Scheideler, Ullrich (2023), »Tobias Robert Klein (Hg.), Carl Dahlhaus. Briefe 1945–1989, Kassel: Bärenreiter / Berlin: Metzler 2022«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 20/1, 117–122. https://doi.org/10.31751/1191
eingereicht / submitted: 08/06/2023
angenommen / accepted: 08/06/2023
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 03/07/2023
zuletzt geändert / last updated: 20/08/2023

Tobias Robert Klein (Hg.), Carl Dahlhaus. Briefe 1945–1989, Kassel: Bärenreiter / Berlin: Metzler 2022

Ullrich Scheideler

Schlagworte/Keywords: Carl Dahlhaus; Geschichte der westdeutschen Musikwissenschaft und Musiktheorie zwischen 1945 und 1989; History of West-German musicology and music theory between 1945 and 1989; neue Musik; new music; Theodor W. Adorno

Dieses Buch ist eine Tat. Was der Herausgeber Tobias Robert Klein mit dieser Briefedition zusammengetragen und zugänglich gemacht hat, entfaltet den reichen Kosmos der geistigen Welt und der spezifischen Denkfiguren des Musikwissenschaftlers Carl Dahlhaus, gibt darüber hinaus Einblicke in dessen Arbeitsweise und somit die Bedingungen einer ungeheuren und eindrucksvollen Produktivität. Zugleich sind die Briefe Spiegel wesentlicher Tendenzen der westdeutschen (männlichen) Musikwissenschaft u. a. um Hans Heinrich Eggebrecht, Rudolf Stephan, Theo Hirsbrunner, Joachim Kaiser oder Ludwig Finscher in der Nachkriegszeit bis kurz vor der Wende im Jahr 1989 – und dies, obwohl ›nur‹ 359 der über 10.000 zum größten Teil im Archiv der Technischen Universität Berlin aufbewahrten Briefe auf 380 Seiten ediert wurden. Die Briefe umspannen einen Zeitraum von über 40 Jahren, beginnend im Jahr 1945 und bis in das Frühjahr 1989 reichend, als Dahlhaus nach schwerer und langwieriger Krankheit, die auch in den Briefen immer wieder thematisiert wird, starb.

Der gleichsam offiziellen Post, die Dahlhaus u. a. als unermüdlich Pläne schmiedenden Hochschullehrer und täglich schreibenden Autor zeigt, folgen in einem zweiten Teil auf weiteren gut 260 Seiten Ausschnitte aus Exzerpten, die seine Frau Annemarie Dahlhaus (für die Jahre 1945–1968) sowie Sigrid Wiesmann (für die Jahre 1978–1988) aus jeweils an sie gerichteten Briefen erstellt hatten. Diese zeigen mehr die persönliche, oft selbstreflexive Seite von Dahlhaus, wirken bisweilen wie Tagebucheinträge, sodass es auch wenig ausmacht, dass die Antworten, sofern es überhaupt solche gegeben hat, nicht abgedruckt sind.

Der Herausgeber hat sich grundsätzlich auf den Abdruck allein der von Dahlhaus geschriebenen Briefe beschränkt (primär aus rechtlichen Gründen). In den Kommentaren und Fußnoten aber werden die Hintergründe und der Diskussionsstand, wie er sich durch die Gegenbriefe erschließen lässt, oft minutiös ausgebreitet, sodass wir stets genauer über die zur Debatte stehenden Fragen und die Kontexte ins Bild gesetzt werden. Die einzige Ausnahme stellt Theodor W. Adorno dar, der sich nach sporadischer Korrespondenz seit 1953 vor allem 1966/67 im Zusammenhang von Dahlhaus’ Berufung auf eine Professur, bei der neben Berlin auch Frankfurt zur Debatte stand, stark engagierte und dessen Gegenbriefe in den Kommentaren vollständig wiedergegeben sind.

Im Zentrum der ›offiziellen‹ Briefe stehen häufig organisatorische Fragen, doch werden nicht selten auch Probleme skizziert, denen Dahlhaus in Vorträgen, Aufsätzen, in Symposien oder Büchern nachgehen will, sodass die Briefe gleichsam in kondensierter Form jene musikwissenschaftlichen Themen und Fragestellungen ausbreiten, deren Ausarbeitung wir in seinen zahlreichen Texten nachlesen können. So werden etwa Probleme der Notenschrift (Brief vom 4.12.1963 an Ernst Thomas), des Historismus (an Eggebrecht im April 1972), der Rhythmik und Metrik (an Ernst Apfel im April 1972) umrissen. Gleichzeitig werden mögliche Themen einer vorzubereitenden Wagner-Tagung (an Egon Voss im Februar 1981) und eine mögliche Disposition seines Beitrags über Dramaturgie der italienischen Oper (an Lorenzo Bianconi Ende 1983) diskutiert. In einem Brief an Wilhelm Maler vom Januar 1968 sind zudem mögliche Forschungsaufgaben eines (letztlich gescheiterten) Max-Planck-Instituts für Musik aufgelistet, in dem die Musiktheorie – und zwar eine ›wissenschaftliche‹ Musiktheorie, die sich von ihrem primär propädeutisch-pädagogischen Impetus löst – eine bedeutende Rolle hätte spielen sollen (vgl. 109–112). Von Interesse sind daneben die Entwürfe und Ideen, die Dahlhaus an Klaus Piper 1981 über sein Buch Musikalischer Realismus notiert, sowie der »Forschungsplan« einer Musikgeschichte Europas, die Dahlhaus 1988/89 während eines Aufenthalts am Historischen Kolleg in München zu schreiben gedachte (Brief vom 12. Juli 1987). Sehr erhellend sind schließlich auch die beiden »Selbstporträts«, die Dahlhaus im September 1974 aus Anlass einer möglichen Berufung an die Universität Kiel und im April 1978 in einem Brief an Zofia Lissa entwirft: Neben der Rehabilitierung der Musikästhetik als Gegenstand der Musikwissenschaft bezeichnet Dahlhaus als ein wesentliches Anliegen die »Etablierung der Neuen Musik als Thema der Musikwissenschaft« (269), wobei Dahlhaus durchaus, wie seine zahlreichen Vorträge in Darmstadt zeigen, ein Einwirken auf Ästhetik und Kompositionspraxis der Neuen Musik im Sinn hatte (eine Idee, die in gewisser Hinsicht schon bei Guido Adler vorgebildet ist[1] und bei György Ligeti, wie dieser später selbst berichtete, auf fruchtbaren Boden fiel.[2]) Neben seinen Forschungen zum 19. Jahrhundert und zur Musik und Poetik Arnold Schönbergs ist es dabei immer wieder die Musiktheorie, die Dahlhaus als sein Hauptarbeitsgebiet bezeichnet, seien es Fragen zur Tonalität und Atonalität, seien es Formfragen (im Musikdrama Richard Wagners) oder dasjenige, was unter dem Begriff der musikalischen Logik firmiert. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang insbesondere die zwischen 1970 und 1972 geschriebenen Briefe an Loek Hautus, einen – wie man aus dem Eintrag in den knappen Adressatenbiographien erfährt – 1941 geborenen Komponisten und Musiktheoretiker, der später zu Scarlatti forschte. Aufschlussreich erscheint diese sich über gut zehn Briefe erstreckende Diskussion nicht nur deshalb, weil sie Dahlhaus’ ganz unprätentiöse Art im Umgang mit den Fragen und Einwänden eines noch jungen Wissenschaftlers angesichts von Dahlhaus’ Habilitationsschrift[3] zeigt – ein Interesse an der Sache, das Dahlhaus, wie aus manch anderen Briefen deutlich wird, bei vielen seiner Studierenden vermisste –, sondern auch, weil Dahlhaus hier bereit ist, früher vertretene Positionen zu revidieren, Begriffe zurückzunehmen und überhaupt sich offen für Kritik und Anregungen zeigt. Dass Dahlhaus gegenüber ihm eher fernliegenden analytischen Zugängen zur Musik und zu Arbeitsweisen, die weniger seinem Naturell entsprechen, dennoch große Sympathie entgegenbringen konnte, zeigt das Lob, das er einmal gegenüber Texten von Wulf Arlt äußert, die ihm »ausgezeichnet gefallen« hätten, da die »Mischung von harter Philologie und reflektierter Analyse« für ihn »immer ein Lesevergnügen« sei (323). Und an Elmar Buddes Dissertation über Anton Weberns Lieder op. 3 streicht er gegenüber dem Autor heraus: »Sie setzen durch die Ausführlichkeit, Genauigkeit und den Gedankenreichtum der Analysen einen Standard fest, hinter den man wissenschaftlich nicht mehr zurückfallen darf. Mit der üblichen Bündelung kursorischer Analysen einer Masse von Stücken muß es ein Ende haben« (167; Brief vom 10.10.1971) – eine Einschätzung, die sich auch auf die Dissertation Reinhold Brinkmanns zu Schönbergs Klavierstücken op. 11 erstreckte, die aber von Dahlhaus selbst nur eher sporadisch im eigenen Schreiben umgesetzt wurde (vor allem die Analysen in der seit 1965 erschienenen Reihe Meisterwerke der Musik zu Beethovens 4. Symphonie und Schönbergs Orchestervariationen op. 31 wären in diesem Zusammenhang zu nennen).

Dahlhaus’ Wissenschaftsverständnis basierte zu allererst auf der Kategorie des Einfalls, und dies, so scheint es, sowohl im Kunstwerk als auch im wissenschaftlichen Schreiben. Einmal rühmt er an Richard Wagners Lohengrin, das Werk sei »großartig, voller Einfälle, denen man nicht entgehen kann« (388). Dass der Einfall, die überraschende Pointe, das Zusammendenken von etwas, das vorher (scheinbar) beziehungslos nebeneinanderstand, eine wesentliche Maxime von Dahlhaus Schreiben gewesen war, erhellt vor allem der zweite ›inoffizielle‹ Teil der Briefe, in denen sich Dahlhaus frei vom Mantel der Floskeln der offiziellen Post äußert. Hier wird teils explizit, teils zwischen den Zeilen deutlich, wie sehr Dahlhaus den freien überraschenden Blick vor einer umfassenden, in die Tiefe vordringenden Kenntnis der zum Thema geschriebenen Literatur bevorzugte, weil Letzteres die Gefahr mit sich brachte, dass man sich im unübersehbaren Labyrinth der Sekundärtexte verliert und darüber die eigentlich naheliegenden Bezüge und Verbindungslinien übersieht. Dahlhaus erzählt hier zwei Anekdoten, zum einen anlässlich der Einladung zu einer Kleist-Tagung, bei der er von vornherein darauf verzichten musste, die Menge der zum Thema geschriebenen Literatur auch nur zur Kenntnis zu nehmen, um dann einen für die Kleist-Forschung neuen und frappanten Aspekt zu umreißen, zum anderen von einem Gespräch mit einem Philosophen und Kant-Forscher der FU Berlin, in dem sich herausstellte, dass diese Person noch nie eine Zeile von Wilhelm von Humboldt gelesen hatte, dessen Reformpolitik sich doch ganz wesentlich von der politischen Philosophie Kants habe leiten lassen. Dieses Eingesponnen-Sein in das eigene enge Fachgebiet, das Dahlhaus zusehends zu vermeiden trachtete, hatte freilich auch eine Kehrseite: Dahlhaus konstatiert: »Im Grunde schreibe ich ständig über Abgründe des Nicht-Wissens und Nicht-Kennens hinweg; pointiert ausgedrückt: ich erzähle eine Geschichte, wie sie gewesen sein könnte, ohne daß ich die Möglichkeit hätte, bis ins Detail, auf das es ankommt, wirklich festzustellen, ob sie so gewesen ist. Aber wäre es anders, so käme das Buch [zum 19. Jahrhundert] niemals zustande« (419). In seinen späten Jahren scheint sich Dahlhaus zunehmend als »Universaldilettant« (545) gefühlt zu haben, der zwar den Bereich nicht überblickt, aber die entscheidenden Einfälle hat, um Ungewöhnliches sagen und damit zu neuen Einsichten gelangen zu können. Mehrfach kritisiert Dahlhaus, wenn Bücher und Aufsätze sich auf die Ausbreitung bloßer Fakten beschränkten. Damit einher geht die Vernachlässigung des Bibliographischen, die Dahlhaus als eigene Schwäche zwar mehrfach einräumt, aber zugleich damit rechtfertigt, dass er jenem »Benutzer« nicht entgegenkommen wolle, welcher »nicht wissen [wolle], wie ich einen Text interpretiere, sondern nach welcher Ausgabe ich ihn zitiere« (613, an anderer Stelle spricht Dahlhaus auch vom „sekundären Dasein der Lektüre«, vgl. 449). Entscheidend waren die Interpretationen der dahinterstehenden Ideen, die sich daran knüpften. Schön ist in diesem Zusammenhang das Aperçu über eine mit Musiktheorie befasste Berliner Institution, »Einfälle [würden hier] im Grunde als Störung des Betriebes empfunden« (637). Und die Briefe machen deutlich, wie sehr es Dahlhaus Vergnügen bereitete, in seinen Einfällen scheinbar Unzusammenhängendes zusammenzubringen, scheinbare Paradoxien zu formulieren. Dass das auch einmal schief ging oder nur teilweise plausibel war, nahm Dahlhaus, wie er im Hinblick auf seinen Aufsatz zu »Schönbergs Ästhetischer Theologie« nüchtern konstatiert (vgl. 564), in Kauf.[4]

Das Buch ist eine Leseausgabe. Wer wissen will, wie viele Seiten der Brief umfasst, wo Tippfehler oder Korrekturen sich zeigen, wer also an solchen philologischen Details interessiert ist, kommt hier sicher nicht auf seine Kosten. Er oder sie wird dafür aber überaus reich belohnt, und zwar nicht nur durch eine fesselnde, von Ironie und bisweilen auch mildem Spott geprägten, vor allem aber oft auch anekdotenreiche und amüsante Lektüre, sondern mehr noch durch eine knappe, immer die Sache berührende Kommentierung, die oft universitätsinterne Vorgänge oder die Administration von Projekten betrifft, seien es etwa Gesamtausgaben, Buchreihen, Monographien oder Stellenbesetzungen. Was der Herausgeber an kaum zu Übertreffendem geleistet hat, indem er Protokolle zahlloser Sitzungen und Daten von persönlichen Treffen der Akteure recherchiert hat oder den Hinweisen auf Konzerte und sonstige Ereignisse akribisch nachgeht, lässt sich von außen vermutlich nur schwer ermessen. Bei einem Bericht über die Anfang Juli 1982 erfolgte Habilitation von Hermann Danuser, bei der alle das Bedürfnis hatten, das Verfahren rasch und reibungslos hinter sich zu bringen, »so daß dann dem Gang in die Kneipe oder zum Fußball nichts mehr im Wege stand« (502), wird sogar aufgeschlüsselt, wer gegen wen am selben Abend in den Spielen der Fußballweltmeisterschaft spielte (nur das Ergebnis muss man selbst herausbekommen ...).

Manches von dem, was in den Briefen mit großer Heftigkeit, bisweilen auch Verbitterung, diskutiert wurde, mag aus heutiger Sicht von nur gemindertem fachlichen Interesse sein, so Dahlhaus‘ jahrelange Querelen um das Forschungsinstitut für Musiktheater in Bayreuth/Thurnau und die Herausgabe von Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, bei der sich Dahlhaus vehement für einen Sachteil einsetzte, oder seine Bemühungen um eine Wagner-Schriften-Ausgabe, die schließlich scheiterten.

In ihrer Rezension des Buches in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.3.2023) hat Christiane Wiesenfeldt bemerkt, dass die Rezeption von Dahlhaus‘ Schriften eigentlich alle Wandlungen des Faches der letzten 40 Jahre unbeschadet überstanden habe, eine »Dahlhaus-Dämmerung« ausgeblieben sei. Die Beobachtung ist vermutlich richtig. Angesichts der Lektüre der Briefe verwundert diese Einschätzung jedoch letztlich wenig. Zwar mögen sich die Themen, die Fragen im Fach geändert haben (stärker wohl in der Musikwissenschaft als in der Musiktheorie), doch ist das wissenschaftliche Ethos zweifelsohne von ungeminderter Aktualität: Dahlhaus wollte das Fach immer gleichsam in einer produktiven Spannung halten; ihm waren provokante Thesen lieber als die Erstarrung des Fachs. Es mag dann irritieren, wenn er etwa bei einer Janáček-Ausgabe Radikallösungen, die kaum durch die Quellen gestützt sind, gutheißt, weil »auch gelegentlich etwas ›gewagt‹ werden muß, wenn die Editionstechnik wissenschaftlich ›von der Stelle kommen‹ « wolle (304), oder wenn er eine falsche Zuschreibung von Beethovens unsterblicher Geliebten mit der Bemerkung »Mag sein, ich habe nicht nachgeschaut, daß ich beim Zitieren die falsche Therese erwischt habe – who cares« (450) allzu lakonisch abtut. Solche Sätze sind indes kein Zeichen von Arroganz und Überheblichkeit. Vielmehr finden sich umgekehrt recht zahlreich Äußerungen von Zweifel und Selbstzweifel nicht nur in pädagogischer Hinsicht, weil es zunehmend schwerer wurde, die Studierenden in den Seminaren zum Reden zu bringen (diese werden wahlweise als »Sandsäcke« [452] oder als »Salzsäulen« [430] apostrophiert), sondern auch im Hinblick auf die publizierten Aufsätze und Bücher, von denen Dahlhaus manches als überflüssiges Zeug qualifizierte, manches für verfehlt hielt, auch wenn man bei dieser Einschätzung bisweilen das Gefühl von Koketterie nicht ganz loswird.

Während der Book-Launch mit dem Herausgeber Tobias Robert Klein und Dahlhaus’ ehemaligen Assistenten Silke Leopold und Stephen Hinton auf der Berliner GfM-Tagung im Herbst 2022 wurde gegenüber der Ausgabe auch ein Unbehagen zum Ausdruck gebracht. Zum einen hätten Insider das alles ohnehin schon gewusst, zum anderen wurde ein gewisses Maß der Indiskretion bemängelt, was doch wohl impliziert, dass zu viele der betroffenen oder im Buch erwähnten Personen mindestens über die Schülergeneration eine gewisse Präsenz im Fach besitzen. Zwar ist es richtig, dass Dahlhaus mit manchem Urteil nicht hinter dem Berg hält und mehr als einmal seinen Spott ausgießt, doch wird in keinem Fall eine Grenze überschritten. Vor allem stehen solche Urteile nicht im Fokus und sind letztlich die individuellen Personen auch nebensächlich. Das Buch legt vielleicht auch zweifelhafte Netzwerke gegenseitiger Abhängigkeiten offen, innerhalb derer man freundlich über den jeweils anderen schrieb, für Buchkapitel und Vorträge empfahl. Insofern ist das Buch – weil der Zustand heute kaum anders – vielleicht auch unspektakulär. Dennoch wohnt der Briefausgabe zweifelsohne etwas Zeitbildliches (Fontane) inne. Sie erlaubt einen Blick auf die damals noch nicht so stark eingeforderte Drittmittel-Akquise, die Konzeption und Beantragung von Projekten, auch die Art, wie in den 1960er und 1970er Jahren Berufungen vonstattengingen, ist also Baustein zu einer Wissenschafts- und Institutionsgeschichte des Faches (sowohl der Musikwissenschaft als auch der Musiktheorie). Von großem Gewinn sind daneben etwa Dahlhaus’ Bericht über die China-Reise des Deutschen Musikrats im Jahr 1979, seine sich über die 1970er Jahre erstreckende Auseinandersetzung mit der Neuen Linken, die in dieser Zeit vor allem Dahlhaus’ musikpublizistisches Wirken betraf (Dahlhaus war von 1972 bis 1978 Mitherausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik), sein Engagement für Darmstadt, die enge Verbindung zum zeitgenössischen Komponieren und vieles anderes mehr. Neben dem Zeitbildlichen, bei dem Dahlhaus gleichsam als Repräsentant einer sich neu formierenden (deutschen) Musikwissenschaft und Musiktheorie fungiert, die sowohl die klassische Musik des 19. und 20. Jahrhunderts in neuartiger Weise für das Fach erschließt als auch eine historisch (und institutionell-geographisch) ausgerichtete Kontextualisierung der Musiktheorie in Angriff nimmt, sind die Briefe eben zu allererst Dokumente von Dahlhaus’ individuellem wissenschaftlichen Denken und Handeln. Es würde sich vielleicht lohnen, angesichts dieser Ausgabe über das Verhältnis von individueller und institutioneller Forschung, von Einzelforschung und Clustern oder Verbundprojekten nachzudenken. Dahlhaus stand Letzteren eher skeptisch gegenüber, brauchte sie aber als organisatorischen Rahmen. Letztlich war für Dahlhaus entscheidend der Wille zur Textproduktion (und mehrfach bemüht er das Bild eines Apfelbäumchens, das eben nicht anders könne als Äpfel zu produzieren), gepaart mit dem wohl auf Johann Gustav Droysen zurückgehenden Anspruch, in der Geschichtsschreibung Wissenschaft und Literatur miteinander zu verbinden.[5] Fehlt es daran, so nutzt auch die beste materielle, institutionelle Förderung wenig.

Wer aufmerksam Dahlhaus’ Aufsätze und Bücher gelesen hat, dem werden vermutlich die in dieser Briefausgabe noch einmal zutage tretenden Charakteristika von Dahlhaus’ Schreiben – seine Einfallsästhetik, das Umkreisen einer Fragestellung von verschiedenen Seiten, das Bemühen, nicht so sehr Lösungen zu präsentieren als die wesentlichen Probleme herauszuarbeiten – kaum entgangen sein. Dennoch vermittelt insbesondere der zweite Teil der Ausgabe mit den Exzerpten in unwahrscheinlich plastischer und anschaulicher Weise, warum Dahlhaus’ Arbeiten bis heute noch immer Referenzquelle des Faches geblieben sind. Die vorzüglich edierte und kommentierte, dazu ohne institutionelle Förderung entstandene Briefausgabe ist nicht nur ein Lesevergnügen ersten Ranges, sondern macht Lust darauf, Dahlhaus’ Texte erneut oder manches auch zum ersten Mal zu lesen. Selbst wenn man manche Urteile und Thesen von Dahlhaus inhaltlich nicht teilen mag, so bleiben die Texte doch ein Zeugnis höchster intellektueller Kreativität und Brillanz, über die sich weiter nachzudenken lohnt.

Anmerkungen

1

Vgl. Adler 1885, wo es u. a. heißt (18 f.): »Die Wissenschaft wird dann neben der Verfolgung ihrer absoluten Bestrebungen [...] bei der Zerfahrenheit der modernen Kunstzustände und dem offenbaren Schwanken der künstlerischen Productionsthätigkeit auch zur Hebung der actuellen Kunstzustände beitragen«.

2

György Ligeti schrieb 1989 in seinem Nachruf (2007, 515): »Ich habe Carl Dahlhaus 1962 kennengelernt, beim Internationalen Kongreß für Musikwissenschaft in Kassel. Er sprach über Aspekte der seriellen Musik, einer kompositorischen Ideologie, die damals en vogue war. Dahlhaus Sachkenntnis und analytischer Scharfsinn haben mich sofort gefangengenommen, obwohl er indirekt mein Gegner war [...]«.

3

Vgl. Dahlhaus 2001.

4

Zu Dahlhaus’ Beschäftigung mit Schönberg vgl. auch Helbing 2016.

5

Vgl. Droysen 1868, 4: »Man hat die maassgebende Aufgabe unserer Wissenschaft in der künstlerischen Darstellung und in dem ›historischen Kunstwerk‹ gefunden und feiert wohl als den grössten Historiker unserer Zeit denjenigen, der in seiner Darstellung dem Walter Scott’schen Roman am nächsten steht.« Entsprechend bei Dahlhaus (588): »Wenn man der Philologie lang genug zuredet, sich Mühe zu geben, muß es ihr doch schließlich gelingen, so schön auszusehen wie ein Roman, auf den es ja am Ende in der Geschichtsschreibung doch immer hinausläuft, was die Historiker allerdings nicht wahrhaben wollen, obwohl sie in camera caritatis zugeben, daß die Ähnlichkeit zwischen Ranke und Scott schlagend ist.«

Literatur

Adler, Guido (1885), »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft«, Vierteljahreszeitschrift für Musikwissenschaft 1, 5–20.

Dahlhaus, Carl (2001), Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Hermann Danuser in Verbindung mit Hans-Joachim Hinrichsen und Tobias Plebuch, Kassel: Bärenreiter, 11–307.

Droysen, Johann Gustav (1868), Grundriss der Historik, Leipzig: Veit & Comp.

Helbing, Volker (2016), »Schönberg, Dahlhaus und das Problem der ›emanzipierten Dissonanz‹ – Anmerkungen zu op. 15/14«, in: Dahlhaus und die Musiktheorie, Sonderausgabe der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, hg. von Stefan Rohringer. https://doi.org/10.31751/868

Ligeti, György (2007), »Dahlhaus in memoriam« [1989], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott, 513–516.

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