Schwab-Felisch, Oliver / Hans-Ulrich Fuss (2007), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 4/1–2, 9–12. https://doi.org/10.31751/243
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2007
zuletzt geändert / last updated: 04/07/2009

Editorial

›Satzmodelle‹ gewinnen in der gegenwärtigen Musiktheorie mehr und mehr an Bedeutung. Sie bieten eine Ergänzung traditioneller, am Primat von Harmonik und Thematik ausgerichteter Analyseverfahren, stützen oder relativieren hierarchische Strukturtheorien, verhelfen Formenlehren zu satztechnischer Konkretisierung, dienen als Ausgangspunkte hermeneutischer Untersuchungen und besitzen nicht zuletzt etliche theoriedidaktische Vorzüge.

Die schlichte Frage, was ein Satzmodell ausmacht, ist freilich nicht leicht zu beantworten. Sollen historisch so disparate Gebilde wie die ›7-6-Progression‹ und der ›Ruggierobass‹, die ›Initialkadenz‹ und die ›Teufelsmühle‹ allesamt als Satzmodelle gelten, verbietet sich eine historisch-genetische Bestimmung. Ein systematischer Modellbegriff aber, der sich dem Vorwurf der Willkür nicht aussetzen möchte, steht vor der Schwierigkeit, dass die Modellbegriffe, auf die er sich stützen könnte, nicht minder heterogen sind denn die Modelle selbst.

Die gemeinsamen Komponenten divergierender Modellbegriffe zu bestimmen, scheint gleichwohl nicht überflüssig:

  • Als abstrakte Komplexe werden Satzmodelle in ihren jeweiligen Anwendungszusammenhängen nicht zitiert, sondern instantiiert. Die Instantiierung besteht in der Bestimmung von Momenten wie Tonart, Metrum oder Rhythmus, Momenten also, die keine konstitutiven Bestandteile des jeweiligen Modellbegriffs sind, aber notwendig auf irgendeine Weise ausgeprägt sein müssen, wenn ein Satzmodell notiert oder zu Gehör gebracht werden soll.

  • Instanzen von Satzmodellen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der oben genannten Momente, sondern können die Satzgerüste, die sie gemeinsam haben, unter außerordentlich verschiedenartigen Oberflächen verbergen. Satzmodelle werden nicht allein im obigen Sinne instantiiert, sondern können auch diminuiert werden.

  • Instanzen von Satzmodellen lassen sich mit anderen Instanzen von Satzmodellen oder sonstigen Gebilden zu Syntagmen höherer Ordnung zusammenschließen.

  • Satzmodelle sind zumindest im Prinzip begrifflich fassbar; Instanzen von Satzmodellen bilden distinkte musikalische Einheiten.

  • Satzmodelle beziehen sich auf multiple Originale: sie zeigen eine Konfiguration, die vielen zu verschiedenen Zeitpunkten entstandenen Originalen gemeinsam ist.

Einige Eigenschaften treffen nur auf einen Teil aller Satzmodelle zu:

  • Die meisten Satzmodelle beinhalten lineare Komponenten. Linearität bildet einen wichtigen Faktor des musikalischen Zusammenhangs, zugleich geht sie mit konkreten Bestimmungen der Bassführung, Melodik und/oder Textur einher.

  • Die spezifischen Eigenschaften eines Satzmodells können formal relevant sein. Bestimmte Satzmodelle werden bevorzugt an bestimmten formalen Positionen eingesetzt, bestimmte formale Funktionen in bestimmten kompositionsgeschichtlichen Zusammenhängen durch bestimmte Modelle realisiert.

  • Instanzen von Satzmodellen können außerstrukturelle Inhalte bezeichnen.

Zusammengenommen erhellen die genannten Eigenschaften einen Großteil der musikalischen wie musiktheoretischen Bedeutung von Satzmodellen:

  • Bei der Instantiierung eines Satzmodells greifen Momente von Bindung und Freiheit vielfach ineinander. Der Rückgriff auf vorgeformte Komplexe und konventionelle Weisen ihrer Instantiierung ist ein wichtiges Mittel kompositorischer Ökonomie; der Zwang zur Bestimmung des Unbestimmten bietet kompositorischem Handeln Raum.

  • Die Differenz von Modell und Ausarbeitung lenkt den Blick auf das Individuelle einer Modellinstanz, erlaubt analytische Rekonstruktionen strukturlogischer Verhältnisse, legt den Vergleich mit anderen Modellinstanzen nahe und führt damit auch auf form-, stil- oder gattungsgeschichtliche Fragen.

  • Das Moment der Kombinierbarkeit kommt der Idee entgegen, Komposition bestehe im Zusammenfügen vorgeformter Bausteine. Zwischen der aktuellen Renaissance des Begriffs der ars combinatoria und der Ablösung des Organizitätsgedankens durch postmoderne Werte wie Polyperspektivität und Heterogentiät besteht ein offenkundiger Zusammenhang.

  • Wer die Instanz eines Satzmodells identifiziert, bringt die vielgestaltige Oberfläche eines vergleichsweise ausgedehnten musikalischen Abschnitts unter einen einfachen Begriff. Damit wird die Bestimmung auch solcher Strukturen möglich, für welche die Formenlehre keine Substanzbegriffe und die Harmonielehre lediglich Begriffskombinationen anbietet.

  • Die Linearität von Satzmodellen bringt Fragen der Satztechnik ins Spiel und ermöglicht zudem widerspruchsfreie Deutungen ansonsten problematischer Passagen – dass die Funktionstheorie vor bestimmten Harmoniefolgen die Waffen streckt, gehört zu den Gemeinplätzen der Musiktheorie.

  • Der formfunktionale Bestimmung von Satzmodellen ist für die Formenlehre insofern von Interesse, als sie die satztechnische Bestimmung formaler Funktionen impliziert.

  • Der Zeichencharakter bestimmter Instanzen bestimmter Satzmodelle öffnet die musikalische Analyse hermeneutischen Fragestellungen.

  • Satzmodelle verdanken sich nicht dem Anspruch systematischer Musiktheorie, musikalische Phänomene auf allgemeine Prinzipien zurückzuführen, sondern sind überwiegend durch Kompositionslehren und historische Praxis beglaubigt.

Der Kunstgriff, Modelleigenschaften, deren Unterscheidung auf bestimmte Theorien zurückgeht, als fakultative Eigenschaften eines im Kern identischen Gegenstandes zu beschreiben, löst freilich das Problem der heterogenen Modellbegriffe nicht. Welche der Dimensionen Linearität, Kontrapunkt und Harmonik ein Modellbegriff berücksichtigt und in welches Verhältnis er sie zueinander setzt, ob er das Moment der Ausdehnung über die kategoriale Zuordnung eines Gebildes entscheiden lässt, welchen Stellenwert er qualitativen und semantischen Aspekten zuweist, ob er allein solche Gebilde zulässt, die ausdrücklich oder in Notenbeispielen tradiert wurden, schließlich auch, ob er den kompositorischen Kontext instantiierter Satzmodelle als Stückwerk oder organisches Ganzes konzeptualisiert, steht keineswegs von vornherein fest.

Die Vielfalt der Begriffe ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass eine theorie- und begriffsgeschichtliche Diskussion, die sich nicht auf Teilschauplätze beschränkt, bis heute aussteht. Insofern leistet Hans Aerts' Untersuchung Grundlegendes: sie resümiert die Geschichte von Termini wie ›Formel‹, ›Typus‹ oder ›Topos‹ in der deutschsprachigen Musiktheorie und Musikwissenschaft des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Nicholas McKays Beitrag zur englischsprachigen ›Topic Theory‹ zeichnet einen Diskussionszusammenhang nach, der hierzulande bislang von wenigen zur Kenntnis genommen wurde: Topics sind Satzarten, -typen und -charaktere, die durch Funktionsfelder und stilistische Herkunftsbereiche semantisch geprägt sind. Die Entwicklung ihrer Theorie, so McKay, folgt den Stadien ›Begründung‹ (Leonard Ratner), ›Verbindung mit dem Gegen-Paradigma der Schenker-Theorie‹ (Kofi Agawu) und ›Weiterführung durch immanente Kritik‹ (Robert Hatten, Raymond Monelle). Folker Froebe verortet die theoriegeschichtlichen Wurzeln zentraler Modelle in der Lehrtradition des ›Contrapunto alla mente‹, die er anhand zentraler Quellen beleuchtet. Die vokale Improvisationslehre, so zeigt sich, stellt zugleich eine implizite Theorie des konzertanten Kontrapunkts nach 1600 zur Verfügung: Die Modelle der sequenzbasierten Improvisationsdidaktik bewahren ältere Praktiken der Generation Josquins und antizipieren (bzw. reflektieren) zugleich den ›Stilwandel‹ der musikalischen ›Hochsprache‹ um 1600. Die Einsicht, der kompositorische »Gebrauch von Modellen, Satztypen oder Modulen« stelle keinen »Widerspruch zur individuellen Gestaltung« (Marie-Agnes Dittrich) dar, führt auf die Frage nach deren Inszenierung und Funktion. In Mozarts Klavierkonzerten KV 466 und 459, so Hans-Ulrich Fuss, trägt der Umgang mit Satzmodellen als thematisch-motivische Arbeit ›zweiter Ordnung‹ zur Herstellung eines stimmigen internen Beziehungsgeflechts nicht weniger bei als die eigentlichen Themen selbst. Die variable Behandlung des harmonischen Rhythmus und ›submotivische‹ Beziehungen zwischen den Satzmodellen begründen eine neue Entwicklungsdynamik der Modellkomposition. Rudolf Rasch beschreibt die ›Zirkelsequenz‹, eine Quintfallsequenz, die alle Stufen einer Tonart durchläuft, zunächst in ihren grundlegenden Aspekten, um dann ihre kompositorische Verwendung in Mozarts Klaviersonaten zu untersuchen. Der Variabilität der Inszenierungsweisen, so sein Befund, stehen konstante Aspekte des Modellgebrauchs gegenüber. Marie–Agnes Dittrich widmet sich den als ›Teufelsmühle‹ und ›Omnibus‹ bekannten chromatischen Sequenzmodellen. Dittrich kritisiert Inkonsequenzen in der Behandlung dieses Phänomens bei Victor F. Yellin und liefert eigene Analysewerkzeuge und Deutungsvorschläge. Zwei gegensätzliche Verwendungsweisen von ›Fauxbourdon‹ in Werken Béla Bartóks untersucht Laura Krämer: Dabei zeigt sich einerseits eine bewusste Bezugnahme auf die Tradition, andererseits kann sich das Modell auch quasi akzidentiell aus den konstruktiven Kompositionsprinzipien ergeben, ohne topische Qualität zu besitzen. Vor dem Hintergrund der Luhmannschen Unterscheidung von ›Medium‹ und ›Form‹ beleuchtet Johannes Kreidler Möglichkeiten und Grenzen von Satzmodellen. Felix Wörner würdigt Ludwig Finscher anlässlich der Vergabe des Wissenschaftspreises der Internationalen Balzan-Stiftung im Herbst 2006. Folker Froebes ›Kolumne‹ schließlich liefert die facettenreiche Besprechung einer Vielzahl wichtiger Publikationen zum Thema.

Oliver Schwab-Felisch, Hans-Ulrich Fuss

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