tradierten Modells medial darzustellen. Bei Schumann, einem guten Beispiel für die Anlehnung an Modelle einerseits und deren Umformung andererseits, mag dies nicht unmöglich sein, da das Verfahren in vielen Werken Schumanns zu finden ist, sprich: zu einer Schumannschen Form wird. Das ist Evolution: Vom Verstoß zur Regel, vom neuen Medium zu einer neuen Form. Satzmodelle stehen zwischen den unhintergehbaren, ›naturgegebenen‹ Medien und dem individuellen Werk, das, trotz des mittelalterlichen Verständnisses von Kunsthandwerk schon bei Machaut und Dufay unleugbar existiert. Diese Position wird bei Fux durch die Rede vom »strengen« und »freien Satz« differenziert. (Die sprachliche Opposition täuscht: Der strenge Satz bietet Medien an, innerhalb derer man sich bewegen darf; der freie Satz gewährt bestimmte Lizenzen dazu.)

Diese Position des Modells zwischen allgemeinen Medien und individuellem Werk kann man theoretisch verschieben. Luhmann formuliert dies pointiert: In der Kunst wird »die Differenz von Medium und Form ihrerseits medial«.[12] Ob man einfach ein kirchenmodales Stück schreibt, exakt die Idee von Josquins Laisse-faire-Messe neu ausarbeitet oder aber sich zwischen diesen Polen bewegt – man kann dieses Spektrum wieder als Medium verstehen. Die Medium-Form-Zuordnungen in Bachs Kunst der Fuge – die Tonleiter als Medium der Themenformen, die Themenformen als Medien der einzelnen Fugen, die Fuge als Medium der Idee des barocken ›Kunstbuches‹ (Peter Schleuning) – bilden zunächst eine schöne Kette, doch lassen sich nicht sehr viele Merkmale eines Werkes in eine solche Reihenfolge zwängen. Häufig springt man von einem Medium zum anderen und wieder zurück; Auch die Fuxsche Ordnung der Gattungen ist nicht essentiell. Es kommt darauf an, Möglichkeiten von Möglichkeiten darzustellen, und dafür ein Meta-Medium zu finden, das zu einem Resultat führt (inventio – dispositio – elaboratio – decoratio). In der fortgeschrittenen Anwendung ist dann durchaus gefordert, derlei Schemata umzudrehen – sprich: medial handzuhaben. Die Differenz von Medium und Form ist selbst medial. All dem liegt die allgemeine Trans-›form‹-ation von Musik in Sprache zu Grunde, verschwistert mit der Notation von Musik. Viele musikalische Ideen kommen überhaupt erst in einem anderen Medium zu Bewusstsein: Eine Melodie auswendig rückwärts zu singen ist äußerst schwer, sie rückwärts abzulesen ein Leichtes. So verstanden sollten für den Tonsatzunterricht musikalische Begriffe Sprachspiele sein; die variable Medium-Form-Unterscheidung leitet dazu an. Dass es hierbei zu Reibung mit den kodifizierten Termini der Musiktheorie kommt, ist freilich heikel und beschwört unweigerlich den alten Streit zwischen Theorie und Handwerkslehre herauf.

Die Begriffe ›Medium‹ und ›Form‹ ständig für Verschiedenes einzusetzen, mag verwirren; dies ist der Preis der ständigen Option zum Vergleich. Ob die Form des Einzeltons oder die Form der ganzen Symphonie, es kann herausgearbeitet und verglichen werden, was komponiert wurde, woraus komponiert wurde. Ein weiterer wesentlicher Aspekt: Ob nun eine Zwölftonreihe gebildet wird oder der DJ in seinem Plattenkoffer kramt – das Material eines Musikstückes ist eine Selektion aus Elementen, und diese Elemente sind selbst immer schon Geformtes. Das Material ist ›präkomponiert‹; Bereits der Einzelton verdankt sich einem (meist hochentwickelten) Instrument, mag dieses auch in unselbstständiger, ›dienender‹ Intention gebaut worden sein. Eine Komposition ist eine Weiterkomposition, dies ist der Grundsatz schlechthin der Rede von Satzmodellen.

Eine Schwierigkeit für die Satzlehre sind qualitative Sprünge in der Quantität eines Mediums. Wie so oft in der traditionellen Musik bietet sich ein Vergleich mit der Sprache an: Grammatik und Wortschatz sind kodifizierbar, singuläre Redewendungen aber sind nur schwer auf allgemeinere Schemata zurückzuführen, geschweige denn in Gänze normativ zu umreißen. Wieder haben wir es mit unhintergehbaren Formen (bzw. nur sehr abstrakt hintergehbaren) zu tun. Hilfreich ist hier eine historische Differenzierung: Topoi sind allmählich aus Medien entstanden und werden selbst wiederum Medien. Wie verschieden Bach Sequenzen im Wohltemperierten Klavier gestaltet, macht ersichtlich, dass hier keine feste Form gebraucht wird. Andererseits ist schwer zu sagen, ob etwas zum Topos geronnen ist oder nicht, ob es sich um eine Form oder ein Medium handelt. Eine Quintfallsequenz ist bei Bach Standard, bei Schumann altertümlich und bei Mozart bleibt das Urteil schwierig.

Am Beispiel der Sequenzen Bachs zeigt sich, wie Quantität Qualität ist. Hört man den ganzen Zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers, erfährt man einen riesigen Variantenreichtum an Sequenzen. Interessant ist das Verhältnis der Möglichkeiten zur relativ einfachen Idee des Sequenzmodells, in das aber eine Vielfalt an Medien einbezogen werden kann. Das bedeutet für Bach auch, dass das Modell selbst ist in einem höheren Sinne Medium ist, und zwar insofern, als er es über das ganze Werk hinweg einsetzt, mit ihm quasi auf Wanderschaft geht und aufs äußerste strapaziert. Ähnlich verhält es sich mit Schönbergs Ausdruck der »wandernden Tonalität«[13], der entgegen dem einfachen Schema der Modulation von A nach B den Quintenzirkel als Medium einer Bewegung fortlaufend wechselnder tonaler Bezüge ansieht. Schon Durchführungen bei Beethoven oder Schubert lassen sich so hören, und bei Wagner wird Schönbergs ›wandernde Tonalität‹ vollends zum vorherrschenden Prinzip. Damit ist auf die Neue Musik gewiesen, die einen qualitativen Sprung darstellt im Medium-Form-Verständnis. Paradigmatisch dafür stehen die Parametrisierung und neue Formen wie die Zwölftonreihe oder Klangflächen ebenso wie die radikalen Ausbruchsversuche aus den Kunstkonventionen nach 1960. Der Serialismus, der die Form der Reihe auf immer mehr musikalische Parameter applizieren wollte, ist der Beginn eines Forschungsprogrammes, das fragt, was denn überhaupt alles komponierbar sei. (Heute weiß man: Es ist infinit.)

Die hier aufgeführten Gedanken sind Aspekte einer noch ausstehenden allgemeinen Medientheorie der Musik. Dass in ihr manchmal Dinge unterschieden werden, die eine organische Einheit bilden, ist bewusst. So sind die Kirchentöne nicht nur Skalen, sondern implizieren gemeinhin schon den Rezitationston. So historisch solche Einheiten sind, so ist aber auch historisch, die Grenzen – die feststehenden, ›gottgebenen‹ Formen – einer Zeit von der späteren Warte aus zu überblicken. (›Organische Einheit‹ heißt ja, dass es verschiedene Organe sind, die sich zuarbeiten, wie im menschlichen Körper.) Meist fehlen Quellen, um die vermeintlichen Intentionen des Autors zu verifizieren. Es geht weniger um die Medien des Komponisten, als um die Medien der Komposition, und weniger um ein Sinnverständnis, das ›Sinn‹ in der Selektion des Komponisten verortet, als um eines, das auf die Selektionsvorgänge im gegenwärtigen Hören zielt: Musiktheorie ist immer Gehörbildung.

Anmerkungen

1

Luhmann 2001.

2

Dieser Text ist nach meinem Referat Luhmanns Formbegriff für die Musiktheorie (6th European Analysis Conference / VII. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie, Freiburg 2007) die erste – und darum eher essayistische – schriftliche Formulierung von Gedanken, die auf eine allgemeine Medientheorie der Musik zuführen sollen.

3

Dahlhaus 2005, 601.

4

Was vor allem angesichts der im 20. Jahrhundert zahlreich gewordenen Medientheorien interessant ist, die fast nie einen von den Speichermedien losgelösten, abstrakteren Medienbegriff in Betracht ziehen.

5

Luhmann 2001, 200.

6

Ebd., 208.

7

Ebd., 200.

8

»The medium is the message« (McLuhan 2001).

9

Freilich ist dies nur ein Partikel des ›Luhmann-Kosmos‹. Für die folgenden Reflexionen erscheint es aber sinnvoller, diesen einen Aspekt fruchtbar zu machen, als die Luhmannsche Systemtheorie heraufzuziehen, zu der es gegenwärtig keinen einheitlichen Forschungsstand gibt.

10

Fux 1925.

11

Siehe zum Beispiel Daniel 1997 und 2000.

12

Luhmann 2001, 203.

13

Schönberg 1911, 430.

Literatur

Luhmann, Niklas (2001), »Das Medium der Kunst«, in: ders., Aufsätze und Reden, Stuttgart: Reclam, 198–217.

Dahlhaus, Carl (2005), »Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Zweiter Teil«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. von Hermann Danuser, Laaber: Laaber, 413–658.

McLuhan, Marshall (2001), Das Medium ist die Botschaft, Dresden: Verlag der Kunst.

Fux, Johann Joseph (1967), Gradus ad Parnassum (= Sämtliche Werke, Serie 7, Bd. 1), Kassel: Bärenreiter.

Daniel, Thomas (1997), Kontrapunkt. Eine Satzlehre zur Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, Köln 1997: Dohr.

––– (2000), Der Choralsatz bei Bach und seinen Zeitgenossen, Köln: Dohr.

Schönberg, Arnold (1911), Harmonielehre, Wien: Universal Edition.

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