Caskel, Julian (2021), »Die Aufnahme bestätigt die Regel. Analyse als Interpretation (Response)« [The Recording Confirms the Rule: Analysis as Interpretation (Response)], Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 18/Sonderausgabe [Special Issue], 495–513. https://doi.org/10.31751/1135
eingereicht / submitted: 25/05/2021
angenommen / accepted: 17/06/2021
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 05/11/2021
zuletzt geändert / last updated: 09/11/2021

Die Aufnahme bestätigt die Regel

Analyse als Interpretation (Response)

Julian Caskel

Diese Response beschränkt sich nicht darauf, die einzelnen Texte der vorliegenden Sonderausgabe zu zitieren, zu kommentieren und im Eventualfall zu kritisieren. Die durchgängig hohe Qualität der Beiträge, deren konkrete Ergebnisse an drei spezifische zyklische Werke gebunden bleiben, rückt stattdessen die Frage nach den grundsätzlichen Voraussetzungen der hier vorgestellten Forschungen ins Zentrum: (1) Die methodischen Implikationen von Zeitpunktmessungen könnten noch genauer reflektiert werden (die Diskussion der empirischen Messungen erfolgt vor allem anhand der Beiträge zu Bachs ›Goldberg-Variationen‹). (2) Normative Voreinstellungen bei der Selektion von Aufnahmen oder Textreferenzen sollten explizit mitdiskutiert werden (die Diskussion der hermeneutischen Meinungsbildung erfolgt vor allem anhand der Beiträge zu Beethovens ›Diabelli-Variationen‹). (3) Die gemeinsamen oder getrennten Zugangswege von Theorie und Praxis werden nochmals zur Debatte gestellt (nun stärker anhand der Beiträge zu Schuberts Winterreise). (4) Als Ausblick werden Möglichkeiten zur Weiterverwertung der Daten in einem eigenen Analysebeispiel anhand von Aufnahmen des Pianisten Igor Levit vorgeführt.

This response is not limited to quoting, commenting on, and, if necessary, criticizing the individual texts in this special issue. The consistently high quality of the contributions, the concrete results of which remain tied to three specific cyclical works, instead suggests a focus on the fundamental prerequisites of the research presented here: (1) The methodological implications of time measurements should be reflected on more closely (the discussion of the empirical measurements takes place primarily on the basis of the articles about Bach’s “Goldberg Variations”). (2) Normative preconditions for the selection of recordings or text references should be explicitly discussed (the discussion of the hermeneutic formation of opinion takes place primarily on the basis of the articles about Beethoven’s “Diabelli Variations”). (3) The common or separate access routes for theory and practice are once again put up for debate (now more on the basis of the articles about Schubert’s Winterreise). (4) As a sign of the new directions such research might take , possibilities for further processing of the data are presented in an analytical example by the author, based on recordings by the pianist Igor Levit.

Schlagworte/Keywords: Aufnahmevergleich; comparison of recordings; empirical musicology; Empirische Musikwissenschaft; Interpretationsforschung; meter; Metrum; Musikforschung und Statistik; performance studies; statistics in music studies; tempo studies; Tempoforschung

Die Musiktheorie hat im Grunde niemals das Mittelalter verlassen. Eine neuzeitliche Schriftkultur zeichnet sich dadurch aus, dass der Bestand des Wissens als potenziell unendlich bestimmt wird, weshalb auch starke Reduktionen zulässig sind, um dieses Wissen in möglichst wenigen und einfachen Regeln festzuhalten; eine vorneuzeitliche Schriftkultur hingegen bestimmt den Bestand des Wissens als umfangreich, aber endlich, sodass die Zielsetzung nun darin besteht, eine lange Reihe einzelner Beispiele anzuführen, die den Umgang mit dem Wissen erlernbar machen. Dieser grobe Zuschnitt ist natürlich in sich ein Musterbeispiel für ein neuzeitliches Bedürfnis nach handlichen Formeln. Und dies führt dazu, dass die Passagen in alten musiktheoretischen Traktaten, in denen im Extremfall jeder Einzelfall in gleicher Länge angeführt wird, heute nur noch ein geringes Erkenntnisinteresse auf sich ziehen.[1] Musiktheorie hat diese Darstellungsform jedoch nie vollständig aufgegeben: Sie neigt weiterhin dazu, alle möglichen Kombinationen in langen Listen anzuführen (man denke etwa an die Pitch-Class-Sets oder die Modelle für Akkordprogressionen der Neo-Riemannian Theory).

Die vorliegende Veröffentlichung präsentiert die Ergebnisse eines umfassenden Forschungsprojekts. Es stellt unzweifelhaft einen Meilenstein für die Interpretationsforschung, für ihre Vernetzung mit Musiktheorie und Musikanalyse und auch für die Zusammenführung von Wissenschaft und Praxis dar. Die Open-Access-Präsentation der einzelnen Projektarbeiten in dieser Sonderausgabe kann aber auch als Beweis für die These gelten, dass das digitale Zeitalter eine neo-mittelalterliche Lektürehaltung voraussetzt. Zumindest erinnert daran die Geduld, mit der zuerst Variation 24 mit Variation 25, sodann Variation 25 mit Variation 26 verglichen wird, zuerst die Korrespondenzen zwischen Lied 1 und Lied 10, sodann Lied 1 und Lied 20, sodann Lied 10 und Lied 20 in einem nicht wirklich auf kriminalistische Spannung zielenden Datenfluss nacherzählt werden. Im Zusammenspiel mit der opulenten Beigabe von Bildelementen entsteht beim Hindurchscrollen der Eindruck, sich einer früheren Kultur der Schriftrollen wieder anzunähern. Es wäre zumindest kritisch zu hinterfragen, ob zum Beispiel wirklich stets Tempo und Dauer als Vergleichswerte angegeben werden müssen;[2] je mehr quantitative Daten gesammelt werden, desto stärker entsteht ein Gegendruck, bei dem nur die Superlative, die exzentrischen Abweichungen die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen.[3] Darin allerdings besteht eine gewisse Parallele zwischen Analysen und Aufnahmen: Die Verengung auf ein Standardrepertoire erzeugt für die Musikforschung die Frage, inwiefern überhaupt noch neue Analysen dieses Repertoires bereitgestellt werden können (weshalb es zur Alternative werden kann, stattdessen die Aufnahmen auszuwerten), und dieselbe Problematik erzeugt im Musikleben die Frage, wozu immer neue Aufnahmen von denselben Stücken hergestellt werden sollen (weshalb es dort zur Alternative werden kann, diese auch durch Analysen beziehungsweise durch historische Rekonstruktionen und Re-Enactments zu legitimieren).

Das Faszinosum, das von der Zusammenführung dutzender Aufnahmen desselben Werks ausgeht, hängt womöglich auch damit zusammen, dass aus einer Verengung (durch bekannte Phänomene der Kanonisierung, Musealisierung etc.) doch wieder eine enorme Dimensionsweitung hervorgehen kann. Lektüre meint dabei nicht mehr nur das Verstehen von Texten, sondern auch das visuelle Verarbeiten der ergänzenden Materialien. Diese bereitgestellte Datenfülle wäre dann sozusagen wieder barock: Die Kathedrale der Interpretationsanalysen muss an jedem Punkt gleich sorgfältig errichtet werden, egal ob die Rezeption diesen Punkt jemals wirklich würdigen wird (dies ist ein ernstes Problem, da sich etwa die Genauigkeit von Software-Messdaten noch nicht in derselben Weise wie die Zitation von schriftlichen Quellen kontrollieren lässt).

Eine ›Response‹ auf diese quantitative wie qualitative Inhaltsanalyse von Interpretationen kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. Da erkennbar alle Beiträge ein hohes Niveau der Darstellung für sich beanspruchen können, soll und muss hier kein abschließendes ›Zensurengeben‹ im Zentrum stehen. Ebenso besteht keine Notwendigkeit, forciert auf Gegenpositionen zu verweisen: Die performance studies sind jakobinisch angetreten gegen den Primat des Notentextes und das Paradigma der Analyse, doch eine quellenbasierte Interpretationsforschung lässt sich nun einmal ohne den Positivismus von statistischen Verfahren und ohne einen weiter mitgegebenen Partiturbezug der allermeisten Aussagen nicht entwickeln. Es wäre unangemessen, einmal mehr nur die Henne der Analyse gegen das Ei der performativen Aktionen, den Hasen der Textquellen gegen den Igel der Tathandlungen auszuspielen.[4] Vielmehr sollte es kaum noch strittig sein, dass sich aus performativen Aktionen eigene Formen der objektivierenden Analyse herstellen lassen, die durchaus auch einige Praxisrelevanz besitzen können. Für eine ›Response‹ scheint daher die Suche nach einzelnen Synthesen am sinnfälligsten, die sich erst aus der Überblickslektüre aller Artikel ergeben. Dabei werden vier Punkte zur Diskussion gestellt, die zunächst die empirischen Ansätze (1.), sodann die Wertprämissen in den Analysen (2.), die Einwände aus Sicht der Praxis (3.) und schließlich den Wert von Datenbereitstellungen (4.) ansprechen.

1. Zeitpunkte und Zwischenräume

Die Messung eines einzelnen Zeitpunkts erzeugt immer zwei zeitliche Ereignishorizonte: Der Zeitpunkt kann als das Ende oder als der Anfang einer ansonsten unbestimmten Zeitspanne aufgefasst werden.[5] In der empirischen Tempomessung wird jedoch zumeist eine Reihe von Tapping-Zeitpunkten und damit eine Abfolge ausschließlich nur von Anfangspunkten zur Grundlage der Auswertung gemacht (die Software Sonic Visualiser zeigt die bestehende Unschärfe, indem zwischen der Berechnung einer ›duration since the previous item‹ und einer ›duration to the following item‹ gewählt werden muss). Dieses Verfahren setzt unterschwellig voraus, dass den Zeitpunkten eine eigene phänomenale Präsenz zugesprochen werden kann; gerade dies ist in Rhythmustheorien oft bezweifelt worden,[6] lässt sich als Ausrichtung des Hörens an den ›attack points‹ der Klänge aber womöglich begründen.[7]

Der einzelne Zeitpunkt erscheint überdeterminiert, weil er die phänomenale Hörerfahrung, die immer nur auf Zeitphasen zurückgreifen kann, reduktionistisch auf eine geometrische Abstraktion verdichtet; der einzelne Zeitpunkt erscheint zugleich unterdeterminiert, weil es stets zwei Zeitphasen gibt, die in der Hörerfahrung diesen Zeitpunkt konstituieren. Dieses Problem tritt in der Forschung hervor, wenn nicht nur Inter-Onset-Intervalle (IOI), sondern auch Offset-Onset-Intervalle (OOI) für bestimmte Fragestellungen relevant werden. Die ›Motto-Fermaten‹ zu Beginn von Beethovens Fünfter Sinfonie bieten hierfür ein Beispiel: Der Tapping-Punkt kann entweder erst beim nächsten Klangeinsatz oder ergänzend, jedoch methodisch schwieriger auch am Klangende gesetzt werden. Es wird dann die Differenz zusätzlich einbezogen, ob die Fermate als ausgehaltener Klang oder als abbrechender Klang und Pausenwert umgesetzt wird.[8]

In einem zyklischen Kontext wird somit deutlich, dass in den üblichen Messungen geradezu eine ganze Dimension der ästhetischen Erfahrung unterschlagen wird: Der Zeitraum zwischen dem Ende des ersten Ereignisses und dem Anfang des zweiten Ereignisses kann eine eigene Phase der zeitlichen Gegenwart erzeugen. Dabei ist es uneindeutig, ob dieses Zeitquantum noch innerhalb des Rahmens der Aufführung zu verorten ist (also zum ›Werk selbst‹ gehört) oder nur dem äußeren Rahmen der performativen Ausführung zuzurechnen ist (also zum Beispiel ein Nebenprodukt der technischen Wiedergabe ist oder sich durch Publikumsreaktionen wie Husten und Zwischenapplaus manifestiert).[9] Erstaunlich viele der hier versammelten Beiträge konzentrieren sich auf solche Übergangsschwellen. Es wird demnach weiterhin die »interpretatorische Gestaltung der Gesamtform […] vorrangig um die Frage [zentriert], ob Variationen in unmittelbarem Anschluss aufeinander folgen oder durch eine merkliche Zäsur voneinander abgehoben werden sollen […].«[10]

Die Herausrechnung der zusätzlichen Zeit am Ende oder zwischen einzelnen Tracks in CD-Produktionen dient empirisch jedoch oft als allererste Maßnahme, um eine ›künstlerische‹ Zeitgestaltung von der ›kommerziellen‹ Außenhülle der Tonträger abzutrennen. Nimmt man hingegen die hier vorgestellten Zykluskonzepte ernst, so wäre zumindest in Einzelfällen zu prüfen, ob nicht auch diese Leerzeiten ein Bestandteil des artistischen Werkkonzepts werden können (etwa als Aufforderung, nach einem leisen Schluss nicht direkt den Modus des Zuhörens zu verlassen). Nur stellt sich immer die Frage, inwiefern sich diese Zwischenräume intentional zur dokumentierten Aufführung hinzurechnen lassen; in den hier versammelten Aufsätzen hat sich demzufolge eine Arbeitsteilung ergeben, bei der die performative Dimension dieser Satzübergänge vor allem dann diskutiert wird, wenn eine einzelne Interpretation, die auch visuell dokumentiert ist, als Ergänzung von hermeneutischen Analysen mitausgewertet wird;[11] dieselben Übergänge können hingegen nur noch indirekt auch dort integriert werden, wo empirisch-quantitative Aufnahmevergleiche vorgenommen werden.

Solange die Tempokategorie für die empirische Interpretationsforschung der zentrale auswertbare Parameter bleibt, erscheint es nicht nur notwendig, diese methodische Vorentscheidung zu begründen;[12] es ist zusätzlich auch notwendig, die jeweils gewählten Verfahren der Tempomessung gegen andere verfügbare Optionen der vertikalen Segmentierung (als Messung von ganzen Takten, Zählzeiten, Anschlägen etc.) und der horizontalen Sektionalisierung (als Messung von Gesamtdauern für Taktgruppen, Formteile, Zyklusteile etc.) zu begründen. Für die softwaregestützten Messungen bietet sich vor allem die Bestimmung einer Proportion zwischen zwei einzelnen Zyklusteilen als gangbarer Beschreibungsweg an: Auf diese Weise wird umgekehrt aus zwei Zeitspannen ein einzelner Messwert erzeugt (nämlich derjenige ideelle Wert, der eine Relation zwischen den beiden Zyklusteilen angeben soll).[13] Für die Ermittlung von Zeitpunkt-Reihen werden verschiedene Wege vorgestellt: Im Fall der Winterreise und der ›Diabelli-Variationen‹ wird aus einer variabel gewählten Formsektion am Beginn eines Stücks ein ›Initialtempo‹ abgeleitet,[14] im Fall der ›Goldberg-Variationen‹ hingegen wird ein Ausschnitt am Beginn des Bassverlaufs gewählt, der dann zusätzlich um seine Anfangs- und Endwerte beschnitten wird.[15] Damit wird vermieden, dass punktuelle Temposchwankungen den berechneten Mittelwert verzerren, aber es wird in Kauf genommen, dass die berechneten Werte auch den Bezug zu prägnanten Tempobögen[16] nicht mehr abbilden. Die ›Primacy-Effekte‹ und ›Recency-Effekte‹[17] der motivischen Einsätze und der kadenziellen Endigungen verlieren aus makroformaler Sicht an Bedeutung: Es wird sozusagen die pianistische Fahrleistung auf einer möglichst schnurgeraden, kurvenfreien Teststrecke gemessen. Jedoch stellt sich damit die Frage, inwiefern mechanistische (also ›neusachliche‹) Interpretationen gegenüber vitalistischen Alternativen innerhalb des Versuchsdesigns bereits einen Startvorteil besitzen. Und es stellt sich die Frage, ob einseitig eine Vogelperspektive eingenommen wird, die nicht mehr der Hörerfahrung entsprechen muss: Das Gesamturteil über das gewählte Tempo könnte auch bereits ›mit dem ersten Takt‹ oder erst ›mit dem letzten Takt‹ erfolgen. Der Einbezug von Median- oder Moduswerten (also des mittleren bzw. des häufigsten Einzelwertes in einer Reihe von Ereignissen, im Gegensatz zur üblichen Berechnung eines arithmetischen Mittelwerts) dürfte sinnvoll sein, um die Relevanz von Ausreißern an den Temporändern der einzelnen Phrasen besser mit solchen ›Radarmessungen‹ abgleichen zu können.[18]

Dies verweist allgemeiner auf das Problem, dass in der empirischen Interpretationsforschung oftmals selbst der erste statistische Schritt der einfachen Streuungsmaße kaum ganz ausgeschöpft scheint, jedoch sogleich der dritte Schritt komplexer Faktoren- und Regressionsanalysen angeschlossen wird.[19] Es fehlen Verfahren, die in jedem Statistik-Lehrbuch in den Kapiteln dazwischen beschrieben werden (weshalb sich mögliche passende Beispiele zur Anwendung dieser Verfahren vorläufig nur spekulativ angeben lassen): Rangkoeffizienten, um zum Beispiel die Stärke des finalen Ritardando in der Schlusskadenz mit der allgemeinen Tempovarianz in einem Stück zu vergleichen, Chi-Quadrat-Tests, um Regelmäßigkeiten der Phrasierung und Periodisierung zu überprüfen, oder auch Maße der Links- bzw. Rechtsschiefe zur statistischen Umrechnung von Temposchwankungen. Hier ließe sich eine Reihe weiterer statistischer Spielzeuge auspacken und erproben (vielleicht auch nur, um sie wie Weihnachtsgeschenke nach einem Tag des Ausprobierens für immer zur Seite zu legen).[20]

Die intuitive Verständlichkeit etwa der im Beitrag von Bruno Gingras statistisch ermittelten Ergebnisse zu Differenzen zwischen Interpretationen auf dem ›modernen‹ Konzertflügel und dem Cembalo bedingt von neuem die Frage nach der intentionalen Wahrnehmbarkeit der gemessenen Ereignisse (auch auf der Seite der Rezipient*innen). Proportionale Tempobeziehungen, die wiederum die Beiträge von Motavasseli und Rector ins Zentrum stellen, werden durch das kategoriale Hören rhythmischer Verhältnisse vermutlich bevorzugt, zugleich besteht jedoch hierbei die Option, in den Berechnungen auch sehr unterschiedliche absolute Tempowerte aufeinander zu beziehen. Als ›Self-Fulfilling Proportionality‹ lässt sich eine solche Form der Relationsbeziehung zwar für die allermeisten Aufnahmen nachweisen, aber ihre Relevanz für die Hörerfahrung kann zumindest auch bezweifelt werden.[21]

Eben hier kommen die Zwischenräume der Zyklusteile als Leerstelle von Zeitpunkt-Messungen wieder ins Spiel: Der Übergang in die jeweils nächste Variation besitzt eine proportionale Temporelation – etwa im Falle der Einspielung der ›Goldberg-Variationen‹ durch Glenn Gould aus dem Jahr 1981 – gerade dann, wenn weder die Anfangstempi noch das Ritardando der allerletzten Takte, sondern nur die generelle Tempotendenz der abschließenden Formsektion eines Zyklusteils mit der ersten Formsektion des darauf folgenden Zyklusteils verglichen wird.[22] Damit aber ist eine phänomenale Kontinuität der Erfahrung nicht mehr zwingend gegeben, weil doch wieder etwas herausgerechnet werden müsste (eben das finale Ritardando und der Leerraum zwischen den Zyklusteilen zugunsten der Relevanz eines ›formalen Ritardandos‹). Und somit besteht der Verdacht, dass auch etwas hineingerechnet wird: Die makroformale Architektur ist unhörbar, der performative Prozess ist hörbar, aber in den Analysen von Tempoproportionen erreichen die empirisch messbaren Abläufe dieses performativen Prozesses einen Abstraktionsgrad, der eher für die makroformale Architektur kennzeichnend ist. Proportionen sind folglich entweder nur in der Nahperspektive der performativen Detailentscheidungen erkennbar, wobei auch die Länge der Pausen zwischen den Sätzen von Glenn Gould in der erwähnten Aufnahme in den Produktionsprozess einbezogen wird. Oder aber Proportionen sind eine Projektion der Vogelperspektive der Makroform in die interpretatorischen Detailentscheidungen. In diesem Fall lässt sich eine Proportionalität bei direkt aufeinanderfolgenden Zyklusteilen jedoch auch durch deren nicht direkt aufeinanderfolgende Initialtempi nachweisen.[23]

Dieser Anteil von Projektionen trat im Rahmen der ›Response‹ schlagend hervor, als mit teils noch nicht endgültigen Textversionen gearbeitet werden musste: Die Nummerierung der Audiobeispiele mit einer manipulierten (stärker tempokontinuierlichen) und der originalen Version des finalen Ritardandos von Gould erfolgte im Text noch versehentlich in umgekehrter Reihenfolge zu den bereitgestellten Audiodateien.[24] Die kognitive Dissonanz, die dadurch zunächst beim Anhören entstehen musste, dürfte aber die Beurteilung des gesamten Beispielapparats stärker beeinflusst haben als die sachlichen Argumente: Man kann sich die manipulierte Version auch wieder zur originalen Version zurechthören, doch die verbleibende Irritation verweist darauf, dass für die Wahrnehmung von Temponuancen wohl andere Faktoren maßgeblicher sind als die Proportionalität der Tempoentscheidungen (etwa die Tendenz, den musikalischen Tactus entweder an der schnellsten phänomenalen Ablaufschicht oder an zusätzlich projizierten langsameren Ablaufschichten auszurichten).[25] Äußere Effekte der Reihenfolge und der Etikettierung der Beispiele scheinen im empirischen Kontext das Urteil stärker zu beeinflussen als die teils subtilen performativen Differenzen, deren Relevanz vor allem in den Arbeiten zu den ›Goldberg-Variationen‹ von Motavasseli und Rector diskutiert werden.[26] Zur Überprüfung der Messungen sollten also empirische Testungen mit Proband*innen eine ergänzende Bedeutung erlangen: Wenn manipulierte oder nicht hörbar unterschiedliche Versionen vorgespielt werden, treten wieder jene ›Primacy-Effekte‹ und ›Recency-Effekte‹ als Rezeptionsstrategien hervor, die in den Berechnungen nivelliert werden.[27]

Die Zwischenräume der Zyklusteile werden in anderer Weise in den Zeitpunkt-Messungen abgebildet, wenn die Perspektive von vornherein nochmals stärker auf makroformale Relationen begrenzt bleibt: Die Aufstellung eines ›Finalmodells‹ oder ›Eröffnungsmodells‹ für Interpretationen der Winterreise muss – sicherlich nicht ohne Grund – unterstellen, dass die quantitative Zeitdauer ein direktes Abbild qualitativer Gewichtungen ist.[28] Es wäre aber denkbar, dass eine finale Tempoverlangsamung auch durch einen Schwund an Konzentration verursacht wird oder eine unbewusst zu schnell genommene Anfangshälfte kompensiert werden soll, ohne dass damit ein ästhetischer Plan verfolgt wird. Die Zwischenräume der einzelnen Zyklusteile bilden also eine Leerstelle der Zeitpunkt-Messungen und zugleich einen wesentlichen Konzentrationspunkt in den nicht-softwaregestützten Formen der Beschreibung. In diesem Sinne ist jede Analyse immer auch eine Interpretation, bei der die Zugangswege von den Voreinstellungen der Technik und den eigenen normativen Vorannahmen abhängig bleiben.

2. Notenwerte und Haltungsnoten

Die empirischen Aufnahmevergleiche werden durch Arbeiten zur Analyse- und Aufführungsgeschichte ergänzt, die sicherlich mehr als nur Satellitentexte sind (also substantielle, nicht akzidentielle Ergänzungen zur Projektarbeit darstellen). Dabei erweisen sich quantitative Akkumulationen von Quellen auch für die Auswertung von Textdokumenten als relevanter Weg. Je höher allerdings die Anzahl der ermittelten Daten ist, desto stärker wird die Notwendigkeit, die eigene normative Haltung gegenüber diesen Daten zu prüfen. Es lassen sich einige ganz einfache Gründe für diesen Tatbestand angeben: Bei zeitlicher Nähe zum analysierten Gegenstand ist eine Distanz zwischen den präsentierten Quellen und der eigenen Position nicht mehr in derselben Weise gegeben; und mit der Summe der aufgelisteten Optionen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo in den zitierten Quellen auch die eigene Position vertreten ist. Hinzu kommt vermutlich ein weiterer Effekt (der hier eher ganz allgemein angeführt werden soll): Wenn auf kulturell übergreifender Ebene die Objektivität einer zu oft weißen, privilegierten und männlichen Perspektive grundsätzlich hinterfragt wird, ist es naiv anzunehmen, dass eine hieraus abgeleitete Geschmacks- und Urteilsebene etwa bei der Auswahl von Referenzaufnahmen gänzlich ausgeklammert werden kann.

Der Beispielkanon der Musikforschung bleibt auf bestimmte Vorentscheidungen begrenzt, die sich auf das kommerzielle Musikleben nicht mehr umstandslos übertragen lassen: Die Deutsche Grammophon produziert und promotet längst auch Künstler*innen nur für den asiatischen Markt, jedoch sind diese Aufnahmen trotz der digitalen Verwertungsketten oftmals nicht leicht erhältlich und schnell wieder vergriffen. Die ökonomische Geschichte der Aufnahmen sollte etwas stärker in statistische Auswertungen miteinbezogen werden: Es erscheint zum Beispiel erwähnenswert, dass die aktuellsten Winterreise-Einspielungen von Sängerinnen im 21. Jahrhundert vorwiegend für kleinere Labels erfolgen.[29] Ebenso sollte geprüft werden, wie hoch der Anteil nicht-europäischer Interpret*innen in der getroffenen Auswahl von Aufnahmen ist (vor allem im Abgleich mit dem Gesamtkorpus aller verfügbaren Aufnahmen).[30]

Daniel Leech-Wilkinson hat aufgezeigt, wie stark viele Arten von Interpretationsbeschreibung von homophoben Klischees bestimmt bleiben, sodass eine schlechte etwa als ›verweichlichte‹ Interpretation angesprochen wird.[31] Letzte Reste dieser Haltung wird man in der Abwertung virtuoser Figuralvariationen (als »purple vest«) im Abgleich mit Beethovens kompositorischer Tiefe auch in manchen hier vorgelegten Texten noch erkennen.[32] Insgesamt aber erscheint eine Gegenreaktion wichtiger, in der das Thema von Diabelli gegen seine Kritiker verteidigt wird, ein Potpourri-Eindruck nun auch für Beethovens Zyklus rehabilitiert wird und die Aufführungspraxis von Einzelliedern im 19. Jahrhundert nobilitiert erscheint.[33] Die Einspielungen der Winterreise durch Sängerinnen erzeugen nicht mehr soziale, sondern höchstens noch satztechnische Probleme: Die Oktavversetzungen der Singstimme können zu Akkordumdeutungen führen (und es wäre vermutlich eine prima Nachricht für Frauen im Musikleben, wenn als Haupthindernis der Geschlechterparität der falsch platzierte Quartsextakkord gilt).[34]

Die Aufnahmen bestätigen die Regel: Es wird aus methodisch notwendigen Gründen eine Vorauswahl getroffen, wodurch YouTube-Versionen (oder die beliebten ›Elongations‹ von Musikstücken als eigene Zyklusbildungen), Amateur*innen, Bearbeitungen und damit gleichsam ›unsaubere‹ Formen aus Sicht einer Werkästhetik weniger relevant werden. Und auch die Analysen besitzen eigene Regelvoraussetzungen: Das zunehmende Interesse an der Makroform im 20. Jahrhundert lässt sich theoriegeschichtlich ganz unzweifelhaft mit Erfahrungen der neuen Musik und dem Verlust tonaler Bindekräfte assoziieren.[35] Dennoch wird hier das Problem sichtbar, dass motivisch-thematische Assoziationen als Merkmal einer älteren Analysetechnik erscheinen sollen, während die makroformale Perspektive auch weiterhin für die eigene Analysetechnik gültig bleiben muss. Dies hat dann womöglich zur Folge, dass ideologische oder problematische Momente des älteren Ansatzes überbetont werden, aber für den aktuelleren Ansatz unterbelichtet bleiben. Für eine eigenständige Geschichte der performativen Interpretationen ist es kennzeichnend, dass die Protagonisten quer zu solchen Ausrichtungen stehen: Man findet in der Aufführung der ›Diabelli-Variationen‹ von Eduard Steuermann durchaus noch eine starke Zäsur nach der zehnten Variation, sodass ein dezidierter Verfechter des Neuen hier einem älteren Analyseansatz folgen würde (eine vermutlich typische Kreuzung von Avantgarde und Anachronismen).[36]

Diese Ausklammerung des eigenen Standpunkts lässt sich genau dann nicht mehr aufrechterhalten, wenn das 19. Jahrhundert nicht einseitig die Rolle des ideologischen Negativpols in historisierenden Rekonstruktionen einnimmt. Wenn dessen eigene Mechanismen des Konzertlebens wiederentdeckt werden sollen, stellt sich zum Beispiel sofort die Frage, ob die Platzierung anspruchsvoller Zyklen am Ende der Programmfolge ein Zeichen dafür ist, dass heutzutage aufmerksamer zugehört wird, oder ein Zeichen dafür sein könnte, dass ein analytisch-aufmerksames Zuhören weniger relevant ist.[37]

Diese subtilen Voreinstellungen in den Analysen wären am einfachsten dadurch zurückzuweisen, dass einem Interpreten wie Lang Lang eine besondere ›Tiefe‹[38] der Interpretation zugesprochen wird (oder ein natürliches Verständnis für den Kontrapunkt oder eine Deutung, die legendäre Namen aus dem deutschsprachigen Raum klar in den Schatten stellt). Aus wissenschaftlicher Sicht kann natürlich darauf verwiesen werden, dass eine Urteilsenthaltung nötig und eine Urteilsobjektivierung durch statistisch-empirische Verfahren möglich bleibt. Das ändert aber nichts daran, dass musikalische Aufführungen Gefallensurteile auslösen sollen (oder auch Missfallensurteile). Es wird zwar kaum notwendig sein, die eigenen Lieblingsaufnahmen als zusätzliche empirische Auswertungskategorie einzubeziehen, aber es könnte sinnvoll sein, diese Differenz zwischen Theorie und Praxis etwas schärfer zu fassen: Jede performative Entscheidung zielt darauf, genau ein Tempo oder genau eine Artikulation zuungunsten aller anderen Optionen auswählen zu müssen.

Die makroformalen Zyklusanalysen können hingegen im Extremfall dazu führen, dass der Zugang sich sozusagen darauf beschränkt, den soziologischen Zuschnitt eines Straßenzugs nur durch den Abstand zwischen den Häusern und die Größe der einzelnen Gebäude zu beschreiben. Es dürfte notwendig sein, auch einmal in eines der Häuser hineinzugehen, und dann werden Wertungen sofort wieder virulent. Die vorgelegten Auswertungen erkennen diese Gefahr, indem gestische Momente der Textartikulation oder metrische Implikationen von Temponuancen in die Analysen miteinbezogen werden (und gerade diese Aspekte erscheinen eine ausführlichere Darstellung in eigenen Aufsätzen zu verdienen).[39] Zudem besteht die Möglichkeit, umgekehrt auch einmal die Hausbewohner auf die Straße hinaus zu bitten (bzw. die Analysewege aus der performativen Innensicht von Interpret*innen kommentieren zu lassen).

3. Interkontinentale Kommunikation

Theorie und Praxis der Interpretation erscheinen wie geteilte Kontinente, die unabhängig voneinander mehrfach besiedelt werden können: Jede Einstudierung braucht eine eigenständige Theoriesprache, um Tempofragen und satztechnische Phänomene benennen zu können. Und jede Analyse braucht eine Praxiskontrolle, um zu entscheiden, ab wann das gemessene Tempo sich tatsächlich ›langsam‹ anfühlt. Die Schwierigkeiten entstehen erst, wenn die Erkundungstrupps dieselben Phänomene unabhängig voneinander kartografieren und mit unterschiedlichen Begriffen katalogisieren.

Leicht ist es dabei aus Sicht der Theorie, Unstimmigkeiten in den Theorieversuchen der Praktiker nachzuweisen: Jakob Raabs Metrumanalysen zu den ›Diabelli-Variationen‹ gehen entgegen der Darstellung des Autors eben nicht von dem Trägheitsprinzip aus, eine gefundene metrische Lösung auch gegen einen veränderten motivischen Gehalt festzuhalten; genau umgekehrt wird eine ›radikale Lesart‹ vertreten, sodass der motivische Gehalt sogar metrisch eigentlich unmögliche Musterungen wie eine Abfolge von schweren Takten in der Mitte einer Taktgruppe erzwingen kann.[40] Dies verweist vermutlich darauf, dass das psychologische Metrum als Projektionsleistung der Rezipierenden und das phänomenologische Metrum als performative Umsetzung in der Interpretation einander nicht entsprechen müssen.

Ebenso leicht ist es aus Sicht der Praxis, in den Tempodiskussionen der Theoretiker*innen den fehlenden Pragmatismus zu bemängeln: Die gleiche Taktvorgabe kann durch die Anzahl der zu singenden Silben, die pianistisch zu bewältigenden Intervalle, akzidentielle Raumeigenschaften und eine Unzahl weiterer Einflussfaktoren von der Atemeinheit bis zum geplanten Abendessen ganz differente Tempi erfordern.[41] Einige dieser Faktoren bleiben allerdings empirisch berechenbar: Man könnte also zum Beispiel einen Quotienten aus Tempo und Textquantum bilden, bei dem der Tempomittelwert zusätzlich mit dem größten zu spielenden Intervall oder der Anzahl der zu singenden Silben verrechnet wird.

Allgemein festzuhalten bleibt, dass die Praxis nochmals stärker Rhythmus und Metrum heranzieht, also weder Harmonieverläufe noch motivische Korrespondenzen, sondern Taktartenlehre und Tanztypen, um aus diesen Quellen eine ungefähre Herleitung des Tempos zu ermöglichen.[42] Ein Problem in den Tempoproportionen könnte zum Beispiel in einem impliziten Konflikt mit der Taktartenlehre bestehen: Wird ein Viertelpuls im Abgleich zum vorherigen Achtelpuls für die Proportionalität verpflichtend, dann ist der Viertelpuls natürlich doppelt so langsam wie der Achtelpuls, aus Sicht der Taktartenlehre aber könnte die Viertelnote auch auf ein schnelleres, die Achtelnote auf ein langsameres Grundtempo verweisen (nach dem Prinzip, dass der kleinste vorhandene Notenwert eine Tempogrenze markiert). Die Gefahr ist also, dass die Interpretationspraxis auf einen aus wissenschaftlicher Sicht veralteten und allzu wertkonservativen Forschungsstand zurückgreift (auch aufgrund einer Bevorzugung älterer deutschsprachiger Quellen, die in Bibliotheken verfügbar sind, gegenüber aktuellen englischsprachigen Texten).[43]

Von diesen Erfahrungen aus sollte es zur Erkenntnis nicht mehr weit sein, dass es eben ein geteilter Kontinent ist, den Musiktheorie und Musikpraxis zu bewohnen haben: Bei Akzeptanz einer nie ganz identischen Beschreibungssprache und einem nie ganz identischen Erkenntnisinteresse kann dennoch eine Vielzahl gemeinsamer Gesprächsthemen gefunden werden. Ein mehrfach diskutiertes Problem ist zum Beispiel die Frage, ob sich in der quantitativen Unübersichtlichkeit der vielen Neuaufnahmen eher ein Trend zur Standardisierung zeigt oder ein Trend zur Suche nach individuellen Extremlösungen.[44] Das Problem hierbei dürfte sein, dass diese Alternative selbst nicht historisch neu ist; die Tempoextreme wurden bei weniger ausladenden Stücken durch Glenn Gould oder Friedrich Gulda bereits in früheren Aufnahmeepochen gesetzt.[45] Und die Aufführungen von Sergiu Celibidache müssen ironischerweise sowieso zumeist wieder aus den statistischen Mittelwert-Bestimmungen herausgenommen werden.[46] Celibidaches Weigerung, Aufnahmen zu machen, folgt als Echo eine wissenschaftliche Weigerung, diese Aufnahmen auszuwerten. Die Suche nach extremen Langsamkeitserfahrungen verweist auf eine weitere geteilte Fragestellung: Wie verhält sich das subjektive Tempogefühl in einem vergangenen Zeitalter der Kutschen mit dem Tempogefühl in einem Zeitalter der globalen Mobilität?[47]

Das Bedürfnis nach etwas langsameren Tempi für die Aria der ›Goldberg-Variationen‹ wird dabei als eigene Haltung nun wiederum des Praktikers erkennbar: Dem 3/4-Takt die Qualität des langsameren 3/2-Taktes zuzusprechen, weil dieser innerhalb der im Zyklus verwendeten Taktarten fehlt, um auf diese Weise die überlieferten schnellen Tempi in den zeitgenössischen Traktaten zu mildern oder zu umgehen, ist die Anwendung eines aktuellen Interesses auf die alten Quellen.[48] Der Bezug auf die zeitgenössischen Quellen aber kann aus praktischer Sicht natürlich legitim auch mit dem Zweck erfolgen, gegen die nochmals langsameren Tempi, die für die Aria gebräuchlich sind, ein zumindest etwas schnelleres Grundtempo vorzuschlagen.[49]

Allerdings können auch hier die Ausgangshypothesen bezweifelt werden: Erstens sind Flugreisen und Schnellzüge nicht unbedingt Erfahrungen von erlebter Geschwindigkeit (sondern eher ein weiteres Argument, warum das 20. Jahrhundert ein neues Interesse an der Makroform entwickeln konnte: Die Vogelperspektive der ›vorbeifliegenden‹ Landschaften erzeugt in sich eher eine neue Form eines aus der Geschwindigkeit hergeleiteten Eindrucks von Langsamkeit). Das galoppierende Pferd oder der Pistolenschuss bleiben hingegen in der Gegenwart zentrale Erfahrungen von Geschwindigkeit, die der Zeit von Bach und Beethoven bereits genauso verfügbar waren. Ein Paradox tritt in dieser Frage also deutlich hervor: Wir konstruieren unsere eigene Zeit als schnell, um die überlieferten schnellen Tempi aus älteren Zeiten ablehnen zu können; das Bedürfnis nach Langsamkeit, und nicht dasjenige nach Geschwindigkeit, ist erkennbar ein Hauptmerkmal unserer gegenwärtigen Musikkultur, auch als Kompensation für die eigene Zeitdiagnose einer überschnellen, hektischen Bewegungskultur. Dabei ist es interessant, dass die unhaltbare These der zu halbierenden Metronomwerte weder in der Theorie noch in der Praxis der hier präsentierten Positionen noch irgendeine Rolle spielt.[50]

Die stärkste Gemeinsamkeit zwischen Theorie und Praxis beruht auf einer notwendigen Bezugnahme auf historische Quellen, denen stets auch ein gewisser Beglaubigungswert zugesprochen werden soll. Die Rechtfertigungen für aktuelle Trends werden zwanghaft in den Imitationen des Älteren gesucht: Wenn es eine historische Bezugsquelle gibt, ist eine Maßnahme gut, wenn es diese Quelle nicht gibt, ist dieselbe Maßnahme gefährlich.[51] Aus Sicht der Wissenschaft führt eine Erwähnung von Spotify-Playlists assoziativ zum Re-Enactment eines historischen Konzerts;[52] und aus Sicht der aktuellen Praxis bleiben die abweichenden Praktiken des 19. Jahrhunderts gewöhnungsbedürftig.[53]

Eine Grundfrage wird es also sein, in welcher Form die Überwindung einer ›Partiturethik‹ durch eine ›Performanzethik‹ erfolgen muss oder nicht. Im ersten Falle würde eine Gesinnungsethik vertreten, bei der ›richtig‹ und ›falsch‹ als Wertungskategorien durch den Werktext bereitgestellt werden, im letzteren Fall eine Form der Verantwortungsethik, bei der alles erlaubt ist, was auf YouTube oder Spotify funktioniert, sofern dabei außer der Werkästhetik keine Dritten ernsthaft zu Schaden kommen.

Diese Fragestellungen nach der Zukunft des Konzertlebens im digitalen Zeitalter sind aber soziologisch wiederum nicht nur für die Praxis von offenkundiger Relevanz: Jede quantitative Auswertung, die bis zur Gegenwart reicht, definiert sich als unabgeschlossenes Projekt, das zu einem späteren Zeitpunkt weitergeführt werden könnte. Darum ist die Transparenz der Datenerhebungen und der Transport der Ergebnisse in langfristig gesicherte Zugangsformen von eminenter Bedeutung. Ob dann überhaupt noch Aufnahmen in so hoher Zahl entstehen, die sich mit diesen Daten abgleichen lassen, gehört hingegen zu den Prognosen, für die sich die Musikwissenschaft nicht zuständig fühlen muss.

4. Ausblick: Datenadoption

Die vorliegende Publikation erweist sich als vorbildlich auch darin, dass ihre Datengrundlagen zur weiteren Auswertung bereitgestellt werden (was für empirische Forschung immer üblicher wird, für empirische Interpretationsforschung aber leider noch ganz unüblich ist). Eine ›Response‹ auch auf diese Datenelemente sollte also eine Zielsetzung insgesamt für die wissenschaftliche Praxis werden. Dabei sind verschiedene Aspekte denkbar, die eine Adoption dieser Daten sinnvoll machen können: das Herauspicken einzelner Aufnahmen für eigene Quervergleiche, das Herantragen von neuen Fragestellungen an die vorhandenen Daten und die Replikation der vorliegenden Ergebnisse durch andere statistische Auswertungsverfahren. Im Folgenden wird hierzu ein erstes Beispiel vorgestellt, wobei der ›Adoptionsvorgang‹ direkt für alle drei genannten Punkte vorgeführt werden kann.

Eine naheliegende Frage ist, wie viele der hier einbezogenen Interpret*innen eigentlich am Klavier mehrere der ausgewerteten Zyklen eingespielt haben. Und daraus abgeleitet ergibt sich die Frage, ob Vergleiche auch zwischen den Aufnahmen verschiedener Zyklen sinnvoll sind. Als einzelnes Beispiel soll die meines Wissens einzige CD-Produktion herausgegriffen werden, in der die beiden Klavierzyklen zusammen im Abstand weniger Monate produziert wurden: als Teil eines ›Triathlons‹[54] spielte der Pianist Igor Levit im Jahr 2015 zusätzlich zu den ›Goldberg‹- und ›Diabelli-Variationen‹ auch noch den Variationszyklus The People United Will Never Be Defeated! von Frederic Rzewski ein.

In einem ersten Schritt wurde die Aufnahme der ›Goldberg-Variationen‹ von Levit mit den in der Studie von Motavasseli berechneten Daten zum Mittelwert, Minimal- und Maximalwert abgeglichen[55] (Abbildung 1 überträgt also einen Typus der grafischen Datenzusammenfassung auf diese Aufnahme, die innerhalb der Publikation bereits für die Aufnahmen der Winterreise mehrfach eingesetzt wurde). Dabei zeigt sich optisch eine Ausrichtung an vorhandenen Standards, insofern die Abweichungen vom Mittelwert für die meisten Variationen (und insbesondere auch schon für die eröffnende Aria) relativ unauffällig erscheinen. Tatsächlich beträgt die durchschnittliche Abweichung der Aufnahme von Levit zu den gemessenen Initialtempo-Mittelwerten der einzelnen Variationen genau 6,7 Metronomeinheiten (bzw. 8 % in Relation zum Mittelwert von 83,7 bpm für alle Zyklusteile in der Aufnahme Levit 2015).

Bei dieser und allen folgenden Messungen geht es nicht darum, optimale Messergebnisse auf der Basis möglichst solider Messgrundlagen zu erzielen (wofür zum Beispiel die absoluten metronomischen Tempowerte in relative Tempoabweichungen umgerechnet werden sollten), sondern es geht um die Simulation einer Prüfung mit einem möglichst minimalen Arbeitsaufwand. Um zu entscheiden, ob weiterführende Berechnungen überhaupt auf der Basis der vorhandenen Daten sinnvoll sind, ist also genau umgekehrt eine Grundlage zu suchen, bei der mit möglichst wenigen eigenen Arbeitsschritten auf der Basis der bereits vorhandenen Daten operiert wird.

Abbildung

Abbildung 1: Bach, ›Goldberg-Variationen‹, Initialtempowerte der Studio-Aufnahme 2015 von Igor Levit,
Abgleich mit den Mittelwerten sowie Minimalwerten und Maximalwerten von 76 Aufnahmen

Um einen Vergleich dieser Aufnahme mit einem anderen aktuellen Starpianisten zu ermöglichen, wird dieselbe Abbildung zusätzlich für die Studioaufnahme von Lang Lang bereitgestellt (Abb. 2). Hier scheinen die Abweichungen vom Mittelwert stärker zu sein, was optisch im letzten Drittel des Zyklus durch das Ansteuern von zwei annähernden Minimalwerten (Variationen 21 und 30) und eines Maximums (Variation 26) hervortritt und zudem auch bereits die eröffnende Aria und ihre verlangsamte Wiederkehr am Zyklusende betrifft. Dieser Eindruck lässt sich auch statistisch bestätigen: Der entsprechende Wert der Abweichung zu den Initialtempo-Mittelwerten der einzelnen Variationen beträgt nun 9,5 Metronomeinheiten (bzw. knapp 12 % in Relation zu dem Mittelwert von 78,4 bpm für alle Zyklusteile in der Aufnahme Lang 2020).

Abbildung

Abbildung 2: Bach, ›Goldberg-Variationen‹, Initialtempowerte der Studio-Aufnahme 2020 von Lang Lang,
Abgleich mit den Mittelwerten sowie Minimalwerten und Maximalwerten von 76 Aufnahmen

Um den Abgleich zumindest ein wenig auszudifferenzieren, wurde zusätzlich geprüft, ob die stärksten Abweichungen von den Mittelwerten sich vornehmlich in Variationen finden, in denen durch eine hohe Standardabweichung die interpretatorische Subjektivität auch als Teil der Tradition erscheinen kann. Hierfür wurden also die vorliegenden Werte zur Standardabweichung für alle Aufnahmen mit den neu berechneten Werten zur Abweichung vom Mittelwert in den beiden Aufnahmen verglichen. Konkret wurden jeweils der Korrelationskoeffizient nach Pearsons und zur Prüfung auch der Rangkoeffizient nach Spearman in den jeweils einfachsten Berechnungswegen für die Relation dieser beiden Aufnahmen zu den vorliegenden Daten zur Standardabweichung ermittelt. Und dabei ergibt sich ein anderes Bild: Für die Studioproduktion von Lang Lang ergibt sich eine deutliche, wenn auch kaum statistisch signifikante Korrelation mit den Mittelwerten der relativen Standardabweichungen von 0,318 (für den Live-Mitschnitt aus demselben Jahr sogar nochmals höher von 0,473) bzw. ein Rangkoeffizient von 0,408 (für den Live-Mitschnitt von 0,468). Für die Aufnahme von Igor Levit lauten die ermittelten Werte hingegen 0,082 bei der Korrelation und 0,044 für den Rangkoeffizienten.

Abbildung

Tabelle 1: Bach, ›Goldberg Variationen‹, 76 Aufnahmen: Tempo-Mittelwert (Mw); relative Standardabweichung (Sd); Tempi in den Aufnahmen Levit 2015 und Lang 2020; _Dif: Tempodifferenzen beider Aufnahmen zum Mittelwert (absolut); Sd_Rang: Rangplatz des Satzes innerhalb der relativen Standardabweichungen aller 32 Sätze; _Rang: Rangplatz der absoluten Differenz vom Tempo-Mittelwert eines Satzes innerhalb der 32 Differenzwerte einer Aufnahme

In Tabelle 1 werden die vorgenommenen Rechenoperationen zusammengefasst: Die Spalten 2 bis 5 repräsentieren Zahlenwerte, die dem Beitrag von Motavasseli entnommen sind, die Spalten 6 und 7 die Differenz der Tempo-Mittelwerte der beiden Aufnahmen von den Tempo-Mittelwerten aller vermessenen Aufnahmen (als absoluter Zahlenwert), die Spalten 8 bis 10 schließlich eine Ordnung nach Rangplätzen für die Standardabweichung (abgeleitet aus Tabellenspalte 3) und für die berechneten Abweichungen von den Mittelwerten (abgeleitet aus Tabellenspalten 6 und 7). Um identische Rangplätze zu vermeiden, wurde in diesen wenigen Fällen der höhere Rangplatz an die Variation mit dem langsameren mittleren Tempo vergeben (da unterstellt werden kann, dass diese langsameren Variationen die höheren Standardabweichungen aufweisen, was sich als statistische Korrelation von –0,198 zumindest als schwache Tendenz bestätigen lässt).[56]

Aus diesen neu ermittelten Werten, die sich aus den bereits vorliegenden Daten letztlich mit sehr geringem zusätzlichem Arbeitsaufwand ableiten lassen, kann also bewusst ohne jeden Abgleich mit dem Höreindruck bereits eine vergleichende Bewertung dieser beiden Aufnahmen vorgenommen werden. Die Aufnahme von Lang Lang ist insgesamt ›romantisierender‹, näher an expressiven Extremen der Darstellung (wofür auch die über vierzehn Minuten längere Spieldauer spricht), die Aufnahme von Igor Levit stärker orientiert an ›sachlichen‹ Darstellungswegen. Zugleich jedoch ist die Aufnahme von Lang Lang in ihren Extremen traditionsbezogen (und darin vielleicht berechenbar): Die Extreme werden dort angebracht, wo – angezeigt durch die Standardabweichungen für das gesamte Sample – subjektive Lizenzen üblich sind (wobei damit nicht gesagt wird, ob diese Lizenzen eher zu langsameren oder zu schnelleren Tempi tendieren); die Aufnahme von Igor Levit hingegen ist in ihrer Vermeidung von Extremen zugleich traditionsfern (und bleibt darin vielleicht unberechenbar): Die stärksten Abweichungen sind nun gerade an Zyklusstellen eingebracht, wo diese Lizenzen weniger üblich sind. Ein Abgleich der Rangplätze in Tabelle 1 macht dieses Prinzip deutlich (wobei die Aussage aber grundsätzlich angreifbar bleibt, solange nur die ermittelte Rangkorrelation als Aussagebasis gilt, während ein genauer Abgleich bereits der Tabellendaten auch noch weitere Tendenzen und nicht zur Hypothese passende Einzelfälle als Gegenbeispiele enthüllen dürfte).

Man erkennt, wie einfach diese ›objektive‹, scheinbar vollständig zahlenbasierte Beschreibung sich wieder in eine wertende Stellungnahme umwandeln lässt: Die Differenz zwischen einer populären Ausrichtung bei Lang Lang und einer künstlerisch anspruchsvolleren Haltung dem Werk gegenüber bei Igor Levit lässt sich in die Formulierungen beinahe allzu leicht einspeisen.

Zugleich erlauben es solche abstrahierten Daten, die Aufnahmen desselben Interpreten aus dem einen mit einem anderen Zyklus zu vergleichen. Dabei zeigt eine Durchsicht der Daten für die Aufnahme der ›Diabelli-Variationen‹ von Levit sowohl augenfällige Parallelen wie einzelne abweichende Merkmale (Abb. 3): Auch hier entspricht die Gesamtdauer der Einspielung (52:59) nahezu exakt dem Mittelwert der ausgewerteten Aufnahmen (52:39), das eröffnende Thema hingegen wird von Levit nun mit einem deutlich gegen den entsprechenden Mittelwert (79,3) erhöhten Tempo (89,9) angegangen (beides zusammen würde folglich eine Einordnung eher im Spektrum der ›sachlichen‹ bzw. ›motorischen‹ Einspielungen erneut zulassen; dafür spricht auch die Art und Weise, wie das Thema vom übergreifenden Crescendo der Phrasen und nicht von den dynamischen Kontrasten der einzelnen Pointen her begriffen scheint). In der grafischen Darstellung treten aber häufiger Abweichungen vom Mittelwert und Annäherungen auch an extreme Tempowerte hervor (die durchschnittliche Abweichung von den Initialtempo-Mittelwerten der 66 Aufnahmen beträgt nun immerhin 9,2 Metronomgrade bzw. 9,6 % in Relation zum Mittelwert von 95,9 bpm für alle Zyklusteile der Aufnahme Levit 2015). Erneut ist jedoch die Korrelation zu den Mittelwerten der relativen Standardabweichung auffällig gering (die Werte liegen bei der Korrelation nach Pearsons bei ‒0,015 und bei dem Rangkoeffizienten nach Spearman bei ‒0,143).

Abbildung

Abbildung 3: Beethoven, ›Diabelli-Variationen‹, Initialtempowerte der Studio-Aufnahme 2015 von Igor Levit,
Abgleich mit den Mittelwerten sowie Minimalwerten und Maximalwerten von 66 Aufnahmen

Man erkennt hier aber natürlich das Problem, dass die Messwerte einer einzelnen Aufnahme erst im Abgleich mit den Messwerten von weiteren Aufnahmen aussagekräftig werden. Als Gegenfolie wurde daher die Einspielung aus dem Jahr 2010 von Andreas Staier herangezogen: Durch gemeinsame Lehrer im Umfeld der Musikhochschule von Hannover könnten Einflüsse auf die spätere Aufnahme von Levit durchaus vermutet werden (trotz der differenten Instrumentenwahl).[57] Bis auf die deutlich abweichende Tempogestaltung für die Variation 18 lassen sich tatsächlich einige Ähnlichkeiten erkennen; die neu berechneten Werte könnten aber auch die hypothetische Konstruktion eines ›Personalstilmittels‹ von Levit erneut stützen. Die Abweichung vom Mittelwert beträgt bei Staier nur 7,0 Metronomgrade bzw. 7 % in Relation zum Mittelwert von 96,2 bpm für alle Zyklusteile, aber die Korrelationen zu den Mittelwerten der relativen Standardabweichung sind etwas höher als bei Levit: Sie liegen bei 0,210 für die Korrelation nach Pearsons und 0,103 bei dem Rangkoeffizienten nach Spearman. Levit erscheint auf Basis dieser Werte im Vergleich also eine etwas stärker individualisierte Interpretation vorzulegen.

Ein solches Herausgreifen von Daten aus ihrer ursprünglichen Vernetzung führt schnell an Grenzen. Die Interpretationsforschung hat aber inzwischen eine Bedeutung erreicht, wo sie eigene Institutionen ausbilden sollte: Arbeitsgruppen, Datenrepositorien und Publikationsforen bilden nun jene Vernetzungen zwischen den Forschenden, die notwendig sind, um die Seriosität der statistischen Verfahren beurteilen zu können und einen Abgleich mit bestätigenden oder bezweifelnden Ergebnissen aus anderen Arbeiten zu ermöglichen. Die hier vorgelegten Aufsätze dürfen es als vielleicht größte Anerkennung für sich beanspruchen, dass sie genau einen solchen Austausch initiieren.

Anmerkungen

1

Vgl. Busse Berger 2013, 358 f.

2

Vgl. den Hinweis auf das komplementäre Verhältnis von Tempo und Dauer im Beitrag von Utz, 374 f. Gibt man immer beide Werte an, wird dem Rezipierenden kognitiv stets auch diese Umrechnung abverlangt.

3

Vgl. die Anmerkungen hierzu im Beitrag von Utz, 371.

4

Vgl. die Kritik am »Page-to-Stage«-Modell der Musikwissenschaft bei Cook 2010, 5.

5

Vgl. hierzu grundlegend Agmon 1997, 71.

6

Vgl. insbesondere Hasty 1997, 16 f. (womit eine empirisch selbstverständliche Praxis in Frage gestellt wird).

7

Vgl. hierzu Caskel 2020, insbesondere Kap. 5.5 (229–242).

8

Vgl. differente Umsetzungen dieser Messung bei Laubhold 2014, 200 f. und Moormann 2019, 305 f.

9

Vgl. grundlegend hierzu Cone 1968, 14 f.

10

Linke, 199 (dort eher als Referat vorhandener Analysen, durchaus aber übertragbar auf die in diesem Aufsatz ans Ende gestellte eigene Analyse einer Filmaufnahme mit Piotr Anderszewski).

11

Vgl. vor allem die Beiträge von Janz, 148 f., Linke, 199–203 und Zenck, 298.

12

Vgl. dazu den Beitrag von Glaser, 255–262.

13

Dies gilt natürlich auch für die Proportion eines einzelnen Zyklusteils zur Gesamtdauer. Ein einfaches und instruktives Beispiel ist die Berechnung eines »Prozentanteils« für die Zyklusteile bei Glaser, 255 und 257.

14

Vgl. die Beiträge von Utz, 374 f. und Glaser, 260.

15

Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Motavasseli, 21.

16

Vgl. zu dieser »Normalform« von Tempostrukturen Gottschewski 1996, 182 f. sowie Cook 2013, 135–223.

17

Die Begriffe bezeichnen die weithin bekannte Tatsache, dass die zu Beginn und am Ende auftretenden Elemente in ungeordneten Serien (wie Telefonnummern) am besten memoriert werden können. Auch im Kontext geordneter musikalischer Serien treten diese Effekte auf, vgl. Deutsch 1980, 384.

18

Ein Beispiel ist der Abgleich der Studio- und Live-Version der ›Goldberg-Variationen‹ von Lang Lang (kommentiert im Blick auf die verlangsamte Wiederkehr der Aria im Beitrag von Motavasseli, 50 f.): Der Tempoeindruck scheint hier gerade auch durch den verzögerten Einsatz im allerersten Takt mitbestimmt.

19

Vgl. ergänzend den Beitrag von Gingras, 71 f.

20

Vgl. erste Beispiele zu derartigen Messungen (jeweils für Schumanns Träumerei) bei Beran 2004, 31 sowie Synofzik 2020, 258 f.

21

Vgl. die zentralen skeptischen Gegenargumente bei Repp 1996, 595 f.

22

Vgl. zu den folgenden Ausführungen den Beitrag von Rector, 85.

23

Vgl. den Hinweis im Beitrag von Sprau, 448.

24

Vgl. die Audiobeispiele 1 und 2 im Beitrag von Rector, 93. Diese Manipulation dient auch in der Kommentierung durch den Autor weniger dem Zweck, objektive Differenzen zu erzeugen, sondern subjektive Wahrnehmungsvorgänge zu protokollieren.

25

Vgl. dazu Martens 2007, [21].

26

Vgl. die Ergebnisse bei Konečni/Gotlieb 1985, 98; Umstellungen der Reihenfolge in den ›Goldberg-Variationen‹ beeinflussen das empirische Urteil eben nicht negativ.

27

Vgl. etwa Margulis/Kroger 2017.

28

Vgl. den Beitrag von Utz, 384 f.

29

Vgl. Tabelle 1 im Beitrag von Seedorf, 329; eine etwas ausführlichere Kommentierung dieser mitgegebenen Datenzusammentragungen wäre nicht nur in diesem Fall wünschenswert gewesen.

30

Auffällig ist auch die Tendenz in den Materialien von Glaser, für das jüngste Aufnahmejahrzehnt alle fünf vorliegenden Aufnahmen mit einem historischen Tasteninstrument in die Analyse miteinzubeziehen, sodass das kommerziell weiterhin vorhandene Übergewicht von Aufnahmen mit ›modernem‹ Konzertflügel im untersuchten Korpus nicht mehr wiedergegeben wird (vgl. Glaser, 281, Tabelle 7).

31

Vgl. Leech-Wilkinson 2020, Kap. 9.2.

32

Vgl. den Beitrag von Kinderman, 210.

33

Vgl. zum ersten Punkt den Beitrag von Raab, 234, zum zweiten Punkt den Beitrag von Janz, 143, zum dritten Punkt den Beitrag von Loges, 317.

34

Vgl. den Beitrag von Seedorf, 331.

35

Vgl. den Beitrag von Linke, 186.

36

Vgl. Tabelle 1 im Beitrag von Zenck, 298.

37

Vgl. zur abweichenden früheren Position in dieser Frage den Beitrag von Neuwirth, 162 f.

38

Vgl. zum Begriff der musikalischen ›Tiefe‹ ergänzend Geiger 2003, 268 f.

39

Vgl. etwa Hinweise zur vokalen Abbildung einzelner Liedsujets im Beitrag von Utz, 426 f.

40

Vgl. den Beitrag von Raab, 240 f.

41

Vgl. entsprechende Hinweise im Beitrag von Musil, 484 f.

42

Vgl. den Beitrag von Hell, 119 f.

43

Dieser Vorwurf lässt sich vermutlich gegen den Beitrag von Raab erheben, weil die Ausgangsprämisse, also die Abhandlung der Metrik am Gegensatz ›starker‹ und ›schwacher‹ Einzeltakte (bzw. ›auftaktiger‹ und ›abtaktiger‹ Taktgruppen), insgesamt als veraltete Theorieposition kritisiert werden könnte. Die Prägnanz der eigenen Analysen wird hiervon jedoch nicht belastet, was den Vorrang (und Vorteil) eines close readings der Musik als Primärquelle gegenüber der Anwendung von Theorien aus der Sekundärliteratur belegt.

44

Vgl. den Beitrag von Utz, 359 und den Beitrag von Musil, 483 f. mit Argumenten zugunsten eines Trends hin zu stärker individualisierten Extremlösungen, zumindest in einzelnen Aufnahmen.

45

Vgl. die Messungen zu Beethovens Klaviersonate op. 57 bei Loesch/Brinkmann 2011.

46

Vgl. etwa Stenzl 2008, 129.

47

Vgl. ergänzend Botstein 1994, 422.

48

Vgl. den Beitrag von Hell, 121.

49

Vgl. ebd.

50

Vgl. zur Widerlegung dieser Hypothese weiterhin Miehling 1993, 42.

51

Vgl. auch hierzu Leech-Wilkinson 2020, Kap. 1.

52

Vgl. den Beitrag von Loges, 316.

53

Vgl. den Beitrag von Musil, 481.

54

Vgl. Cybinski 2015, 10 [Booklet-Text zur CD-Einspielung Levit 2015].

55

Vgl. als Quelle aller hier vorgenommenen Berechnungen Table 8 im Beitrag von Motavasseli, 67.

56

Im Fall der ›Diabelli-Variationen‹ ist die negative Korrelation zwischen den mittleren Tempi und den Standardabweichungen der einzelnen Zyklusteile mit ‒0,472 nochmals eindeutiger.

57

Vgl. Hinweise darauf innerhalb der Diskussion der ›Goldberg-Variationen‹ bei Cybinski 2015, 18.

Literatur

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