Polth, Michael (2011), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/2, 223–224. https://doi.org/10.31751/642
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 17/11/2011
zuletzt geändert / last updated: 20/11/2011

Editorial

Im Jahre 2004 hat Bernhard Haas in seinem Buch Die neue Tonalität von Schubert bis Webern. Hören und Analysieren nach Albert Simon zum ersten Mal über die Analysepraxis des ungarischen Dirigenten und Musiktheoretikers Albert Simon berichtet. Auf den ersten Blick bietet das Buch lediglich Grundbegriffe und weiterführende Hinweise zur Tonfeld-Analyse sowie sechs ausführliche Beispiele unterschiedlicher historischer und kompositionstechnischer Provenienz. Eine nähere Betrachtung aber lässt erkennen, dass den Analysen und Kommentaren eine weitreichende und ausdifferenzierte Theorie über Grundlagen des musikalischen Zusammenhangs und über die Beziehungen zwischen diesen Grundlagen und der konkreten Erscheinung im Tonsatz zugrunde liegen muss. Diese Theorie aber wird von Haas nicht umfassend ausformuliert, und es steht bislang nicht fest, ob sie überhaupt bereits ausformuliert worden ist (die wenigen Einzelanalysen Simons enthalten keine umfassenden theoretischen Erörterungen, ein hinterlassenes Manuskript von Simon konnte bislang nicht eingesehen werden) oder ob sie bislang nur eine ›Regel‹ (im Sinne Wittgensteins) der Analysepraxis ist, der man folgt, ohne sie kennen zu müssen.

Eine Reihe von Musiktheoretikern hat in jüngerer Zeit damit begonnen, das bislang nicht ausgeschöpfte, aber vielversprechende musiktheoretische Potential des Simonschen Ansatzes herauszuarbeiten. Vier Eigenschaften der Tonfeld-Analyse lassen die Beschäftigung mit ihr lohnend erscheinen:

  1. Tonfeld-Analyse erscheint ›kunstnah‹, weil sie die Klangeigenschaften des Tonsatzes als Kriterium für analytische Entscheidungen betrachtet (und dadurch umgekehrt den nachvollziehenden Leser zum Hören anleitet).

  2. Tonfelder werden als funktionale Einheiten betrachtet. Damit erfüllen sie die Voraussetzung, ein Allgemeines darzustellen, das sich gleichwohl unter singulären Kontexten konstituieren kann.

  3. Tonfeld-Analyse wird (bei Haas) als Schichtenanalyse betrieben. Diese ermöglicht nicht nur, sämtliche Details einer Komposition methodisch präzise in den Blick zu nehmen, sie erfordert es geradezu. Natürlich darf man das Postulat, analytische Entscheidungen könnten letztendlich nur aus einer Interpretation des gesamten Tonsatzes heraus begründet werden, nicht mit dem fragwürdigen Anspruch verwechseln, das ›Kunstwerk‹ als Ganzes zu erklären.

  4. Die in der Tonfeld-Analyse implizierten Eigenschaften des musikalischen Zusammenhangs korrelieren mit der Musik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (frühe Ausnahmeerscheinungen wie die Kompositionen Franz Schuberts eingeschlossen).

Die Literatur zur Tonfeld-Analyse (die hier erstmals in einer vollständigen Bibliographie zusammengefasst wird) befindet sich nicht allein, was die Zeitspanne der Entstehung angeht, sondern auch ›qualitativ‹ im Anfangsstadium. Symptomatisch ist, dass kaum eine Veröffentlichung bislang darauf verzichtet, einführende Worte voranzustellen (da bei der Leserschaft keine allgemeine Kenntnis der ›Lehre‹ Simons vorausgesetzt werden kann). Weiterhin lässt sich in fast allen Beiträgen ein Bewusstsein dafür feststellen, dass uns die ›Lehre‹ Simons nicht als ausformuliertes Theoriegebäude überliefert ist. Deutlich wird dies daran, dass sich selbst diejenigen Beiträge, die nur eine Anwendung der Analysemethode oder einen Vergleich zwischen Simons Analysen und solchen anderer Autoren zu betreiben scheinen, in Wirklichkeit an der Suche nach einem angemessenen theoretischen Grundverständnis der ›Lehre‹ Simons beteiligen.

Die Beiträge dieser Ausgabe setzen den Weg fort, der mit den bisherigen Schriften zur Tonfeld-Analyse eingeschlagen wurde. Den Anfang machen vier Artikel mit primär analytischer Ausrichtung. Michael Polth fragt, wie es sein kann, dass in so unterschiedlichen Kompositionen wie drei Klavierstücken von Brahms, Debussy und Stockhausen, ›dieselben‹ Tonfelder artikuliert werden. Es folgen zwei Schubert-Analysen: Stefan Nowak geht einer spezifisch Schubertschen Ausprägung der Sonatenform nach, und Markus Sotirianos fragt nach Besonderheiten der Harmonik im späten Lied Der Atlas. Beide Autoren verbindet die Frage, wie ein System des musikalischen Zusammenhangs, das auf Tonfeldern beruht, mit traditionellen Prinzipien der Formbildung, der Sonatenform (als Prinzip betrachtet) und der ›harmonischen Tonalität‹, zusammen gehen kann. Der Beitrag von Bernhard Haas schließlich dürfte der erste sein, der sich kritisch mit Simon selbst auseinandersetzt, genauer: mit zwei von ihm hinterlassenen Analysen zu Klavierstücken von Bela Bartók.

Historische und systematische Aspekte der Tonfeld-Theorie untersuchen die Beiträge von Konstantin Bodamer und Dres Schiltknecht. Bodamer ordnet den Analyseansatz Simons (so weit er uns bekannt ist) in das Umfeld der ungarischen Musiktheorie ein, während Schiltknecht zeigt, dass die Dreizahl der Typen von Tonfeldern bei Simon nicht auf Willkür beruht, sondern systematisch begründet ist.

Im Oktober dieses Jahres fand erstmals nach 2007 wieder die European Music Analysis Conference (EuroMAC) statt. Über seine Eindrücke aus Rom berichtet Felix Diergarten.

Ullrich Scheideler stellt in seiner Rezension eine Schrift von Andreas Jakob vor, die anhand von Büchern, Aufsätzen, Manuskripten und Notizen Arnold Schönbergs dessen musiktheoretisches Denken zu rekonstruieren versucht.

Andrew Noble schließlich rezensiert ein Buch von Emmanouil Vlitakis, in dem anhand ausgewählter Kompositionen von Lachenmann, Boulez, Ligeti und Grisey neue Analysekategorien entwickelt werden, die der veränderten Funktion von Instrumentation und Klangfarbe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Rechnung tragen.

Michael Polth

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