Scheideler, Ullrich (2008), »Michiel Schuijer, Pitch-Class Set Theory and The Construction of Musical Competence, Dissertation, Utrecht 2005«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 5/1, 181–188. https://doi.org/10.31751/279
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2008
zuletzt geändert / last updated: 03/08/2009

Michiel Schuijer, Pitch-Class Set Theory and The Construction of Musical Competence, Dissertation, Utrecht 2005

Ullrich Scheideler

Es war insbesondere Allen Fortes 1973 erschienenes Buch The Structure of Atonal Music, das mit seinen didaktisch gut aufbereiteten Beispielen die Voraussetzung dafür schuf, dass die pitch-class set Theorie in den angelsächsischen Ländern zum wichtigsten Ansatz der Analyse ›atonaler‹ Musik avancierte. Forte, der eine einfach handhabbare Terminologie bereitgestellt und die Relevanz der (mathematischen) Relationen zwischen sets in kurzen Analysen dargelegt hatte, verfolgte im Wesentlichen das Ziel, die Tonhöhenstruktur sogenannter frei-atonaler Musik (insbesondere der zwischen ca. 1907 und 1925 entstandenen Musik der zweiten Wiener Schule) zu klassifizieren und deren Stimmigkeit aufzuzeigen. Was gängiger Vorstellung nach nur dem unmittelbaren Ausdrucksbedürfnis entsprungen zu sein schien, sollte in seiner (mehr oder minder zwingenden) Logik dargelegt werden – ein Vorsatz, der auch heute noch zu überzeugen vermag, weil die Musik (beim Hören) in der Tat als konsistent und nicht zufällig empfunden wird. Dass musikalischer Zusammenhang hier allerdings (allein) mithilfe der pitch-class set Theorie aufgezeigt werden könne, wurde – und wird – in Zweifel gezogen.

Zunächst ist die Vorstellung, die Tonhöhenstruktur frei-atonaler Musik konstituiere sich im Wesentlichen über sets, also ungeordnete Mengen von Tonhöhenklassen (pitch-classes), die sich sowohl in der Vertikalen als auch in der Horizontalen ausbreiten können, keineswegs selbstverständlich. Abgesehen von dem Einwand, es seien von den betreffenden Komponisten keine Aussagen überliefert, die für ein kompositorisches Vorgehen in sets sprächen – ein Argument freilich, das sich mit Blick auf die Selbstauskünfte Bachs oder Mozarts beispielsweise auch gegen Schenker vorbringen ließe –, ist es gerade die empirische Basis der pitch-class set Theorie, die immer wieder in Zweifel gezogen wurde. Eines der Hauptargumente war, dass der musikalische Vordergrund – Motive, Phrasen etc. – nur selten Gegenstand der Analyse sei, sondern eine ›underlying structure‹.[1] Dass aber eine abstrakte und vom Vordergrund weitgehend unabhängige Struktur in der Lage sein könne, musikalischen Zusammenhang zu verbürgen, ist bei einem verwandten Fall, der Reihenanalyse von Werken der Dodekaphonie, mit guten Gründen[2] ebenfalls in Zweifel gezogen worden. Kritisch angemerkt wurde auch, dass die pitch-class set Theorie die Erklärung ›atonaler‹ Harmonik oder Melodik als Varianten oder Ableitungen tonaler Akkorde oder Tonfolgen ausschließt: Auf tonale Deutungsmuster rekurrierende Analysen etwa von Arnold Schönbergs Klavierstück op. 11,1 (Reinhold Brinkmann[3]) und Igor Strawinskys Sacre du Printemps (Richard Taruskin[4], Pieter C. van den Toorn[5]) werden verworfen, obwohl hier für den Werkcharakter möglicherweise wichtige Einsichten gewonnen werden können.

Die in englischer Sprache verfasste Dissertation von Michiel Schuijer mit dem Titel Pitch-Class Set Theory and The Construction of Musical Competence, die 2005 an der Universität Utrecht eingereicht wurde, versteht sich als eine »musicological reflection« (5) über die pitch-class set Theorie; später ist von einem »historical and contextual account« (34) die Rede. Der zunächst etwas rätselhaft anmutende zweite Teil des Titels (Construction of Musical Competence) verweist auf eine grundlegende These und ein wesentliches Anliegen der Arbeit: Schuijer möchte zeigen, dass die pitch-class set Theorie eine (genuin amerikanische) Konstruktion ist, die stark von Vorstellungen ihrer Entstehungszeit, mithin insbesondere der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts bestimmt wurde und insofern eine »domain of musical competence« darstellt, die ganz bestimmte »contemporary concerns, interests, and perceptions« (35) reflektiere. Indem Schuijer die Theorie historisch verortet und von hier aus ihre Eigenarten erklärt, schreibt er ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Gleichzeitig wird die Geltung der Theorie, die bisweilen mit einem arg apodiktischen Anspruch auftritt, ein Stück weit relativiert.

Schuijer steht der pitch-class set Theorie insgesamt aufgeschlossen und wohlwollend gegenüber. Er akzeptiert sie als ein bereits etabliertes Vokabular[6] zur Beschreibung atonaler Musik, das unser Bild von Werken der ›freien Atonalität‹ als eines strukturierten (und nicht zufälligen) Ganzen wesentlich geprägt hat. Der Charakter seiner Arbeit lässt sich vielleicht am besten als eine Kritik im kantischen Sinne beschreiben: als Diskussion wesentlicher Voraussetzungen, Entscheidungen und Inhalte der pitch-class set Theorie sowohl in historischer als auch systematischer Hinsicht. Zwar steht dabei die von Forte geprägte Ausformung der Theorie im Mittelpunkt, doch werden auch ihre Vorgeschichte (etwa in frühen Texten Fortes und bei Milton Babbitt), ihre Weiterentwicklung und alternative Ansätze (John Rahn, Robert D. Morris, David Lewin u.a.) vorgestellt und diskutiert.

Die Arbeit ist in sieben Kapitel (und ein Vorwort) unterteilt, die jeweils in mehrere Unterkapitel zerfallen. Dabei bilden die Kapitel 2 bis 5 sowie 6 und 7 jeweils übergeordnete Einheiten. Ihnen ist Kapitel 1 (»Pitch-Class Set Theory: An Overture«, 11–37) vorangestellt, in dem Schuijer herausarbeitet (und an Beispielen erläutert), welche Vorstellungen von »musikalischer Struktur« der pitch-class set Theorie zugrunde liegen. Er kann zeigen, dass einige wesentliche mit pitch-classes verbundene Kategorien anderen Gebieten der musikalischen Analyse (und des Komponierens) entstammen, und zwar solchen, die im Zentrum von Musik stehen, die gerade nicht zwischen 1907 und 1925 entstanden ist. Die Bezüge sind durchaus heterogen: Der Begriff des sets, also einer Menge von Tönen, die den musikalischen Raum sowohl vertikal als auch horizontal ausfüllen kann, hängt eng mit der Zwölfton-Methode zusammen, vor allem mit dem Phänomen des besonderen Bezugs zweier Hexachorde, den Babbitt mit dem Begriff der ›combinatoriality‹ versehen hat (eine derartige Reihenkonstruktion findet sich in vielen Werken Schönbergs). Die Idee, zwischen einem musikalischen Vordergrund (den Motiven und Themen) und einem strukturellen Hintergrund zu unterscheiden, der die eigentliche Regulationsinstanz bildet, ist in der Theorie Heinrich Schenkers vorgeprägt. Diese Verbindung wird auch durch ein biographisches Moment gestützt, hatte doch Forte nicht nur (zusammen mit Steven E. Gilbert) eine Introduction into Schenkerian Analysis[7] geschrieben, sondern auch bereits 1959 einen Aufsatz über »Schenker’s Conception of Musical Structure«[8] publiziert. Schließlich steht die Idee, die Struktur eines Werkes lasse sich auf einige wenige sets reduzieren, die in immer neuen Zusammenhängen und (an der musikalischen Oberfläche) in sich stets wandelnden musikalischen Varianten erscheinen, eng in Verbindung mit dem Konzept der ›entwickelnden Variation‹.

Gemäß Schuijer habe sich die pitch-class set Theorie deshalb nur in Amerika entwickeln und solche Verbreitung finden können, weil das Fach Musiktheorie hier bereits zu einer eigenständigen akademischen Disziplin herangereift und durch die Schenker-Tradition zudem von einem relativ abstrakten Strukturbegriff geprägt war. Dass in Europa hingegen, wo die motivisch-thematische Analyse als maßgeblich erachtet wurde, solche Theorien tendenziell auf Ablehnung stießen, konnte nach Schuijer noch anhand der Auseinandersetzungen auf der Fourth European Music Analysis Conference im Oktober 1999 in Rotterdam beobachtet werden.

Im Schlussabschnitt des Kapitels stellt Schuijer zwei wesentliche Einwände gegen das Konzept musikalischer Struktur der pitch-class set Theorie vor: zum einen den von Seiten der New Musicology geäußerten Vorwurf des Neopositivismus, der zugleich auf das vermeintliche Unvermögen systematischer Analysetheorien zielt, der Singularität des musikalischen Kunstwerks angemessen zu begegnen. Zum anderen wird die Frage der Hörbarkeit angesprochen: Wie finde ich eigentlich relevante (oder signifikante) sets, wenn gerade die Oberfläche nicht maßgeblich ist? Ist eine Segmentierung in signifikante musikalische Einheiten, die sich von der Oberfläche entfernt, in ihrer Stimmigkeit nicht bloß eine Selbstbestätigung der Theorie, letztlich aber leer? Schuijer nimmt an dieser Stelle noch nicht ausführlich zu diesen Kritikpunkten und Fragen Stellung. Das bleibt vor allem den abschließenden Kapiteln vorbehalten. Zunächst geht es ihm darum, die Voraussetzungen und das Wesen der pitch-class set Theorie genauer in den Blick zu nehmen.

Das 2. Kapitel (»Objects and Entities«, 38–58) beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten des Konzepts von pitch-class set als »representation of musical entities« (58), indem die mit den Begriffen ›pitch‹ und ›pitch-class‹, ›pitch interval‹ und ›pitch-interval class‹, ›pitch-class set‹ sowie ›interval content of a pitch-class set‹ bezeichneten Elemente rekapituliert und diskutiert werden. Schuijer verbindet hier erneut Systematik und Historik, indem die Definitionen in den Kontext der Diskussionen insbesondere der 1960er Jahre eingebettet werden. Dabei werden auch Elemente vorgestellt, die (so) nicht in Fortes Buch Eingang gefunden haben. Schuijer zeigt unter anderem, dass sich gerade bei Forte die Definitionen wesentlicher Elemente durch einen hohen Abstraktionsgrad auszeichnen. Bei pitch-class wird von der Oktavlage abgesehen, bei interval-class (IC) – im Unterschied zu alternativen Entwürfen wie pitch-interval (PI) oder pitch-interval-class (PIC) – werden die Komplementärformen von Intervallen (also z.B. kleine Terz und große Sexte) gleichgesetzt, auch die Fortschreitungsrichtung gilt als unerheblich.

In den Kapiteln 3 bis 5 (»Operations«, 59–94, »Equivalence«, 95–130, »Similarity«, 131–180) werden mögliche Beziehungen zwischen pitch-class sets diskutiert. Die Kapitel gehen von der Voraussetzung aus, eine Bestimmung von sets mache nur dann Sinn, wenn sie verglichen werden können. Gefragt wird also, welcher Art die Beziehung zwischen sets sein kann und wie diese definiert und gemessen werden kann. Kapitel 3 ist den relativ einfachen und im Wesentlichen unstrittigen Operationen gewidmet, nämlich Transposition, Inversion (Umkehrung) und Multiplikation. Auch hier legt Schuijer ein Hauptaugenmerk auf die Feststellung, dass diese Operationen bereits bei älteren Ansätzen zu finden sind. Allein das Verfahren der Multiplikation fand erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts Anwendung (explizit bei Krenek, Eimert und Boulez), vermutlich ein Grund dafür, dass Forte diese Operation nicht heranzieht. Schuijer hält sie denn auch weniger für ein analytisches Werkzeug als ein kompositorisches Konzept der zeitgenössischen Musik.

Die spannendsten Abschnitte des Buches sind zweifelsohne die Kapitel 4 und 5. Hier kann Schuijer zeigen, dass Fortes Setzungen im Hinblick auf Äquivalenz und Ähnlichkeit von sets keineswegs selbstverständlich sind, dass die Diskussion über sinnvolle und praktikable Definitionen auch nach dem Erscheinen von Fortes Buch noch im Fluss war (und bis heute nicht abgeschlossen ist), und dass bestimmte Entscheidungen vielleicht weniger aus sachlichen als vielmehr pragmatischen Erwägungen heraus getroffen wurden.

Kapitel 4 diskutiert die Entwicklung des Konzepts von ›equivalence‹, d.h. die Frage, wann zwei pitch-class sets als äquivalent betrachtet werden können (was bei Forte dazu führt, dass sie mit demselben Namen versehen werden). In der Tat scheint es zunächst kaum verständlich, dass etwa Dur- und Mollakkorde (set 3-11) nach Forte als äquivalente sets zu gelten haben (auch unterschiedliche Basstöne und Oktavlagen beeinträchtigen die Äquivalenz nicht). Andererseits leuchtet es ein, dass die Fülle möglicher Tonhöhenordnungen auf ein handhabbares Maß reduziert werden musste, sollte es noch als analytisches Mittel tauglich sein. Schuijer zeichnet nach, warum letztlich der ›interval content‹ zur zentralen Kategorie von Äquivalenz wurde: Auch hier besaß die Analyse von Zwölfton-Musik, also eines ganz anderen Repertoires, eine Leitfunktion. Einen Anknüpfungspunkt bot erneut die »hexachordal combinatoriality«, die auch Umkehrungen von Hexachorden einbezieht. Damit aber ist sowohl die konkrete Reihenfolge der Töne (und Intervalle) als auch die Intervallrichtung innerhalb zweier durch combinatoriality verbundenen Hexachorde nicht mehr identisch: gleich bleibt allein der gesamte Intervallinhalt aller sechs Töne zueinander (interval vector). Dass der interval vector eine problematische Kategorie für die Annahme von Äquivalenz war, lässt sich bereits deutlich an den mit ›Z‹ bezeichneten sets ablesen, die zwar denselben interval vector aufweisen, sich aber nicht mittels Transposition, Inversion oder beiden Operationen auf dieselbe prime form reduzieren lassen. Schuijer stellt daher auch alternative Definitionsversuche vor, die im Anschluss an Forte vorgenommen wurden. Dazu gehören John Rahns ›class-types‹, David Lewins ›transformation groups‹ sowie Robert Morris’ Versuch, die Kategorie des Klangs (›sound‹) zum primären Bestimmungsmerkmal zu erheben.

Zielt Morris’ Definition auf eine stärkere Berücksichtigung der klanglichen Außenseite (und ist daher auch Ausdruck eines Unbehagens angesichts eines all zu abstrakten Strukturbegriffs), so ist Rahns Erweiterung von der Idee bestimmt, das analytische Instrumentarium zu verfeinern und flexibler zu machen, indem zwischen äquivalenten sets, die allein durch Transposition zustande kommen, und solchen, die auf Inversion sowie auf beidem beruhen, unterschieden wird. Als Beispiel wird neben den ersten beiden Takten von Schönbergs Klavierstück op. 33a der Anfang von Wagners Tristanvorspiel herangezogen. Rahn kann zeigen, dass der Tristanakkord und der E-Dur-Septakkord am Ende von Takt 3 zwar nicht mittels Transposition auf dieselbe prime form reduzierbar sind (also nicht demselben Tn-type angehören), aber hinsichtlich Transposition, gefolgt von Inversion als äquivalent gelten können. Anfang und Ende der Phrase sind gewissermaßen komplementär aufeinander bezogen. Aber war das – wie von Rahn und Schuijer behauptet – wirklich ein Ergebnis, das »not obvious« war? Das kann man bezweifeln. Erstens wäre Forte (mit seiner Äquivalenzdefinition) zum selben Ergebnis gekommen. Zweitens sind bestimmte äquivalente Akkordpaare für denjenigen, der mit der set-Theorie vertraut ist, leicht zu erkennen (z.B. Dur und Moll [3-11], halbverminderter Septakkord und Dominantseptakkord [4-27] oder übermäßiger Dreiklang mit einem beliebigen Halbton [4-19]).

Nimmt man allerdings Rahns Forderung nach Verfeinerung ernst, so wäre als Ergebnis vielmehr festzuhalten, dass die beiden Akkorde gerade nicht äquivalent sind (nämlich wenn man die Tn-type-Klasse zugrunde legt) und sich erst dann als äquivalent erweisen, wenn man den Maßstab erweitert bzw. das Raster vergröbert. Damit ist eine Hauptschwierigkeit angesprochen und vielleicht auch der Grund genannt, warum sich Rahns class-types nicht durchgesetzt haben: Die Strukturanalyse sucht in der Regel nach Übereinstimmungen unterhalb der heterogenen Oberfläche und neigt dazu, differenzierende Lesarten zu vernachlässigen. Die Frage, welches die adäquate Äquivalenzdefinition sei, verweist zugleich auf ein grundsätzliches Problem: Wo eine (vergleichsweise) unanschauliche Struktur ohne (starken) Außenhalt auskommen muss, verfügen wir über keine externen Kategorien mehr, die uns sagen, welcher Grad an Abstraktion sinnvoll ist.

Das letzte Kapitel zum Vergleich von pitch-class sets beschäftigt sich mit der Kategorie der ›similarity‹. Sie ist zentral für den Anspruch der pitch-class set Analyse, eine Theorie des musikalischen Zusammenhangs zu sein: Wenn ›entwickelnde Variation‹ (hier in Bezug auf unordered sets) ein wesentliches Anschauungsmodell darstellt, dann müssen – analog zur motivischen Entwicklung – auch Beziehungen zwischen sets beschreibbar (und berechenbar) sein. Ähnlichkeitsbeziehungen müssen mithin qualifizierbar sein, und im Idealfall soll es eine Hierarchie von sets geben, was Forte dazu veranlasste, im zweiten Teil seines Buches eine Theorie der pitch-class set complexes vorzustellen, die im sogenannten nexus-set gipfelte, einem übergeordneten set, aus dem alle weiteren ableitbar sind und das damit gewissermaßen als eine Art Tonika oder Grundreihe fungiert. Schuijer hatte bereits an früherer Stelle dargelegt (vgl. 36), dass sich die von Forte im zweiten Teil seines Buches präsentierten Überlegungen nicht durchsetzen konnten. Äußeres Zeichen hierfür ist, dass sie keinen Eingang in wichtige andere Lehrbücher (John Rahn, Basic Atonal Theory; Joseph Straus, Introduction to Post-Tonal Theory) gefunden haben.

Sein Hauptaugenmerk richtet Schuijer in diesem Kapitel auf Konzepte zur Beschreibung von Ähnlichkeitsbeziehungen, die sowohl vor als auch nach Forte entwickelt wurden. Zunächst wird auf Paul Hindemiths Unterweisung im Tonsatz (1937) und Ernst Kreneks Studies in Counterpoint (1940) verwiesen. Beiden Konzepten ist gemeinsam, dass sie (wenngleich auf unterschiedliche Weise) Akkorde in verschiedene Klassen einteilen, die sich durch das Vorkommen bestimmter Intervalle konstituieren. Hindemith verwendet diese Klassen zur Beschreibung des harmonischen Gefälles, das – zusammen mit dem Stufengang – den Tonsatz eines Stückes regulieren, mithin Zusammenhang herstellen soll.

Forte wählte als Kriterium für die Ähnlichkeitsbeziehungen den Intervallvektor. Schuijer macht darauf aufmerksam, dass Forte die Möglichkeiten, Ähnlichkeitsbeziehungen abzustufen, nicht ausschöpft, denn er zählt beim Vergleich zweier sets nur, wie viele Positionen im Intervallvektor identisch sind, nicht jedoch die Anzahl der unterschiedlichen Intervalle (Fortes Selbstbeschränkung führt gleichwohl dazu, dass die Relationen überschaubar und in der Anwendung praktikabel bleiben). Schuijer stellt daher im Anschluss an Fortes Konzept weitere in der amerikanischen Musiktheorie diskutierte Möglichkeiten (und die mit ihnen verbundenen Probleme) vor, Ähnlichkeitsbeziehungen zu definieren. Den Anfang macht Richard Teitelbaums Konzept einer ›intervallic similarity‹; es folgen die Definitionen von Eric Regener, Lewin, Morris, Rahn, noch einmal Lewin und schließlich von Eric J. Isaacson. Dieser gut dreißig Seiten umfassende Abschnitt, in dem Abkürzungen wie SIM und ASIM (Morris’ ›similarity index‹ bzw. ›absolute similarity index‹), MEMBn (X,A,B) (Rahns ›Mutual embedding in sets A and B of sets X of size n‹), REL(A,B) und REL2 (Lewin) sowie IcVSIM (Isaacsons ›Interval-class Vector Similarity‹) vorkommen, ist etwas für Spezialisten. Auch Schuijer räumt ein, dass hier eine »self-perpetuating power of a technical vocabulary« (180) vorliegt. Gleichwohl werden die Probleme einsichtig, auf die all diese Autoren reagieren: Denn Forte hatte die Ähnlichkeitsbeziehungen lediglich mittels vier Klassen zu definieren versucht (Rp, R0, R1, R2). Es gab nur die Möglichkeit, entweder einer Klasse anzugehören oder nicht, und eine Abstufung erfolgte allein über die Art und Anzahl von Zugehörigkeiten zu diesen Klassen (insofern ähnelt Fortes Konzept jenem Hindemiths). Alle von Schuijers vorgestellten späteren Definitionen hingegen zielen darauf, einen Zahlenwert als Ergebnis zu erlangen, mit dem die Grade der Ähnlichkeit genauer mess- und beschreibbar sind. Auch hier zeigt sich, dass mit zunehmender Komplexität der Formeln zwar eine größere Genauigkeit erreicht werden kann, dass aber zugleich ihre Handhabbarkeit immer weiter abnimmt: In ihren ausdifferenziertesten Formen wird die mathematische Musiktheorie zu einer Sache von Eingeweihten und ist für eine breite Anwendung ungeeignet – dabei war es ursprünglich gerade ihre Praktikabilität in der Lehre, die maßgeblich zum Erfolg der pitch-class set Theorie beigetragen hat.

In den beiden abschließenden Kapiteln werden noch einmal grundsätzliche Fragen angesprochen, die teilweise bereits im Anfangskapitel gestellt worden waren. Ausgangspunkt des vorletzten Kapitels (»Blurring the Boundaries: Analysis, Performance, and History«, 181–199) ist zunächst das Faktum der Historizität auch der musikalischen Analyse, das zu der Frage führt, inwiefern eine Analysetheorie (oder auch nur Methode) zu brauchbaren Ergebnissen führen kann (oder radikaler gesagt: überhaupt eine Berechtigung besitzt), wenn sie nicht dem zeitgenössischen musiktheoretischen oder kompositorischen Diskurs im Umkreis des zu analysierenden Werks entstammt, sondern postskriptiv formuliert wurde – beansprucht sie doch, Einblicke in das Gefüge eines historisch verorteten Kunstwerks zu vermitteln. Als Vertreter dieser Position führt Schuijer insbesondere Richard Taruskin an, der nicht zuletzt Fortes Analysen heftig attackiert hatte. Daran, dass gerade die Ahistorik der pitch-class set Theorie großen Widerspruch hervorrief, war Forte nicht ganz unschuldig, hatte er doch als Antwort auf Taruskins Kritik an seiner Analyse von Strawinskys Sacre du Printemps die ›phenomenological virginity‹ propagiert. Es wäre freilich zu überlegen, ob nicht der radikale Gegensatz der Argumente die Möglichkeit einer Koexistenz oder eines produktiven Pluralismus verschiedener Analyseverfahren verdeckt. Immerhin hatte Forte in seiner Analyse von Schönbergs Klavierstück op. 11,1 auf Brinkmanns Arbeit (in jedenfalls nicht ablehnender Weise) aufmerksam gemacht, und Taruskin betrachtete Fortes Analyse des Sacre als ›onesided‹, was doch etwas anderes bedeutet als ›falsch‹ oder ›ohne Berechtigung‹ (George Perles Kritik war dagegen fundamentaler). Ohne Fortes extremen Standpunkt zu teilen, favorisiert Schuijer (im Anschluss an Nicolas Cook) einen Analysebegriff, der nicht (oder doch zumindest nicht primär) auf Rekonstruktion zielt. Vielmehr sei Analyse ein Akt der Interpretation, in dem Bedeutung produziert werde. Es sei daher legitim, sich eines analytischen Instrumentariums zu bedienen, das nicht der Zeit der zu analysierenden Musik entstammt. Außerdem weist Schuijer noch einmal darauf hin, dass von Ahistorität streng genommen nicht die Rede sein kann, da der pitch-class set Theorie doch Vorstellungen vom Komponieren zugrunde liegen, die historisch im Umkreis der von ihr vorwiegend betrachteten Musik verortbar sind.

Der zweite Abschnitt des Kapitels beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Gegenstand (musikalischem Werk) und Analysemethode (pitch-class set Theorie). Schuijer zeigt, dass hier ein wechselseitiges Verhältnis vorliegt. Erkenntnisinteresse und spezifische Denkfiguren steuern die Anwendung der Theorie. Zugleich wird durch die Bedingungen der Theorie die Analyse in bestimmte Bahnen gelenkt, wenn nicht gar beschränkt. Diese Verflechtung von Gegenstand und Methode zeigt sich bei der pitch-class set Theorie brennpunktartig im Problem der Segmentierung. Was Schuijer am Beginn seiner Arbeit angedeutet hatte, wird hier nun an einem Beispiel veranschaulicht. Anhand von Nicolas Cooks pitch-class set Analyse von Schönbergs Klavierstück op. 19,6 verdeutlicht Schuijer, welche Probleme für die konkrete Analyse hieraus resultieren. Denn für die von Cook vorgenommene Segmentierung, die keineswegs auf der Hand liegt (die Takte 5 und 6 bilden kein Segment; stattdessen wird die erste Takthälfte von Takt 5 noch dem vorherigen Segment zugeschlagen, obwohl sie durch eine deutliche Pause vom Vorherigen abgetrennt ist), lassen sich zwei Gründe anführen: erstens die Formidee der Unterbrechung (›interruption‹), die Schuijer mit der analogen, auf tonale Musik bezogenen Vorstellung bei Schenker in Verbindung bringt, zweitens die Vorgabe der pitch-class set Theorie, sich auf drei- bis neuntönige sets zu beschränken (die Zusammenfassung der Takte 5 und 6 zu einem segment hätte zu einem 10-tönigen set geführt).

Das Schlusskapitel (»Mise-en-Scène«, 200–242) geht noch einmal ausführlich der Frage nach, warum diese Methode (oder Theorie) der Analyse sich in den 1960er-Jahren etablierte, und warum dies gerade in Nordamerika geschah. Auch hier hebt die Antwort weniger auf Inhaltliches als vielmehr auf bestimmte Rahmenbedingungen ab. Die Entwicklung der pitch-class set Theorie und ihre Durchsetzung als Bestandteil der Musiktheorieausbildung wurde demnach nicht zuletzt durch zwei äußere Faktoren beeinflusst: den Einsatz des Computers in den Geisteswissenschaften und die besondere Situation an den amerikanischen Universitäten. Der erste Punkt ist nicht zuletzt deshalb überraschend, weil in der heutigen Anwendung der Methode der Computer allenfalls eine marginale Rolle spielt. Schuijer aber führt etliche Dokumente der 1960er Jahre an, die zeigen, dass seinerzeit ein großes Bedürfnis bestand (und durch entsprechende Kongresse und die Publikation von Aufsätzen zum Ausdruck gebracht wurde), den Computer auch für die Geisteswissenschaften als wissenschaftliches Werkzeug nutzbar zu machen. Das setzte unter anderem die Überführung von Notentext in Zahlencodes voraus und führte zugleich zur Entwicklung entsprechender Computerprogramme, nicht zuletzt durch Forte selbst. Der letzte Abschnitt der Arbeit betont neben dem technischen Aspekt den institutionellen und geistesgeschichtlichen Hintergrund: Zum einen wird der Einfluss des Neopositivismus der 1960er Jahre, zum anderen die musikpädagogische Funktion des Faches Musiktheorie hervorgehoben. Pitch-class set Theorie enthält klare Regeln, bedient sich einer systematischen Sprache und genau definierter Operationen (nur die Segmentierung bleibt ein Problem). Damit schien sie zum einen den Anspruch der Wissenschaftlichkeit zu erfüllen, zum anderen ließ sie sich gut lehren und erlernen. Dieser Doppelaspekt (wobei Schuijer den letzten Punkt besonders stark macht) scheint hauptverantwortlich für ihren Erfolg.

Nur ein Einwand und ein Wunsch ließen sich im Hinblick auf Schuijers Arbeit formulieren. Erstens wäre zu fragen, ob der pitch-class set Theorie wirklich (wie von Schuijer behauptet) ein Konzept zugrunde liegt, das Schönbergs Idee von entwickelnder Variation entspricht. Denn Schönbergs Vorstellungen zielten ja auf mehr als auf eine bloße Ansammlung von Motiven oder Phrasen, die sich auf eine ›basic cell‹ oder eine Grundgestalt (nicht im dodekaphonischen Sinn verstanden) beziehen. Nimmt man Schönbergs Idee einer ›Variation durch Entwicklung‹ (so die ausführliche Variante des Schlagworts) ernst, so wäre das Moment der Entwicklung viel stärker zu berücksichtigen. In den Analysen (nicht zuletzt in jenen von Forte selbst, z.B. von Schönbergs op. 11,1) wird aber bisweilen lediglich gezeigt, dass ein Stück sich so segmentieren lässt, dass alle Töne auf einige wenige sets zurückführbar sind. Die Entwicklung im Sinne eines Prozesses wird mithin nicht gezeigt. In der genannten Analyse von Forte (und nicht nur hier) ist es völlig gleichgültig, an welcher Stelle welches set auftritt: Hauptsache, es kommt überhaupt mehrfach vor. Demgegenüber lag der Charme von Cooks Analyse von op. 19,6 ja gerade darin, dass Struktur und Form in Beziehung gesetzt wurden (auch wenn das Ergebnis fragwürdig blieb). Die Vermittlung von Oberfläche und Struktur (oder von Vordergrund und Hintergrund) stand aber – zumindest in den Anfangsjahren der pitch-class set Theorie – nicht im Mittelpunkt des Interesses (hierin liegt dann doch eine fundamentale Differenz zu Schenkers Theorie).

Zweitens ist nichts so erfolgreich wie der Erfolg. Das will sagen, dass die Akzeptanz der pitch-class set Theorie vor allem an der Plausibilität der Analyseergebnisse hängt: Hier muss sie sich bewähren. Manche Analysen aber wirken wie Glasperlenspiele, deren Relevanz für das musikalische Werk unbestimmt bleibt, oder sie erscheinen willkürlich, weil die Segmentierung undurchsichtig ist. In manchen Fällen erweist sich die pitch-class set Theorie schlicht als entbehrlich (etwa für Bergs Lied »Schlafend trägt man mich in mein Heimatland« op. 2,2, das Joseph N. Straus in seiner Lehrbuch Introduction to Post-Tonal Theory heranzieht), weil auch eine Analyse, die mit Kategorien traditioneller an der Dur-Moll-Tonalität geschulter Musikanalyse (hier Ganztonakkorde) operiert, zu ähnlichen Ergebnissen gelangt (außerdem kann argumentiert werden, dass dem Beginn des Liedes eine – wenn auch etwas ungewöhnliche – Quintfallsequenz zugrunde liegt, eine Beobachtung, die sich erst dann machen lässt, wenn man das Stück nicht allein mittels pitch-class set Theorie analysiert).

Der Erfolg der Theorie steht und fällt also mit Analysen, die Einsichten eröffnen, die auf andere Weise nicht zu erlangen wären. Schuijer spart diesen Komplex bewusst aus. Wenn er (als vermutlich bester Kenner der pitch-class set Theorie zumindest in Europa) jedoch hierzu Beiträge vorlegen könnte, wäre dies für eine weitere Klärung ihres Status, den Schuijer im Hinblick auf ihre Voraussetzungen in so kompetenter und vorzüglicher Weise geleistet hat, sicher hilfreich.

Anmerkungen

1

Auf diesen Aspekt richtet sich insbesondere Allen Fortes Augenmerk.

2

Vgl. u.a. Christian Möllers, Reihentechnik und musikalische Gestalt bei Arnold Schönberg. Eine Untersuchung zum 3. Streichquartett op. 30, Wiesbaden 1977, sowie Michael Polth, Zur kompositorischen Relevanz der Zwölftontechnik: Studie zu Arnold Schönbergs Drittem Streichquartett, Berlin 1999.

3

Reinhold Brinkmann, Arnold Schönberg: Drei Klavierstücke op. 11: Studien zur frühen Atonalität bei Schönberg, Wiesbaden 1969, 22000.

4

Richard Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Oxford 1996.

5

Pieter C. van den Toorn, Stravinsky and The Rite of Spring: The Beginnings of a Musical Language, Oxford 1987.

6

Vgl. die Tabelle auf S. 30f., aus der hervorgeht, an welchen angelsächsischen Universitäten die pitch-class set Theorie gelehrt wird.

7

Allen Forte, Steven E. Gilbert, Introduction into Schenkerian Analysis, New York 1982.

8

Allen Forte, »Schenker’s Conception of Musical Structure«, Journal of Music Theory 3 (1959), 1–30.

Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.