Editorial
In der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie ist die Popularmusik – trotz der international wachsenden Bedeutung des Forschungsfelds – bislang nur vereinzelt zum Gegenstand analytischer oder theoretischer Auseinandersetzungen gemacht worden.[1] Mit dieser Ausgabe liegt nun zum ersten Mal ein Themenheft vor, das verschiedene musikanalytische und -theoretische Ansätze in der internationalen und deutschsprachigen Popularmusikforschung bündelt. Damit ist auch das Ziel verbunden, die Popularmusik stärker in den mit der Zeitschrift verknüpften musiktheoretischen Diskursen zu verankern. Wir freuen uns sehr, dass wir Ralf von Appen, Professor für Theorie und Geschichte der Popularmusik am Institut für Popularmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, als Mitherausgeber für das Themenheft gewinnen konnten.
Aus der Vielfältigkeit der möglichen Ansätze, die auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Gegenstands (als Live-Performance, produzierte Audioaufnahme, Musikvideo oder massenkulturelles Phänomen) zurückverweisen, kann hier freilich nur eine Auswahl an Perspektiven zur Sprache kommen. So richten die sechs Beiträge zu dem Themenschwerpunkt »Analysen und Theorien populärer Musik« ihren analytischen Fokus unter anderem auf tontechnische, metrische, (mikro-)rhythmische, harmonische, diskursive, kulturelle und performative Aspekte. Insbesondere im Einleitungsgespräch, das die fachlichen und terminologischen Unterschiede zwischen der US-amerikanischen music theory und europäischen musikwissenschaftlichen und -theoretischen Zugängen beleuchtet, geht das Heft dabei auch der Frage nach, wie eine genuine Theorie der Popularmusik aussehen könnte.
Die Jazzforschung haben wir bei der Konzeption dieses Themenhefts ausgeklammert, weil sich der Bereich längst zu einem vielfältigen Diskurs etabliert hat, dem annähernd gerecht zu werden unserer Ansicht nach ein eigenes Themenheft erfordern würde. Da die lingua franca des Forschungsgebiets, dem sich diese Aufgabe der ZGMTH widmet, selbstverständlich Englisch ist, sind deutschsprachige Texte diesmal stark in der Minderheit. Im Interesse der Reichweite haben wir bewusst auch von einer deutschen Übersetzung des einleitenden Gesprächs abgesehen.
Im ersten Artikel des Themenhefts arbeitet Jeremy Tatar (Northfield, Minnesota) ein analytisches Potenzial in der Praxis des Sampling heraus: Anhand von Beispielen von Usher, Slum Village, Disiz und Nas sowie im Fokus auf Aspekte des Metrums und der Phrasierung perspektiviert er sample-basierte Hip-Hop Beats als Resultat eines analytischen Hörens, das wiederum unsere Wahrnehmung der originalen Quellen beeinflussen kann.
Der darauffolgende Beitrag von Jan Herbst und Eric Smialek (Huddersfield) bietet eine Einführung in die Analyse von Klang und seiner Produktion in der populären Musik. In einer Fallstudie zeigen sie, wie das Mixen eines Songs (»In Solitude«) von verschiedenen Musikproduzenten aus dem Metal-Bereich zu unterschiedlichen klanglichen Ergebnissen führen kann und wie sich diese Differenzen der Klangqualitäten analytisch beschreiben lassen.
Christopher Doll (New Brunswick, New Jersey) bereichert in einer produktiven Auseinandersetzung mit Untersuchungen von Nicholas Stoia den Diskurs um »schemas« bzw. »schemes«, indem er in zahlreichen popular songs der 1930er bis 60er Jahre auf gemeinsame Strukturen hinweist, die neben musikalischen auch textliche Aspekte umfassen. Auf diese Weise zeigt er unter anderem, wie die Aspekte der Textstruktur die Wahrnehmung musikalischer Details beeinflussen können und umgekehrt.
Patrick Ainsworth (Southampton) präsentiert die Methodik und Ergebnisse einer systematischen Untersuchung von Microtiming (Swing, back beat delay u.a.) in vierzehn einflussreichen Tracks aus der Frühphase des Funk, die noch ohne Hilfe von click tracks produziert worden sind. Dabei entstand eine Datenbank von über 1000 mikrorhythmischen »Abweichungen«, deren Auswertung bisherige Befunde zum Microtiming im Funk bestätigt, aber auch um neue Einsichten ergänzt.
Bernhard Steinbrecher (Innsbruck) schlägt in seinem Beitrag zur Analyse von Punk-Musik einen »analytische[n] Bezugsrahmen« vor, »dessen Ankerpunkte […] das Spektrum an Möglichkeiten eingrenzen, warum Punk so klingt, wie er klingt.« Vor dem Hintergrund genre-spezifischer Diskurse und Praktiken lenkt er das analytische Augenmerk vor allem auf die musikalischen Dimensionen von Textur, Struktur und Spannungsgehalt (tensity).
Schließlich widmet sich Magdalena Fürnkranz (Wien) performancetheoretischen Ansätzen in der Analyse von Popularmusik. In Auseinandersetzung mit Musikvideoclips, der Live-Performance und den Lyrics zu Taylor Swifts »Look What You Made Me Do« (2017) diskutiert sie die Relevanz von Philip Auslanders Konzept der »Musical Persona«, Erving Goffmans »Rahmenanalyse« und Jens Eders »Uhr der Figur« für die analytische Arbeit mit popmusikalischen Phänomenen.
Der Beitrag von Jakob Bonasera (Karlsruhe) wurde beim 14. Aufsatzwettbewerb der GMTH 2024 mit dem ersten Preis ausgezeichnet und rekonstruiert musiktheoretische Perspektiven auf das (Simultan-)Intervall der verminderten Sexte anhand von Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Abgerundet wird die Ausgabe mit einer Rezension von Markus Roth (Essen) über eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Rekonstruktion einer Messe Jacob Obrechts, wovon lediglich die Stimmbücher von Altus und Bassus erhalten sind.
Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe für ihre Texte und die gute Zusammenarbeit in den letzten Monaten. Ein großer Dank gebührt auch den Gutachterinnen und Gutachtern des Peer-Review-Verfahrens für ihre ausführliche Durchsicht der Texte und ihre wertvollen Hinweise. Wir danken zudem Anne Ewing-Greinecker und Jakob Schermann für das Korrektorat, Werner Eickhoff-Maschitzki für die Vorbereitung der Grafiken sowie Dieter Kleinrath für das Erstellen der PDF-Fassung.
Hans Aerts, Ralf von Appen, Julia Freund
Anmerkungen
Neal 2003/05, Schönberger 2006, Kaiser 2011, Dreyer/Horn 2017, Huschner 2017 und Werner 2018. Vgl. in dem Kontext aber auch den gemeinsamen Kongress der Gesellschaft für Musiktheorie und der Gesellschaft für Popularmusikforschung 2017 in Graz (Utz 2017). |
Literatur
Dreyer, Hubertus / Pascal Horn (2017), »Schnittstellen zwischen performance und Analyse von Popmusik. Performative Produktionsprozesse in Pink Floyds Album Wish You Were Here und Jordan Rudessʼ Coverversion von Genesisʼ Dance on a Volcano«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 14/1, 133–159. https://doi.org/10.31751/888
Huschner, Roland (2017), »Zur produktionsbezogenen Perspektive bei der Analyse von Popmusik«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 14/1, 161–187. https://doi.org/10.31751/900
Kaiser, Ulrich (2011), »Babylonian confusion. Zur Terminologie der Formanalyse von Pop- und Rockmusik«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/1, 43–75. https://doi.org/10.31751/588
Neal, Jocelyn. 2003/05. »Popular Music Analysis in American Music Theory«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 1–2/2/2–3, 173–180. https://doi.org/10.31751/524
Schönberger, Martin (2006), »Populäre Musik als Gegenstand musikalischer Analyse. Billy Joels New York State Of Mind«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 3/1, 107–125. https://doi.org/10.31751/218
Utz, Christian (2017), Populäre Musik und ihre Theorien. Begegnungen – Perspektivwechsel – Transfers. 17. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie und 27. Arbeitstagung der Gesellschaft für Popularmusikforschung Graz 2017 (GMTH Proceedings 2017). https://doi.org/10.31751/p.v.2
Werner, Tobias (2018), »Ein kognitivistischer Ansatz zur Rhythmusanalyse von Popmusik. Rhythmische Dissonanzverhältnisse im Song Around the World der Red Hot Chili Peppers«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 15/2, 193–208. https://doi.org/10.31751/988
1Hochschule für Musik Freiburg [Freiburg University of Music]; 2Universität für Musik und darstellende Kunst Wien [University of Music and Performing Arts Vienna]; 3Universität Hamburg
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