Kühn, Clemens (2003/05), »Form. Theorie, Analyse, Lehre«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 1–2/2/2–3, 203–205. https://doi.org/10.31751/528
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/04/2005
zuletzt geändert / last updated: 15/01/2010

Form

Theorie, Analyse, Lehre

Clemens Kühn

Gestreng reagierte vor kurzem ein Kollege auf die Frage, an welcher Klaviersonate Beethovens er ›den‹ Sonatensatz erörtern würde: Die gibt es nicht. Natürlich ist die Antwort richtig, weil ›Form‹ in jeder Sonate anders auskomponiert ist. Aber in ihrer Unbedingtheit ist sie auch falsch, weil sie die Schnittmenge von 32 formalen Lösungen leugnet, die sich als Modell und Idee von Sonatensatz abstrahieren lassen; wäre es anders, hätte eine Analyse nichts in Händen, um das Besondere des einzelnen Satzes dingfest zu machen.

Das Problem, zwischen einer abstrakten formalen Theorie und dem konkreten Werk zu vermitteln, stellte sich kaum, solange ›Theorie‹ als vorrangig galt: Die Typisierungen bei Hugo Riemann und Adolf Bernhard Marx waren darauf aus, prinzipiell Grundlegendes von Musik zu fassen. Riemann teilt sein Handbuch der Kompositionslehre (Erstauflage 1889 als Katechismus der Kompositionslehre) in theoretisch »Allgemeines« und praktisch »Angewandtes«. Marx hatte bereits seine Lehre von der musikalischen Komposition (1837–47) in eine »reine« und eine »angewandte« geteilt. Das ›Allgemeine‹ und ›Reine‹ zielt auf »allgemein gültige Gesetze« (Riemann) und ein überzeitliches »Wesen der Kunst« (Marx); das ›Angewandte‹, das sich dem unterzuordnen hatte, bezieht sich auf konkrete Musik. Getreu seiner Überzeugung, der Typus ›A-B-A‹ sei die »Norm« aller »musikalischen Formbildung«, ist so für Riemann jede Fuge dreiteilig (1890), mit tonikalem Anfang, modulierender Mitte, tonikalem Schluß (eine dogmatische Vorgabe, die seine Analysen zu teilweise grotesken Proportionen führt). Marx hatte, gedanklich nicht unähnlich, im Prinzip ›Ruhe-Bewegung-Ruhe‹ das »Grundgesetz aller musikalischen Konstruktion« gesehen; es präge sich aus im Gang der Tonleiter, im Triebhaften eines Motivs, in der Form – in der dreiteiligen Liedform ebenso wie in den drei Teilen des Sonatensatzes –, im Harmonischen (mit der Tonika als Ruhe-, der Dominante als Bewegungsakkord).

All das ist nicht abgetane ›Geschichte‹, sondern wirkt, mehr oder minder ausgeprägt und bewußt, in späterem Denken nach. Normative Vorstellungen haben sich – angetrieben von dem faszinierenden Wunsch, jener Formel habhaft zu werden, die Musik ausmacht und im Innersten zusammenhält – nie verloren. Erwin Ratz geht in seiner Einführung in die musikalische Formenlehre (1951) von der Vorstellung einer ›Urform‹ aus, die analog »der Urpflanze in der Metamorphosenlehre Goethes« allen musikalischen Formen zugrunde liege. Eine Fuge besteht nach Ratz aus drei durch Zwischenspiele verbundene Durchführungen; daß sich Literaturbeispiele dem kaum fügen, ändere nichts an dieser ›Idee der Fuge‹. Und indem Ratz’ Formenlehre ausschließlich Bach und Beethoven aus wechselseitiger Perspektive betrachtet – um nachzuweisen, daß Bachs Inventionen und Beethovens Klaviersonaten auf »gemeinsamen Schaffensgrundlagen« beruhen –, geht es ihm letztlich darum, »Prinzipien zu finden, die allen Formen gemeinsam sind«. Sinnentleert verflacht wird normatives Vorgehen in jenen – bis heute nicht auszurottenden – Unterweisungen, bei denen sich ›Form‹ in dürftigen äußeren Schemata (beim Beispiel Fuge: in ›Schulfugen‹) erschöpft.

Solche Verzerrung wird gewiß dadurch begünstigt, daß sich das Fach ›Formenlehre‹ am deutlichsten dem Konflikt zwischen ›systematischer‹ und ›historischer‹ Unterweisung ausgesetzt sieht. Jedenfalls hat sich Formenlehre erst spät und zögerlich jenem Wandel geöffnet, der Musiktheorie seit den 1970er Jahren auszeichnet: dem Wandel zu geschichtlicher Differenzierung und individueller Analyse. Wolfgang Buddays Grundlagen musikalischer Formen der Wiener Klassik (1983), strikt historisch ausgerichtet, rückte Riepel und Koch in das Bewußtsein, konnte aber, da sozusagen aus zweiter Hand, kein ›Lehrbuch‹ ausprägen. Und wenn ›Formenlehre‹ verschiedentlich zu ›Werkanalyse‹ umgetauft wurde, kann zwar dem sprachlich und historisch Besonderen des Einzelwerkes Genüge getan werden, aber Formen-›Lehre‹ als Disziplin hebt sich weitestgehend auf. Es gibt, soweit zu sehen, keine allgemein praktizierte Lösung dieser Schwierigkeiten: Formenlehre – im Doppelsinn der fertigen ›Form‹ und Prinzipien des ›Formens‹ – sucht irgendwo einen möglichst musiknahen Weg zwischen dem übergeordnet Lehrbaren und dem musikalischen Einzelfall.

Allgemeiner festhalten läßt sich immerhin, welche Lehrbücher und Quellen vorrangig die derzeitige Theorie und Analyse von ›Form‹ leiten. Von einschlägigen Lehrwerken sind bevorzugt jene von Hugo Leichtentritt (1911, 81971) und Richard Stöhr (1911/1933, 21954) im Gebrauch, dazu das Buch von Clemens Kühn (1987, 72004), das bei Formungsprinzipien und -ideen ansetzt. Maßgeblich für die syntaktische Terminologie (›Satz‹, ›Periode‹) wurde die ›funktionelle‹ Formenlehre von Erwin Ratz. Die polaren Grundkräfte des entwickelnd Offenen (›Satz‹) und des abgerundet Geschlossenen (›Periode‹) bestimmten schon frühere, immer noch gebräuchliche Typologien; eine verbindliche Terminologie hat sich allerdings nicht herausgebildet. Wilhelm Fischer (Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils, 1915) unterschied den »Liedtypus« und, für spätbarocke Syntax inzwischen eingebürgert, den »Fortspinnungstypus«, Ernst Kurth die »Fortspinnung« der Polyphonie und die »Gruppierung« der Klassik (Grundlagen des linearen Kontrapunkts, 1916), Friedrich Blumes »Fortspinnung und Entwicklung« (Jb. Peters 36, 1929). Arnold Schönbergs berühmter Aufsatz »Brahms the Progressive« etablierte die Idee »musikalischer Prosa«; wichtig aus seinen Schriften wurden auch die Kategorien »musikalischer Gedanke« und, fundamental für das 20. Jahrhundert, »entwickelnde Variation«.

Selbstverständlich gängige historische Quellen sind Johann Mattheson (Der vollkommene Capellmeister 1739) mit der Vorstellung von Instrumentalmusik als »Klang-Rede«, sowie die bekannten Lehrwerke von Joseph Riepel und Heinrich Christoph Koch, für die ›Form‹ auf metrischen (»Tactordnung«) und harmonischen – nicht: thematischen – Gegebenheiten (»Tonordnung«) beruht.

In dem Maße aber, in dem ›Form‹ als ›Struktur‹ betrachtet und als ›Prozeß‹ (statt als Resultat) verstanden wird, gewinnen neue Sichtweisen an Bedeutung. Die Preisgabe des ›Werk‹-Begriffs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte Karlheinz Stockhausen zu neuen Formbegriffen (»Momentform« u. a.). Einflußreich für Nachweise im »Subthematischen« (Carl Dahlhaus) wurde Rudolf Rétis Ansatz (The Thematic Process in Music 1951). Und die jüngere deutsche Musiktheorie entdeckt derzeit – auch und gerade für Form als ›Vorgang‹ statt als ›Zustand‹ – Heinrich Schenker für sich.

Literatur

Blume, Friedrich (1929), »Fortspinnung und Entwicklung«, Jahrbuch Peters 36.

Budday, Wolfgang (1983), Grundlagen musikalischer Formen der Wiener Klassik, Kassel: Bärenreiter.

Fischer, Wilhelm (1915), »Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils«, Studien zur Musikwissenschaft 3, 24–84.

Koch, Heinrich Christoph (1782–93), Versuch einer Anleitung zur Komposition, 3 Bde., Leipzig, Reprint Hildesheim: Olms, 1964.

Kühn, Clemens (1987), Formenlehre der Musik, Kassel: Bärenreiter, 72004.

Kurth, Ernst (1917), Grundlagen des linearen Kontrapunkts, Bern: Krompholz.

Leichtentritt, Hugo (1911), Musikalische Formenlehre, Leipzig: Breitkopf und Härtel, 81971.

Marx, Adolf Bernhard (1837–47), Lehre von der musikalischen Komposition praktisch-theoretisch, 4 Bde., Leipzig: Breitkopf und Härtel.

Mattheson, Johann (1739), Der vollkommene Capellmeister, Hamburg: Christian Herold.

Ratz, Erwin (1951), Einführung in die musikalische Formenlehre. Über Formprinzipien in den Inventionen und Fugen Johann Sebastian Bachs und ihre Bedeutung für die Kompositionstechnik Beethovens, Wien: Universal Edition, 31973.

Réti, Rudolf (1951), The Thematic Process in Music, New York: Macmillan.

Riemann, Hugo (1889), Katechismus der Kompositionslehre (Musikalische Formenlehre), Leipzig: Hesse.

Riepel, Joseph (1752ff.), Sämtliche Schriften zur Musiktheorie, Bd. 1, Anfangsgründe der musicalischen Setzkunst, Nicht zwar nach alt-mathematischer Einbildungs-Art der Zirkel-Harmonisten, Sondern durchgehends mit sichtbaren Exempeln abgefasset, hg. von Thomas Emmerig, Wien: Böhlau, 1996.

Schenker, Heinrich (1935), Der Freie Satz, Wien: Universal Edition.

Schönberg, Arnold (1950), »Brahms the Progressive«, in: Ders., Style and Idea, hg. von Dika Newlin, New York: Philosophical Library, wieder abgedruckt in: Style and Idea. Selected Writings of Arnold Schönberg, hg. von Leonard Stein, Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1975, 398–441.

Stockhausen, Karlheinz (1963), Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, Köln: DuMont Schauberg.

Stöhr, Richard (1911/1933), Musikalische Formenlehre / Formenlehre der Musik, 21954.

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