Rohringer, Stefan (2003/05), »Schenkerian Analysis. Symposium und Workshops. Universität der Künste Berlin, 4. Juni 2004; Gutshof Sauen, 5.–7. Juni 2004; Hochschule für Musik und darstellende Kunst Mannheim, 11.–12. Juni 2004«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 1–2/2/2–3, 263–271. https://doi.org/10.31751/534
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/04/2005
zuletzt geändert / last updated: 15/01/2010

Schenkerian Analysis

Symposium und Workshops. Universität der Künste Berlin, 4. Juni 2004; Gutshof Sauen, 5.–7. Juni 2004; Hochschule für Musik und darstellende Kunst Mannheim, 11.–12. Juni 2004

Stefan Rohringer

»Ich halte mich nicht an den Weg. Und der Grund, warum ich mich nicht an den Weg halte, ist, daß die meisten Komponisten sich dafür interessieren herauszufinden, was sie für die richtige Note halten. Das ist wie bei Männern oder Frauen, die heiraten und dann getrost schlafen können; oder wie bei Professoren, die fest angestellt werden und dann einfach einschlafen können. Sie finden das richtige System, das System funktioniert, sie beschäftigen sich mit der richtigen Note, und alles läuft wie geschmiert.«

(Morton Feldman)

Die Veranstaltungen in der Reihe Schenkerian Analysis. Symposium und Workshops waren von der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) initiiert und fanden in Kooperation mit der UdK und der TU Berlin sowie der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim statt. Inhaltlich hatte man sich zu zwei Schwerpunkten entschlossen: Das eröffnende Symposium in Berlin thematisierte das Verhältnis von Schenkerian Analysis und musikalischer Interpretation, die abschließende Veranstaltung in Mannheim versuchte europäische und amerikanische Traditionen der Schenker-Rezeption einander gegenüberzustellen. Die durch Vortrag und Diskussion geprägten Teile wurden, auch in methodischer Hinsicht, flankiert und ergänzt durch einführende Workshops in die Schenkersche Analysetechnik. Dieser zweite Teil der Konzeption wollte dem durchaus kritikwürdigen Sachverhalt entgegenwirken, daß auch siebzig Jahre nach Schenkers Tod in jenem Sprachraum, dem er und wesentliche Voraussetzungen seines Ansatzes entstammen, weiten Teilen der Musiktheorie Grundbegriffe seiner Methode immer noch unbekannt sind, während anderenorts, insbesondere in Nordamerika, Schenkerian Analysis zwischenzeitlich bereits verschiedene Wandlungen erfahren hat und immer noch einen der zentralen musiktheoretischen Ansätze im Umgang mit tonaler Musik bildet. Deswegen lag es denn auch nahe, die Einführungsveranstaltungen zwei überaus prominenten Vertretern der nordamerikanischen Musiktheorie anzuvertrauen: Carl Schachter (New York), sicherlich einer der führenden englischsprachigen Musiktheoretiker überhaupt, dessen musikalische Autorität, das zeigte sich bald, keineswegs auf die Schenkersche Lehre bzw. deren Fortentwicklung begrenzt erschien, und Frank Samarotto (Bloomington, Indiana), Schüler Schachters und einer wesentlich jüngeren Generation von Schenkerians zugehörig, die angesichts der Kritik an der Schenkerian Theory und dem Aufkommen anderer konkurrierender Analyseansätze wie beispielsweise der ›Neoriemannian Theory‹ oder dezidiert historischer Perspektiven sich in einer stark veränderten musiktheoretischen Landschaft zu positionieren versucht. Deutliches Indiz hierfür war nicht zuletzt die ungemein verbindliche Art, mit welcher dem möglichen Argwohn, Schenkerian Analysis sei eine im Wesentlichen durch Dogmatismus und Wertekonservatismus geprägte Erscheinung, von vornherein jeder Boden entzogen wurde. Verschwiegen werden sollte allerdings nicht, daß eine gewisse Kehrseite hiervon war, daß alternative Deutungen anderer Veranstaltungsteilnehmer zwar immer freundlich aufgenommen und zumeist als plausibel goutiert wurden, andererseits aber die ebenfalls denkbare kontroverse Diskussion ausblieb. Dies mag auch auf die mitunter auftretende Sprachbarriere zurückzuführen sein und auf die verständliche Vorsicht, die beide Seiten angesichts dieser ersten Initiative ihrer Art verständlicherweise walten ließen.

Ähnliches zeigte sich auch in den Workshops, die, obwohl im Vorfeld bekannt gemacht worden war, welche Werke eine Besprechung erfahren sollten, und auch die Rekrutierung aktiver Teilnehmer nicht versäumt worden war, immer wieder in den Sog ›lehrerzentrierter Unterrichtsgespräche‹ mit teils deutlich ausgeprägtem Vorlesungscharakter gerieten, sei es, weil die Vorbereitung der ›Aktiven‹ unsicher wirkte, sei es, weil die Dozenten ihre umfangreichen Materialien zum Tragen bringen wollten. So kam es bedauerlicherweise nur bedingt zu dem beabsichtigten Effekt des ›learning by doing‹.

Das Symposium in Berlin eröffnete Carl Schachters Beitrag »The curious incident of the dog in the night-time: the importance of Non-Events«. Fraglos war bereits dieser Auftakt programmatisch gemeint: Schachters Beispiele diverser ›missing elements‹ in Kompositionen von Beethoven, Schubert und Brahms zeigten eine Schenkeranalyse im Zeichen der Schenkerkritik. Nicht ohne Rücksicht auf das ›Implication-Realization-Model‹ Eugene Narmours verwies Schachter auf »the non-fulfillment of musical expectations«. Die Abweichungen und damit verbundenen Effekte wurden jedoch der Schicht des Vordergrundes zugeordnet und derart auf den übergeordneten Hintergrund bezogen, daß der mitunter erhobene Einwand, eine Analyse nach Schenker habe allein den Nachweis des Ursatzes zum Ziel und laufe darin Gefahr, den Rezipienten um die Erfahrung musikalischer Überraschung zu bringen, sich als unbegründet erwies: Erst mit Blick auf den stringenten Hintergrund gewannen die im Vordergrund durchkreuzten Erwartungen überhaupt Profil.

Der damit verbundene Gedanke, daß strukturelle und ästhetische Relevanz keineswegs in eins gesetzt werden dürften, durchzog auch den nachfolgenden Beitrag Frank Samarottos. Unter dem Titel »Effects, alternative analytic solutions, and interpretations« versuchte er Begrifflichkeiten und Kategorien von Analyse einerseits und Interpretation andererseits in Relation zu setzen. Unter anderem veranschaulichte er an einem Lied ohne Worte Mendelssohns (op. 53,2) die Vortragsbezeichnung ›sehr innig‹ im Sinne einer »meaningful activity« als Korrelat der akzentuierten Übergreifbewegung einer Mittelstimme. Nicht zum letzten Mal wurde hier das enorme metaphorische Potential der vermeintlich so formalistischen Objektsprache Schenkers offenbar. Erneut zeigte sich, daß der Unterschied zwischen ›technisch‹ und ›interpretatorisch‹, wie zumeist in musiktheoretischer Terminologie, gradueller Natur ist.[1]

Martin Eybl (Wien) eröffnete eine Reihe von Vorträgen europäischer Kongreßteilnehmer. Er verwies in seinem Beitrag »Die ornamentale Struktur des tonalen Satzes. Ornamentik als Grenzbereich zwischen Analyse und Vortragslehre« auf den bemerkenswerten geschichtlichen Umstand, daß Schenkers »Insistieren auf der ornamentalen Struktur des tonalen Tonsatzes« am Beginn des seriellen Zeitalters stand, »das dem Ornament als vermeintlich überflüssigem Zierrat mißtraute«. Michael Polth (Mannheim) betonte in seinem Beitrag »Ursatz, Funktionalität und Interpretation« die Analogie zwischen dem interpretatorischen Akt des reproduzierenden Künstlers und der Deutungstätigkeit im Rahmen des Analyseverfahrens nach Schenker. Den Umstand, daß die Schichtenlehre Schenkers nur bedingt geeignet sei, einen tonalen Tonsatz normativ zu rubrizieren, wendete er zu dem Argument, man solle »Schenkers Diagramme nicht als Reduktionen oder Abstraktionen, sondern als Anleitungen zum Hören verstehen.«

Den Abschluß des ersten Tages bildeten drei Beiträge aus dem Bereich der deutschen Musikwissenschaft. Hermann Danuser (Berlin) sprach unter der Fragestellung »Triebleben der Klänge?« über Chopins Nocturnes op. 62. Seine Ankündigung, den Aspekt ›musikalischer Logik‹, für den auch der Name Schenkers einstünde, mit der Gedankenfigur eines ›ästhetischen Reizes aus Willkür‹ zu konfrontieren, weckte jedoch, sofern man hierin eine dezidierte Bezugnahme auf das Analyseverfahren Schenkers in Aussicht gestellt sah, falsche Erwartungen. Hartmuth Kinzler (Osnabrück) sah in Chopins E-Dur-Prélude aus op. 28 einen »Abriss der Harmonielehre« und einen Widerspruch zu Schenkers Dogma fallender Urlinien. Auch hier wirkte der Zusammenhang mit Schenkers Theorie eher peripher und verblieb im Rahmen gängiger Kritik. Christian Martin Schmidt (Berlin) schließlich sprach über Formanalyse, Register- und Tempowahl in ausgewählten späten Orgelkompositionen J. S. Bachs, ohne freilich trotz engagierter Inhaltlichkeit einen erkennbaren Bezug zu Schenker aufkommen zu lassen. Alle Vorträge erwiesen sich daher letztlich als ein (wohl unbeabsichtigter) Vorgriff auf das Thema des Mannheimer Symposiums: Die europäische Tradition der Schenker-Rezeption ist, gerade auch in der deutschen Musikwissenschaft, immer noch im wesentlichen durch eine Nicht-Rezeption geprägt. Das Verdikt Dahlhaus‘ und anderer des ›Anachronismus‹ und ›Sektiererischen‹ der Schenkerschen Theorie zeigte seinen überaus langen Schatten, ohne daß dafür, wie Lubomir Spurny (Brno) in Mannheim für Böhmen geltend machen sollte, die Restriktion einer materialistischen Geschichtsphilosophie zu Zeiten des sozialistischen Realismus verantwortlich gemacht werden könnte.

Den Mittelpunkt der nachfolgenden Veranstaltung in Sauen sollte der direkte Vergleich unterschiedlicher Analyseansätze anhand ein und desselben Werkes bilden. Für die Erarbeitung von Mozarts Streichquintett in g-Moll stand freundlicherweise ein studentisches Ensemble aus Berlin zur Verfügung. Als nicht unproblematisch erwies sich allerdings, daß der von Uri Rom (Berlin) vorgestellte stark semantisierende Interpretationsversuch – Rom verstand die Charaktere der einzelnen Sätze des Werkes in ihrer Abfolge als eine breit angelegte Allegorie zu psychologischen Mustern, wie sie im Rahmen einer ›Trauerarbeit‹ gemeinhin veranschlagt werden – überhaupt keinen dezidierten Ansatz auswies, der dem im Anschluß von Schachter und Samarotto dargelegten Versuch in Schenkerian Analysis hätte gewinnbringend gegenübergestellt werden können. Statt dessen wirkte Roms Verquickung von Einzelbeobachtungen ebenso willkürlich wie seine bedeutungsstarken Zuordnungen. Wenn hierdurch der vermeintlichen Hermetik der Schenkerschen Analyse ein ›offenes‹ Pendant gegenübergestellt werden sollte, so geschah dies wenig überzeugend: Der aufgefahrene semantische ›Überbau‹ zog im Sinne einer Top-down-Analyse eine in der Veranstaltung bis dato nicht präsente Zwanghaftigkeit nach sich. Die nachfolgende Diskussion ließ unterschiedliche Positionen deutlich werden. Die Vorbehalte gegenüber Schenker, zumal bei Vertretern der älteren Generation, gewannen häufig nur auf dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte Plausibilität. Möglich, daß hierher das überaus starke Unbehagen an allem rührt, was den Anschein des Dogmatismus, der Überbetonung der Theorie gegenüber dem individuellen Werk oder gar einer durch Theorie verschuldeten Musikferne provozieren könnte. Bei den Nachgeborenen, unter denen die Theorie Schenkers auf deutlich größeres Interesse stößt, zeigte sich, daß sie dieser Haltung nur bis zu einem bestimmten Grade Folge zu leisten bereit waren. Unter der Voraussetzung einer Reflexion der zurückliegenden geschichtlichen Erfahrung erschien ihnen mehrheitlich die zeitweilige Verfolgung eines ›analytischen Dogmas‹ wie desjenigen Schenkers durchaus gewinnbringend, da möglicherweise erst hierdurch statt des bloß Summarischen, als Folge einer Bündelung diverser und möglicherweise sogar divergierender Analyseansätze, eine Zusammenschau von Detail und Ganzem in der Werkbetrachtung ermöglicht werde.

In diese Richtung zielte auch der Beitrag von Bruno Haas (Paris) am Folgetag. Der Kunstwissenschaftler führte ausgehend von Hegels Diktum, ein Detail sei in Bezug auf ›das konkrete Ganze‹ zu beschreiben, solle eine Analyse nicht in unzusammenhängende Merkmale von Einzelheiten zerfallen, seine Idee einer »Theorie der funktionalen Analyse« aus. Haas veranschaulichte seine Thesen zunächst durch einige Beispiele aus dem Bereich der bildenden Kunst und postulierte im Anschluß, daß Schenkers Analyseverfahren das einzige sei, das im Bereich des Musikalischen den Ansprüchen einer ›funktionalen Analyse‹ genüge.

Zuvor hatte Patrick Boenke (Wien) anhand später Klavierstücke von Franz Liszt aufzuzeigen versucht, wie weit der Ansatz reiche, den von Schenker geprägten Begriff der Klangprolongation von dessen grundsätzlicher Idee eines den musikalischen Raum strukturierenden tonikalen Dreiklangs zu trennen und auf einen anderen Materialstand anzuwenden. Die Frage aber, ob der tonikale Dreiklang mit all seinen Implikationen durch den übermäßigen Dreiklang ersetzt werden könne, ohne den Gedanken einer ›funktionalen Analyse‹ preiszugeben, erschien auf dem Hintergrund der Ausführungen von Haas durchaus strittig – dies zumal dann, wenn Liszt, wie in Nuages gris, mehrere übermäßige Dreiklänge in Art von Mixturen aufeinander folgen läßt, wodurch die damit abgegriffenen Töne des chromatischen Totals nur noch schwerlich einem einzigen als strukturell verstandenen übermäßigen Dreiklang subsumiert werden können. (Wie schon zuvor in einer Besprechung Samarottos, in der eine auffällige Tritonusrelation zwischen Beginn und Ende des zentralen Durchführungsabschnittes des Kopfsatzes aus Haydns Sinfonie Nr. 85 hervorstach, die nur sehr verdeckt als ›motion out of an inner voice‹ einer übergeordneten Strukturbewegung zugeordnet werden konnte; und wie ebenfalls im Zusammenhang mit dem Scherzos aus Schuberts Klaviersonate B-Dur, D 960, in dem eine vergleichbare Anordnung zu einer Kleinterz-Achse ergänzt schien, Carl Schachter jedoch vom kontrapunktischen Ansatz Schenkers herkommend die Progression im Rahmen einer konsequenten Gegenbewegung als Teil des ›Anstiegs‹ zu erklären versuchte –, mochte man hier angesichts des den jeweiligen Fortschreitungen zu Grunde liegenden Tonvorrats an ein Desiderat der Schenkerschen Theorie denken: Ein Erklärungsbedarf wurde sichtbar, dem sich spätere harmonische Theorien mittels des sogenannten ›Distanzprinzips‹ zugewendet haben: Dabei wären insbesondere die Ansätze von Lendvai und Simon zu nennen.)

Von einer europäischen Schenker-Rezeption zu sprechen, so wie der Titel des Mannheimer Symposiums verhieß, die diesen Namen auch verdient, bedarf, wie bereits angedeutet, zumindest der Präzisierung, wird doch in einer ohnehin vergleichsweise geringen Anzahl an Publikationen eher der Frage nach der theoriegeschichtlichen Einordnung Schenkers nachgegangen, als daß die Präsentation von eigenständigen Analyseergebnissen gewagt würde.

In diesen Zusammenhang fügte sich der Beitrag Giorgio Sanguinettis (Rom), welcher »The Pedagogy of Composition in Naples during the Settecento« anhand der Studien Vincenzo Lavignas, des späteren Lehrers Verdis, mit Fedele Fenaroli zum Thema hatte. Sanguinetti zeigte anhand diverser Unterrichtsmanuskripte, daß infolge der in der Kontrapunktdidaktik jener Zeit üblichen Lehre der Spezies Lavigna angehalten war, Oberstimmenverläufe im Rahmen einfacher Kadenzmodelle und der Regola del’ottava zu figurieren und diminuieren. Der historische Abriß erinnerte an Schenkers eigene Aussage aus dem Freien Satz, derzufolge ein jeder zum Ursatz gelangen könne, wende er nur »die in Büchern und an Schulen gelehrten bekannten Methoden der Abkürzung weitläufiger Diminutionen« an.

Die damit verbundene Überlegung, daß Schenkers Ansatz eine größere Nähe zur Kompositionsdidaktik des 18. Jahrhunderts aufweise als zur Pädagogik seiner eigenen Zeit, erfuhr durch den Beitrag Ludwig Holtmeiers (Freiburg) eine gewisse Einschränkung. Unter dem Titel »Zur Rolle der Reduktion in der Funktionstheorie« verwies Holtmeier darauf, daß Riemann in seinen frühen Schriften eine von ihm selbst als »harmonisches Gerippe« bezeichnete Reduktion vornahm, welche, von Riemann selbst späterhin fallengelassen, von dessen Schüler Johannes Schreyer zu einem zentralen analytischen Verfahren ausgebaut wurde.

Die auf den ersten Blick verblüffende Schenker-Nähe der von Sanguinetti und Holtmeier beigebrachten Beispiele erwies sich jedoch als trügerisch: Folgt man in einer Analyse Schenkers den unterschiedlichen Schichten vom Vorder- in den Hintergrund, ergibt sich zwar zweifelsohne der Eindruck einer zunehmenden Reduktion, welche als Zurücknahme des Ornamentalen verstanden werden kann. Dieses Moment mag Schenkers Vorgehen mit der Variationstechnik des 18. Jahrhunderts, dem Extrahierungsverfahren Schreyers oder auch vergleichbaren Gedanken anderer Zeitgenossen teilen – so sprach beispielsweise Arnold Schering in den Zwanzigern von einer ›Decolorierung der Melodiekerne‹. Das daran sichtbar werdende Unbehagen an einer als Unkultur empfundenen, weil jeglicher Anschaulichkeit beraubten Harmonielehre und ihrer gängigen Chiffrierung mag ihnen eine gemeinsame Grundlage sein. Jedoch zielt diese Beobachtung nicht auf das Zentrale und in dieser Hinsicht auch Neuartige und Singuläre des Schenkerschen Ansatzes: Die Idee der Schichten gewinnt erst dadurch Relevanz, daß sie – entgegen einem weitverbreiteten Mißverständnis – die Gesamtheit der Töne nicht in solche teilt, die als ›wichtig‹, weil zum strukturellen Gerüst gehörig, und solche, die als ›unwichtig‹ gelten könnten, weil sie ein ›Ornament‹ seien und denn auch zu Recht einer ›Reduktion‹ zu Opfer fallen dürften, sondern sie differenziert zwischen Tönen unterschiedlicher Funktion, die sich an dem Verhältnis mißt, in das jedweder Ton einer Schicht mit jedwedem Ton einer anderen Schicht gesetzt erscheint. Mag das methodische Vorgehen Schenkers auch ornamentaler Praxis entstammen, so zielt es doch letztlich auf etwas anderes als dasjenige, was sich gemeinhin mit dem Begriff ›Reduktion‹ verbindet[2]: Kurz, es geht bei Schenker wohl nicht um ein Weniger oder Mehr an Tönen, sondern um die Frage ihrer Relation. Entlang dem Stollen – bildlich gesprochen –, den das Verfahren Schenkers vom Vordergrund zum Hintergrund (in seinen späteren Analysen in umgekehrter Richtung) in die Gesamtheit der Töne ›gräbt‹, erscheinen die Schichten, eine jede mit der ihr eigenen Bedeutung und erst in ihrer Gesamtheit dazu bestimmt, eine plastische Schau des jeweiligen Werkes zu ermöglichen – alles andere erschiene im doppelten Wortsinn ›flach‹.[3]

Die folgenden drei Referate setzten sich mit unterschiedlichen Aspekten der Schenkerschen Theorie auseinander, die gemeinhin als problematisch gelten. Bernd Redmann (Köln) sprach zum »Motivischen in Schenkers Lehre«. Er demonstrierte anhand einiger Beispiele Beethovens und Schuberts seine These, derzufolge unterschiedliche ›Reharmonisationen‹ diverser ›Kernmotive‹ zu einer Art ›Entwicklungsgenetik‹ führten, in der »aus gleichsam mikroskopischer Substanz (...) in einem Prozeß der Aufschaukelung und häufig lückenlosen Entfaltung die Makrostruktur eines Werkes hervor[ginge]«. Daß Schenkers Interesse an motivischen Prozessen zunehmend erlahmt sei, führte Redmann darauf zurück, daß der axiomatisch postulierte Vorrang der Diatonie in Urlinie und Ursatz chromatische Irritationen nur ungenügend als »Ausgangspunkt und Katalysator« übergeordneter Formprozesse in Blick habe kommen lassen.

Nicolas Meèus (Paris) warf in seinem Beitrag »Schenker’s Fundamental Line(s)« anhand des Plurals in der Titelgebung die Frage nach Ursprung und Hierarchie der verschiedenen Linienzüge im Ursatz auf. Meèus zufolge sei die Baßbrechung »an abstract representation of full harmony«, während Schenkers »fundamental line represents and subsumes a full counterpoint«. Meèus führte in der Folge verschiedene Beispiele von Bach bis Beethoven an, in denen sich, seiner Ansicht nach keineswegs überraschend, zeige, daß eine Urlinie, die als »representation of a multiplicity of lines« zu gelten habe, möglicherweise in Vorder- oder auch Mittelgrund weniger als (manifeste) ›Linie‹ in Erscheinung trete als manch andere, die eine höhere Prominenz für sich beanspruchen dürfe.

Hieran konnte Stefan Rohringer (München) in seinem Referat, das sich mit dem »Problem steigender und unvollständiger Urlinien« auseinandersetzte, anschließen. Im Zentrum stand nicht die Kritik an einem der am stärksten umstrittenen Dogmen der Schenkerschen Theorie, denn Rohringer setzte bereits voraus, daß das Gebot der fallenden und vollständigen Urlinien nur von begrenzter historischer Reichweite sei. Folglich erhebe sich die Frage nach der kompositorischen Intention derartiger ›Abweichungen‹. Rohringers These war, daß, sofern steigende oder unvollständige Urlinien nicht überzeugend als übergreifende Mittelstimmbewegungen ausgewiesen werden könnten, diese in Abgrenzung zu barocken und klassischen Oberstimmenverläufen als Ausdruck eines veränderten ästhetischen Konzepts verstanden werden müßten, eines Konzeptes, mittels dessen insbesondere Komponisten der romantischen Generation, wie Beispiele von Schubert und Chopin demonstrieren sollten, bis dato geltenden Verbindlichkeiten (diastematisch fallender) schlußbildender Dramaturgien sich zu entziehen wünschten. Von ähnlicher Intention war das Referat von Lauri Suurpää (Helsinki) am Folgetag. Suurpää unterschied zwischen »Structure and Design in Chopin’s Mazurka op. 56,3«. Auch hier wurden ›voice leading‹ and ›cadential gestures‹ in Beziehung gesetzt. Allerdings nahm Suurpää insofern eine Gegenposition ein, als seine These eines spannungsvollen Verhältnisses zwischen Hinter- und Vordergrund die Intaktheit der Ursatztonalität in der Tiefenstruktur zur Voraussetzung hatte – jene Struktur, die von Rohringer für diese Art von Musik zuvor bestritten worden war.

Unterschiedliche Umgangsweisen im Zusammenhang mit der Theorie Schenkers und die damit verbundenen Problematiken verdeutlichte dann insbesondere der dritte Workshop, geleitet von Bernhard Haas (Stuttgart), der hier abschließend ausführlicher besprochen sei: Haas’ Konzept bestand darin, eine Schenker-Analyse nicht aus der Lektüre des Notentextes in Verbindung mit flankierenden Hörbeispielen vom Band entstehen zu lassen, sondern – so die Ankündigung – »sich auf den konkreten Klang des Bachschen Präludiums [Gegenstand war das Präludium in C-Dur BWV 939] einzulassen, in einer Weise, die es erlaubt, sich (nicht etwa in Worten sondern) in Tönen am Klavier zu äußern.« Damit schien dieser Ansatz zwei Dingen insbesondere Rechnung tragen zu wollen: zum einen der bekanntlich auffälligsten Veränderung hinsichtlich der Präsentation von Analyseergebnissen innerhalb der Schriften Schenkers, durch welche infolge der immer weiter entwickelten Darstellungsformen der graphischen Analyse der Anteil erklärenden Textes zugunsten der diversen Schaubilder zunehmend verringert wurde, zum anderen dem im Falle Schenkerscher Analysen besonders ins Ohr springenden Umstand, daß die Gelungenheit einer graphischen Analyse sich nicht zuletzt darin zeigt, ob sie beim Spiel für ›schön‹ befunden wird – sofern man gewillt ist, hierin ein Kriterium dafür zu erkennen, ob das analysierte Werk plastisch zur Erscheinung gebracht wird. Beide Aspekte zusammengenommen wären also dazu angetan gewesen, die generelle Nähe zum Klingenden in der Schenkerschen Kunstbetrachtung auch auf der Ebene des methodischen Vorgehens unter Beweis zu stellen.

Möglicherweise führte aber bereits das hohe Interesse, das die Veranstaltung auf sich zog, zu einer konzeptionellen Änderung. Jedenfalls sah sich derjenige getäuscht, der vermutet hatte, unterschiedliche Skizzen graphischer Analysen würden durch ihre Vorführung am Instrument zu einem Abgleich gebracht. Bernhard Haas eröffnete seinen Workshop damit, die Bachsche Komposition diverse Male vorzuführen und das Auditorium nach Einschätzungen, beispielsweise hinsichtlich der Positionierung der Baßbrechung im Stück, zu befragen, um durch ein ›gemeinschaftlich‹ erstelltes Schaubild an der Tafel im Sinne traditionell orientierter Ergebnissicherung verfahren zu können. Dabei zeigte sich sehr schnell, daß seine eigene Hörweise des Stückes, der unbestritten eine lange Zeit der Beschäftigung vorausgegangen war, sich mit der routinierten Art etlicher Anwesender, insbesondere der amerikanischen Gäste, die Komposition graphisch aufzubereiten, nicht vertrug. Dies führte zunächst dazu, daß nun doch überwiegend in Worten und nicht mittels der Töne gestritten wurde. Mehr noch aber blieb die Chance ungenutzt, den in diesem Moment aufbrechenden Widerspruch zwischen der Tendenz einer Formalisierung und Didaktisierung der Schenkerschen Analysetechnik einerseits, in der aber zu einem guten Teil die Voraussetzung für die Fundierung einer als ›wissenschaftlich‹ anerkannten akademischen Disziplin gesehen werden kann, und des bei Schenker selbst häufig ›ungeregelt‹ Erscheinenden andererseits, das einer derartigen Formalisierung entgegensteht, aber als ein künstlerisches Potential dieses Ansatzes verstanden werden kann, zu thematisieren. Jedoch, die Möglichkeit, das Künstlerische nicht anhand der durch Einfühlung gewonnenen Einsicht der ›einen‹, weil ›richtigen‹ Lösung herauszustellen, so wie es Schenker selbst praktizierte, sondern als das in seiner personalen Gebundenheit Individuelle und daher notwendigerweise Diskursfähige zu begreifen, erwies sich spätestens ab da als illusorisch, wo die von Bernhard Haas ausgeteilten eigenen Skizzen den Eindruck eines ›Informationsvorsprunges‹ gegenüber dem Auditorium aufkommen ließen, dem schließlich auch durch wohlmeinende ›Vermittlung‹ nicht mehr abzuhelfen war. Dies war um so tragischer, als die von Bernhard Haas aufgebrachte Behauptung, die Baßbrechung erreiche in der Bachschen Komposition bereits mit dem neunten Takt die strukturelle Dominante, eine Auseinandersetzung über die Frage, was in einer Schenkerschen Analyse als ›gesichert‹ gelten könnte, hätte höchst sinnvoll erscheinen lassen. Denn ohne Zweifel hätte hier von deutungskompetenter Seite auch der Vorwurf eines ›grammatischen Fehlers‹ erhoben werden können, sofern ein tonikaler Sextakkord zu Beginn von Takt dreizehn als Indiz einer erst kurz vor Ende ansetzenden Schlußkadenz ins Feld geführt worden wäre.

Die geschilderte Szene trifft einen besonders empfindlichen Punkt im Umgang mit der Schenkerschen Analyse, der hinsichtlich pädagogischer Fragestellungen von besonderem Interesse ist: Gibt es neben der hier spürbar werdenden Gedankenfigur, Ergebnisse Schenkerscher Analyse seinen letztlich ›evident‹, und ihrer latenten Gegenposition, Theoriebildung und ihre akademische Institutionalisierung gründeten nicht nur auf Transparenz, sondern auch auf berechenbaren Standardisierungen – ›die richtige Note‹ Feldmans –, ein Drittes? Eine These hierzu: Wäre der Umgang mit der Schenkerschen Theorie möglicherweise nicht in besonderem Maße dazu prädestiniert, in Distanz zu einer ›Ideologie der Vermittlung‹ der pädagogischen Maxime Genüge zu tun, die vermeintlichen ›Vermittlungsprobleme‹ als Probleme des Gegenstandes bzw. der auf ihn genommenen Blickwinkel deutlich werden zu lassen?

Für den Workshop von Bernhard Haas gilt wie für die gesamte Veranstaltung: Sofern man ihren Wert nicht nach den Antworten bemißt, die man erhielt, sondern nach den Fragen, die sie aufwarf, nicht nach den Freundlichkeiten, sondern den Divergenzen, reut kein Augenblick, den man in Berlin, Sauen oder Mannheim zugebracht hat.

Anmerkungen

1

Schon vorweggenommen sei, daß Schachter und Samarotto auch in Mannheim mit Beiträgen hervortraten, die sich als konzeptionelle Fortführung der Schenkerschen Ideen verstanden. So beschäftigte sich Carl Schachter in seinem Referat Che Inganno! mit unterschiedlichen Funktionen von »deceptive cadences«, ein Sachverhalt, über den Schenker ebenso wie die meisten seiner Nachfolger nur wenig gearbeitet hat. Frank Samarotto wandte sich in »From Expansion to Plasticity« dem Schenkerschen Ansatz hinsichtlich Rhythmik und Metrik, und damit einem Themenbereich zu, der gerade unter Kritikern gerne als Desiderat der Schenkerschen Theorie gehandelt wird.

2

Gemessen an der oben wiedergegebenen lapidaren Selbstauskunft Schenkers über das, was angeblich in Büchern stünde und an Schulen gelehrt werde, könnte man sich an eine Randbemerkung Bruno Haas’ erinnert fühlen, nach der Schenker möglicherweise über das, was er tat, aus heutiger wissenschaftstheoretischer Sicht im Kern nicht orientiert war.

3

In diesem Zusammenhang könnten ebenso die Berührungspunkte Schenkers mit Ernst Kurth angeführt werden, mit dem Schenker die Kritik der Harmonielehre aus dem Widerspruch des linearen Denkens heraus teilt, ohne daß Kurths Überlegungen in ihrer doch recht allgemein gehaltenen Vorstellung von ›Bewegung‹ etwas von der Idee eines funktionalen Tonsatzes spüren ließen.

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