Breyer, Knud (2009), »Historische Schichten miteinander ›verflözt‹. Die Übersendung der Klavierstücke opp. 116–119 als passendes Gegengeschenk für Philipp Spittas Aufsatz ›Über Brahms‹«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 6/1, 51–76. https://doi.org/10.31751/423
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 15/02/2009
zuletzt geändert / last updated: 31/01/2010

Historische Schichten miteinander »verflözt«

Die Übersendung der Klavierstücke opp. 116–119 als passendes Gegengeschenk für Philipp Spittas Aufsatz »Über Brahms«

Knud Breyer

Philipp Spittas Aufsatz »Über Brahms« ist von der neueren Brahms-Forschung kaum beachtet worden. Brahms selbst hingegen scheint Spittas Interpretation sehr geschätzt zu haben. Als Dank übersandte er ihm mit den Klavierstücken opp. 116–119 Kompositionen, die Spittas These in idealer Weise ergänzen. Das späte Klavierwerk pointiert das von Spitta konstatierte Prinzip der Aktualisierung historischer Erfahrung durch die Verstärkung des analytischen Zuges. Hier werden verschiedene historische Schichten durch die Überblendung und Gegenüberstellung miteinander in Beziehung gesetzt.

Schlagworte/Keywords: choral fugue; chorale fantasia; Choralfantasie; Choralfuge; Johann Sebastian Bach; Johannes Brahms; Joseph Joachim; Kantionalsatz; motet; Motette; Philipp Spitta; Romanesca

1892 veröffentlichte Philipp Spitta im Rahmen seiner Aufsatzsammlung Zur Musik[1] einen Essay »Über Brahms«[2]. Dieser Beitrag ist von der Brahmsforschung nur ungenügend zur Kenntnis genommen worden. Vielmehr haben sich die von Spitta bemängelten Klischees im Brahmsbild bis heute erhalten. Gegen die ideologische und durch Brahms’ Unterschrift unter das sogenannte ›Manifest gegen die Neudeutschen‹[3] von 1860 durchaus mitverschuldete Verengung auf die Antipodenschaft zur Neudeutschen Schule, die in der Brahmsforschung einen Schwerpunkt auf die von neudeutscher Seite als reaktionär diffamierten Gattungen der Kammermusik sowie die Symphonie nach sich zog, richtet Spitta den Blick auf das Gesamtwerk. Hier betont er insbesondere, dass Brahms’ Komponieren, ungeachtet des Umstands, dass die vier Symphonien in der Tat als schlagender Beweis gegen die neudeutsche Behauptung vom historisch notwendigen Ende der klassischen Gattungen gewertet werden können, viel universalistischer angelegt ist. Brahms auf das Telos eines »zweiten Zeitalters der Symphonie«[4] zu verengen und mit Richard Pohl anzunehmen, die Brahms’sche Muse konzentriere sich insbesondere in der Symphonie[5], greift zu kurz. Diese Perspektive lässt sich bereits durch einen quantitativen Zugriff entkräften. Häufig in Form von Paarbildungen gattungsgleicher Werke, scheint das Brahmssche Werk darauf ausgerichtet zu sein, eine möglichst große Gattungsvielfalt hervorzubringen, wenn nicht gar die Idee eines auf Vollständigkeit ausgerichteten historisch-systematischen Gattungskompendiums zu verfolgen.[6] Aber auch in qualitativer Hinsicht seien, so Spitta, »Lieblingsgattungen […] bei Brahms nicht zu nennen«.[7] Die Beschäftigung mit der Symphonie ist also keinesfalls höher zu bewerten als die Ausführungen in den anderen Gattungen.

Besonders die frühe Rezeption ordnete den jungen Brahms als Romantiker ein, der die »Erbschaft Schumann’s«[8] angetreten habe, und noch 1983 meinte Constantin Floros, einige Zitate als Beleg anführend, im späten Klavierwerk »Schumannsche Modelle und Techniken«[9] erkennen zu können. Spitta hingegen vermag »durchaus nicht zu sagen[,] an welche Meister der jugendliche Komponist sich anschließt«[10], und hält für »das Seltsamste, was man heute noch über Brahms zu hören bekommt, […] daß er ein Nachfolger Schumanns sei«.[11] Insbesondere im Liedwerk, und dort vor allem an Exemplaren, die Texte vergleichbaren Inhalts vertonen, trete die Differenz zwischen Schumann und Brahms am augenfälligsten hervor:

Die Romantik des Schumannschen Liedes findet bei ihm keinen Widerhall. Dem zauberischen Gespinst und Geranke, dem luftig durchbrochenen Wesen Schumannschen Klaviersatzes setzt Brahms eine viel kompaktere Begleitung entgegen. In der Darstellung von Naturstimmungen wird der Unterschied am fühlbarsten. […] Die Wonne Schumanns: das Untertauchen des Menschlich-Persönlichen in das stille Meer pantheistischen Naturgefühls, wird von Brahms nicht geteilt […]. Hier stehen die Menschen mit ihrer Lust und Trauer im Vordergrund, und der Menschen Empfindungen darzustellen, ist seines Liedes erstes Ziel. […] Die […] Lieder hat er nur bescheiden koloriert, dagegen aber fest gezeichnet; durchaus Hauptsache ist die Gesangsmelodie […]. Zu diesem Verhältnis, das man das normalere nennen darf, ohne die jeweilige Berechtigung seiner Umkehrung anzuzweifeln, stimmt die Rolle, welche Brahms der Begleitung zuweist. Auf ihre Elemente hin betrachtet, ist sie viel einfacher als bei Schumann […]. Dies schließt nicht aus, daß sie doch zuweilen sehr kunstvoll sein kann […]. […] mit unerschütterlicher Festigkeit stehen Melodie und Baß als die Grundsäulen der Komposition da. Man kann bei Brahms wieder von einem Generalbaß sprechen.[12]

Mit dem Verweis auf das generalbassmäßige Denken selbst in einer so ›romantischen‹ Gattung wie dem Lied berührt Spitta den zentralen Punkt seiner Brahmsdeutung. Von den Neudeutschen sind die im Brahmsschen Werk zweifellos auffindbaren historistischen Tendenzen gnadenlos polemisch ausgeschlachtet worden. Für Richard Wagner war bereits die von Spitta gerühmte und gegen die selektiven Brahmsbilder angeführte Vielfalt des Werkes nicht nur Zeichen einer künstlerischen Schwäche, Ausdruck einer, wie Friedrich Nietzsche meinte, »Melancholie des Unvermögens [, die] nicht aus der Fülle […] schafft [, sondern lediglich] nach Fülle […] dürstet«[13], sondern mehr noch ästhetischer Zynismus. Unverkennbar auf Brahms gemünzt schreibt Wagner:

Macht Witz, auch ihr Musiker; verkleidet euch und steckt eine Maske vor. […] Ich kenne berühmte Komponisten, die ihr bei Konzert-Maskeraden heute in der Larve des Bänkelsängers (›an allen meinen Leiden‹!), morgen mit der Halleluja-Perücke Händels, ein anderes Mal als jüdischen Czardas-Aufspieler, und dann wieder als grundgediegenen Symphonisten in eine Numero Zehn verkleidet antreffen könnt.[14]

Auch Spitta kann sich bisweilen, vor allem beim Motettenwerk, Nietzsches Eindruck, Brahms sei »ein Meister in der Copie«[15], nicht ganz entziehen. Auch er meint, dass man die

[…] geistlichen Gesänge für Frauenstimmen über lateinische Texte [op. 37, d. Verf.] […] am liebsten als Studien bezeichnen [möchte]. Sie sind zum erstaunen künstlich, nicht ohne Gewaltsamkeit, und haben außerdem nicht allzuviel vom Brahmsschen Wesen an sich. Auch in den frühesten deutschen Motetten [op. 29, d. Verf.] […] zeigt sich noch nicht jener Grad der Gewandtheit, welchen die Schwierigkeit der Aufgabe erheischt.[16]

Und auch in op. 74 erscheint Spitta der Schlusschoral als entliehener Fremdkörper, als »fremder Bestandteil in einem Originalwerk [, der] in der Idee des Kunstwerks selbst nicht begründet«[17] und nur als »Huldigung«[18] an Bach verständlich sei. Für Spitta sind damit die neuralgischen Werke bei Brahms in den Blick genommen, Werke, die in besonderer Weise einem »Geschichts-Dilettantismus« Vorschub leisten, der auf schlichter »Entwicklungstheorie« beruht und Kunst nicht mehr aus »aus dem Augenblicke heraus« sondern »nur beziehungsweise […] mit abschweifenden Blick auf das, was neben oder hinter ihm steht«[19] begreift.

Das Missverständnis, so Spitta, bestehe darin, dass Brahms zwar »das Zusammenfassen aller Formen und Ausdrucksmittel der letzten Jahrhunderte«[20] zu einem wesentlichen Gegenstand seiner kompositorischen Arbeit gemacht habe, hierbei aber gerade nicht, wie Nietzsche und Wagner es ihm vorwarfen, epigonal vorgegangen sei. »Wer die Vorstellung hat, er arbeite nur in den Ideen Haydns, Mozarts, Beethovens weiter, mit gelegentlichen Anleihen bei Sebastian Bach, kennt ihn schlecht«.[21]

Brahms schöpft tief aus dem Born der Vergangenheit. Dennoch kann man nicht sagen, daß in seiner Musik etwas Archaisierendes sei. Dieses könnte nur bedeuten, daß er ihr durch Anwendung alter, uns fremd gewordener Ausdrucksmittel einen äußerlichen Reiz anputze, der poetisierend und stimmungsgebend zu wirken habe. Da dergleichen in der Ton- und Dichtkunst heutzutage wirklich geschieht, so möchte ich mit Nachdruck aussprechen, daß mir die Brahmssche Schaffensart mit dieser realistischen Richtung nicht das Geringste gemein zu haben scheint. Alles, was er von den Alten gelernt hat, ist ihm grundeigen geworden und hat sich in seine höchstpersönliche Tonsprache verflößt.[22]

Im Auge hat Spitta hier vor allem Merkmale, in denen sich dann 50 Jahre später für Arnold Schönberg in seinem gleichnamigen Radioessay »Brahms der Fortschrittliche«[23] manifestierte. Ebenso wie Schönberg im Hinblick auf sein eigenes dodekaphones Komponieren Aspekte bei Brahms als progressiv ansah, die seiner Meinung nach bereits auf die musikalische Prosa, Schönbergs Telos der Musik als »ungebundene Sprache«, hindeuten – stufenreiche Harmonik, Aufhebung des Akzentstufentaktes durch Konfliktrhythmik, rasche motivische Entwicklung von diastematischen Zellen – betrachtet Spitta Brahms mit der Erfahrung eines auf ›Alte Musik‹ spezialisierten Musikhistorikers. Anders als Schönberg, der den ›fortschrittlichen‹ Brahms in einen entwicklungsgeschichtlichen Rahmen stellt und als Teil eines historischen Prozesses begreift, der auf Erweiterung bzw. Auflösung des Korsetts sogenannter klassischer Normen angelegt war, sieht Spitta Brahms’ farbige Harmonik, komplexe Rhythmik und motivische Arbeit als individuelle produktive Anverwandlung historischer Erfahrung, als Neueinkleidung modalen Denkens sowie kontrapunktischer Kombinationskunst.

Spitta ließ Brahms ein Exemplar der Aufsatzsammlung Zur Musik zukommen. Brahms bedankte sich schriftlich am 28. März 1892[24] und entschuldigte sich für seine verspätete Reaktion, beließ es aber zunächst bei dem Brief, den Spitta am 10. April beantwortete. Zeitnah findet keine weitere Korrespondenz statt. Ohnehin waren Spitta und Brahms ungeachtet des vertraulichen Verhältnisses nur sporadisch in Briefkontakt, vor allem, wenn es um fachliche Fragen im Umfeld von Spittas Editionsprojekten im Bereich Alter Musik ging. Hier war Brahms, der bekanntlich ebenso intensive wie systematische historische Studien betrieb[25], ein kompetenter Gesprächspartner. Erst im Dezember 1892 setzt der Briefkontakt wieder ein mit einem Dankesschreiben Spittas für den Erhalt der Fantasien op. 116 und der Intermezzi op. 117 (4.12.), denen Brahms als »schmale Wiederholung [seines] Dankes« ganz offenbar für Spittas Aufsatz vom Jahresanfang die Klavierstücke op. 118 und op. 119 folgen lässt.

1878 hatte eine Indiskretion Joseph Joachims Brahms gegenüber Spitta in eine peinliche Situation gebracht. Joachim berichtete Spitta von Brahms’ Vorhaben, ihm die Zwei Motetten für gemischten Chor a cappella op. 74 zu widmen, was dieser aber inzwischen wieder revidiert hatte, da er meinte, wenn er »dem Musikgelehrten und Bachbiographen Motetten […] widme […], so sieht es aus, als ob er, [Brahms, d. Verf.] Besonderes, Mustergültiges in dem Genre machen zu können glaubte usw. usw.«[26] Er wollte mit der Widmungswahl, die dann letztlich doch auf op. 74 fiel, eigentlich lieber warten, bis er »etwas passendes«[27] gefunden habe. Überträgt man diese Situation auf das Jahr 1892, fällt die als Dank für den Brahms-Essay reichlich verspätete Sendung der Klavierstücke auf. Zeitnah zum Dankesschreiben hätte Brahms Spitta im März auch mit den gerade druckfrischen Werken op. 114 bzw. op. 115, also dem Klarinettentrio bzw. dem Klarinettenquintett, eine Freude machen können. »Passender« fand Brahms aber offenbar die vier Sammlungen Klavierstücke. Da Spitta nach eigenen Angaben nur stümperhaft Klavier spielen konnte[28], dürfte es Brahms bei dem Geschenk nicht darum gegangen sein, die musikalische Freizeitgestaltung im Hause Spitta zu bereichern, was bei Kompositionen dieses Genres ansonsten nahe liegt.[29] Vielmehr ist davon auszugehen, dass Brahms der Meinung war, die Klavierstücke seien auf eine viel subtilere Weise als die beiden Motetten op. 74 geeignet, Spittas intellektuelles Interesse anzusprechen. Spitta schreibt dann auch:

Unausgesetzt beschäftigen mich die Clavierstücke, die von allem, was Sie für Clavier geschrieben haben, so sehr verschieden sind und vielleicht das Gehaltreichste und Tiefsinnigste, was ich in einer Instrumentalform von Ihnen kenne. Sie sind recht zum langsamen Aufsaugen in der Stille und Einsamkeit, nicht nur zum Nach-, sondern auch zum Vordenken und ich glaube Sie recht zu verstehen, wenn ich meine, daß Sie derartiges mit dem ›Intermezzo‹ haben aussagen wollen. ›Zwischenstücke‹ haben Voraussetzungen und Folgen, die in diesem Falle ein jeder Spieler und Hörer sich selbst zu machen hat.[30]

Und in Bezug auf die mit der gleichen Sendung mitgeschickten 55 Übungen meint er:

Wir Historiker glauben nun einmal, daß nichts vom Himmel fällt, aber wo diese Claviertechnik einhakt, kann ich doch nicht finden. Ich habe die Claviersonaten wieder durchgelesen, darin begegnet mir spätbeethovenscher Claviersatz, Weber’scher, in der fis-moll-Sonate auch wohl Lisztscher, Schumann’scher gar nicht, und auch die anderen Verwandtschaften scheinen mir nur vorübergehend, ich könnte die Takte aufweisen. Auf die eigentliche Quelle, auf die Hauptanregung komme ich nicht. Jetzt lachen Sie und denken: Geschieht ihm recht, warum ist er so neugierig.[31]

Brahms dürfte es in der Tat amüsiert haben, dass sein Doppelgeschenk wie geplant Spittas wissenschaftliche Neugier und Lust am Aufspüren historischer Bezüge geweckt hatte, des Rätsels Lösung aber noch ausstand, obwohl Spitta sie eigentlich bereits ganz buchstäblich in den Händen hielt. Sowohl mit seiner Reflexion über den Intermezzobegriff in Bezug auf die Klavierstücke als auch mit der Vermutung, die Etüden seien als Spielbände für satztechnische Bezugspunkte bei den Klaviersonaten anzusehen, war Spitta zwar auf die richtige Fährte gekommen, hatte aber das missing link, das ihm die »Hauptanregung« der Klavierstücke offenbart hätte, noch nicht entdeckt: es ist seine eigene Kernthese aus dem Aufsatz »Über Brahms«.

Denn mit dem späten Klavierwerk hatte Brahms wirkliche »Zwischenstücke« komponiert, Stücke, die »Voraussetzungen und Folgen haben« und aufs »Gehaltreichste und Tiefsinnigste«, nämlich auf einem gänzlich neuen Niveau, Spittas zentralen Befund bestätigen, Brahms schöpfe »tief aus dem Born der Vergangenheit«, wobei »alles, was er von den Alten gelernt hat, ihm grundeigen geworden« sei und sich »in seine höchstpersönliche Tonsprache verflößt« habe. Hatte Brahms etwa im Motettenwerk Musikgeschichte in genuinen Eigenkompositionen gleichsam nacherzählt – was, wie Spitta zu recht bemerkte, mitunter »künstlich, nicht ohne Gewaltsamkeit« wirkt –, erreicht er im späten Klavierwerk das Ziel, historische Gattungsstationen mit modernen Mitteln zu rekapitulieren, auf eine wesentlich subtilere Weise. Hier ist die historische Vergegenwärtigung nicht nur als »höchstpersönliche« und damit durch die Brille des 19. Jahrhunderts geschaute Adaption des Alten in Eins-zu-eins-Beziehungen realisiert, sondern als ein Vexierspiel angelegt, das Elemente unterschiedlicher historischer Provenienz zusammenstellt. Während dem Betrachter bzw. Hörer der Motetten deren Bezugspunkt unmittelbar Augen steht, da es sich bei ihnen um Aktualisierungen des Palestrinastils (Drei geistliche Chöre für Frauenchor op. 37), der Choralmotetten- (Zwei Motetten für fünfstimmigen gemischten Chor op. 29) oder Choralpartitentradition (op. 74 Nr. 2) handelt, ist in den Klavierstücken das Verhältnis zwischen den historischen »Voraussetzungen« und deren kompositorischen »Folgen« ungleich komplexer: Das Aufspüren der verschiedenen, sich bisweilen gegenseitig neutralisierenden historischen Schichten verlangt einen beständigen Perspektivenwechsel.

Am einfachsten ist die historische ›Intermezzobildung‹ beispielsweise in den Intermezzi op. 117 Nr. 2 und op. 116 Nr. 3 ausgeführt. Sie kommt dem in den Motetten erprobten Verfahren der historischen Nacherzählung am nächsten, ist aber bereits mit einer qualitativen Neuausrichtung verbunden. Diese Intermezzi rekurrieren auf Aspekte aus anderen Gattungen der Klaviermusik, gießen diese aber in die Gestalt dreiteiliger lyrischer Klavierstücke zeitgenössischen romantischen Zuschnitts. Das Verhältnis zwischen Haupt- und Mittelteil beim Intermezzo op. 116 Nr. 3 ist, abgesehen von der kontrastierenden Ableitung hinsichtlich der Motivik[32], durch einen Wechsel von Satztechnik und Charakter bestimmt. Nach dem Allegro passionato in durchgehender Forte-Dynamik des Hauptteils ist der Mittelteil tempomäßig (zum einen durch die Anweisung un poco meno Allegro, zum anderen durch die längeren Notenwerte) und vor allem dynamisch (überwiegend piano) zurückgenommen. Satztechnisch beruht er teils auf realer Kanonbildung, teils auf freierer kontrapunktischer Imitation. Hierbei sorgt sowohl die kontrapunktische Gegenüberstellung zweier eng miteinander verwandter Themen als auch deren permanente variative Veränderung und Neukombination (insbesondere im Sinne kontrapunktischer Verarbeitung als Umkehrungs-, Krebs- und Krebsumkehrungsbildung) für eine hochkomplexe Polyphonie auf der Basis einfachster motivischer Substanz. Zwar beginnt auch der Hauptteil polyphon, wobei die kontrapunktischen Mittel des Stimmtausches (vgl. T. 2 versus T. 6) und der Augmentation (vgl. T. 13 und T. 29ff. versus T. 1) prominent zur Anwendung kommen, dies betrifft aber nur die Stollen der beiden barförmigen Formabschnitte Takt 1ff. und Takt 13ff. Die aus Takt 1 abgeleiteten Abgesänge Takt 9ff. und Takt 21ff. hingegen sind homophon. Sie bestehen ausschließlich aus parallel geführten Akkordbrechungen in auf- und absteigender Richtung, die dann sequenziert werden. In Verbindung mit dem motorischen Gestus der nachschlagenden Achtelbewegung in den Stollen verleihen insbesondere sie dem Hauptteil eine toccatenhafte Prägung. Diesem ›Präludium‹ folgt dann der Mittelteil mit seinem kontrapunktischen Repertoire wie ein Fugenstellvertreter. Die Rekapitulation, also das ›Postludium‹, wiederholt den Hauptteil, mit dem Unterschied, dass die ›Toccatenabschnitte‹ nun teilweise in Gegenbewegung ausgeführt werden.

Der Allusion auf Präludium und Fuge in op. 116 Nr. 3 lässt sich op. 117 Nr. 2 spiegelbildlich zur Seite stellen. Hier nun ist das satztechnische Verhältnis zwischen Haupt- und Mittelteil genau umgekehrt. In op. 117 Nr. 2 ist der kurze und nicht eigens gegenüber dem Hauptteil abgegrenzte, sondern aus ihm hervorgehende Mittelteil (T. 39–51) lockerer gefügt als der Hauptteil. Er besteht aber wiederum aus Akkordbrechungen mit sukzessiv wechselnder Bewegungsrichtung, die sich als freie Fortführung aus dem Themenkopf des Anfangs ergeben. Und auch der Hauptteil besteht wieder, wie der Mittelteil von op. 116 Nr. 3, aus zwei motivisch verwandten Motivbeständen, die hier aber nicht simultan durchgeführt, sondern auf unterschiedliche Formabschnitte verteilt werden. Der Formabschnitt Takt 23ff., harmonisch auf der Parallele Des-Dur der Tonika b-Moll angesiedelt, beruht motivisch auf einer augmentierten Variante des Anfangsthemas. Diese ist kompakter gesetzt als das Anfangsthema, weil das vormals sukzessive Wechselspiel zwischen rechter und linker Hand nun simultan erfolgt. Ferner ist die Melodiestimme mit Nebennoten versehen und der Satz durch hinzugefügte chromatische Mittelstimmen angereichert. An die Stelle der pausendurchsetzten kleinteiligen Phrasen tritt ein verbreiterter Punktierungsrhythmus, der an einen Ländler denken lässt und der Variante den Charakter eines elegischen Seitenthemas verleiht. In der Rekapitulation Takt 52ff. ändert sich das harmonische Dispositionsschema des Hauptteils, indem nun das ›Seitenthema‹ in B-Dur, also der nach Dur gewendeten Tonika erscheint (T. 73ff.). Allerdings wird das ›Seitenthema‹ nun erneut variiert und im Rahmen einer Zurücknahme des Tempos (più Adagio) zu einer Coda umgedeutet, die auf der Basis eines Orgelpunkts den Themenkopf und eine Reminiszenz an die Akkordbrechungen des Mittelteils einander gegenüberstellt. Wir haben also einen festgefügten Rahmenteil und einen locker gefügten Mittelteil, im Hauptteil eine charakterliche Gegenüberstellung zweier Themen im kontrastierenden Ableitungsverhältnis, ein dialektisches harmonisches Dispositionsschema mit einem harmonischen Gegensatz im Parallelverhältnis bei einem Mollstück und schließlich die Auflösung dieses harmonischen Spannungsverhältnisses in der Rekapitulation. Stellt man diese Befunde in einen Zusammenhang, lässt sich op. 117 Nr. 2 als ein in die Form eines lyrischen Klavierstücks gebrachter, in seinen Proportionen verschobener Sonatenhauptsatz verstehen, dessen Hauptteil Expositionscharakter hat, dessen Mittelteil als stark komprimierter Durchführungsstellvertreter fungiert und dessen Rekapitulationsteil Reprise und Coda vereint.

Subtiler erfolgt die historische Reflexion in der Romanze op. 118 Nr. 5. Der Titel des Stücks, einem der wenige Beispiele im späten Klavierwerk, bei dem Brahms von den neutralen Bezeichnungen ›Capriccio‹ oder ›Intermezzo‹ zugunsten eines herkömmlichen Genrenamens absieht, scheint auf den ersten Blick unpassend. Denn nur der Hauptteil des Stückes bedient jenen sentimentalischen Charakter, den man – historisch herkommend von der ursprünglich spanischen literarischen Gattung volkstümlich erzählender Strophenlieder – mit der Genrebezeichnung ›Romanze‹ verbindet. Der Mittelteil hingegen ist als strenge Variationenfolge über einem beibehaltenen Bassmodell gehalten. Der Variationsmodus dieser Figuralvariation ist die zunehmende rhythmische Beschleunigung (T. 17–24: Achtelrhythmus; T. 25–23: Achteltriolenrhythmus; T. 33–36: Sechszehntelrhythmus; T. 37–39: Sechzehntelvorschläge; T. 45–46: Sechzehnteldeziole), wobei ab Takt 41 nur noch der letzte Thementakt Gegenstand des Variationsgeschehens ist. Hinzu kommt, dass Haupt- und Mittelteil über die gemeinsame Wechselnotenmotivik kontrastierend voneinander abgeleitet sind und auch der Hauptteil als Variationenfolge gestaltet ist. Letzteres fällt allerdings nicht so unmittelbar ins Auge wie beim Mittelteil, da die formale Anlage nicht kettenförmig ist (A = T. 1–4, B = T. 5–8, A' = T. 9–12, B' = T. 13–16) und die in den beibehaltenen Satz integrierten Variationsprinzipien Kolorierung (Mittelstimme T. 5ff. und Bass T. 9ff.) und Lagenwechsel (Oberoktavierung der Mittelstimmenmelodie T. 1ff. in T. 9ff.) weniger ostentativ wirken.

Ursprünglich hatte Brahms auch op. 118 Nr. 5 neutral ›Intermezzo‹ nennen wollen und erst in der Stichvorlage den Titel zugunsten ›Romanze‹ geändert.[33] Dieser Gesinnungswandel erfolgte offenbar weder aus Verlegenheit noch bedeutete er eine herkömmliche Genrezuweisung. Vielmehr ist er als Fingerzeig auf eine historische Anspielung zu verstehen, mit der Brahms »tief aus dem Born der Vergangenheit« schöpft. Die vier Variationsabschnitte des Hauptteils nehmen, wenngleich nur angedeutet, auf das Progressionsmodell der Romanesca Bezug.

Abbildung

Beispiel 1: Johannes Brahms, Romanze F-Dur op. 118 Nr. 5, T. 1–3 und Romanesca-Modell

Wie für die Romanesca charakteristisch – auf eine historische Differenzierung kann an dieser Stelle verzichtet werden, zumal Brahms’ diesbezüglicher Kenntnisstand noch nicht näher untersucht ist – findet sich auch in op. 118 Nr. 5 ein Gerüstsatz, bei dem erstens eine im Quartraum diatonisch absteigende Oberstimme (f2-e2-d2-c2) durch eine Bassformel kontrapunktiert wird, die aus dem Modul eines Quartfalls eine Terzfallsequenz (F statt f-c-d-a) formt und zweitens der Abschluss des Modells harmonisch in einer untermediantischen Relation zum Anfang erfolgt (von F-Dur in T. 1 nach d-Moll in T. 3). Abweichend vom Modell ist bei Brahms Takt 2 keine Wiederholung von Takt 1 auf gleicher Stufe, sondern eine Transposition in die Unterquinte, welche folglich bereits harmonisch zielführend ist, so dass das angefügte Endglied Takt 3 lediglich noch harmonisch bestätigende Funktion hat. Ihm folgt eine plagale Terzenkette I-III-V, die man ganz allgemein als Allusion an modale Klangverbindungen hören könnte. Die Verbindung von Tanzcharakter und Variationsgeschehen, aber auch die kontrapunktischen Figuren – 5-6 über der Penultima des Sekundstiegs und 4-3 über der Penultima des Quartfalls – kongruieren mit der ›Romanesca-Sphäre‹. Die im Verlauf des Formteils zunehmend expressivere Harmonik wie auch der introvertierte Charakter (Andante espressivo) deuten hingegen eher auf das Genre der Romanze hin. Noch pointierter lässt sich die auf Arbeitsteilung beruhende historische Intermezzo-Bildung bei op. 118 Nr. 5 am chiastischen Verhältnis zwischen Haupt- und Mittelteil verdeutlichen. Während der Hauptteil nicht zuletzt durch das Bassmodell auf die Tradition der Ostinatovariation verweist, ist es im Mittelteil umgekehrt die abschnittweise rhythmisch variierte Oberstimme. Dem dazu gesetzten bordunartigen Bass hingegen fehlt jede tanzbassartige Charakteristik. Angezeigt durch die Titelgebung und über die Spielbande des Mittelteils schlägt der Hauptteil von op. 118 Nr. 5 also einen historischen Bogen von der Romanesca zur Romanze.

Als Variationenfolgen sind auch die Intermezzi op. 118 Nr. 2 und op. 119 Nr. 2 gestaltet, in ihnen wird aber bereits eine zweite Verfahrensweise der historischen Reflexion sichtbar. Das Intermezzo op. 119 Nr. 2 hebt zunächst wieder wie eine historische Nacherzählung an. Es weist zu Beginn ein zweitaktiges ostinatotaugliches und vom Charakter her chaconneähnliches Modell auf. Dieses umfasst gleichermaßen beide um zwei Sechzehntel gegeneinander verschobenen Hände. Der Bass markiert die Grundtöne der Kadenzhauptstufen I-IV-V-I-V, das Oberstimmenmodell weist die diastematische Folge h1-c2-g1-h1-a1-fis1-h1-dis2-h1 auf. Bei der Wiederholung wird das Modell frei variativ erweitert und insofern flexibilisiert. Auch lockert sich im Verlauf des Hauptteils die Bindung an das Bassmodell, während das Oberstimmenmodell als bestimmende Bezugsgröße erhalten bleibt und abschnittweise rhythmisch-metrischen Veränderungen unterworfen wird. Durchlaufen werden die rhythmischen Stationen zwei Sechzehntel + Achtel (T. 1–12), triolische Achtel (T. 13–17), gegen die Takteins verschobene, mit Sechzehntelpausen durchsetzte Sechzehntel (T. 18–22) und Achtel (T. 29–34). Der Mittelteil knüpft einerseits an den Hauptteil an, insofern er den bisherigen rhythmischen Varianten des Oberstimmenmodells eine weitere hinzufügt, die durch die Augmentation des Modells und die Beseitigung der Tonrepetitionen gekennzeichnet ist. Der Oberstimmenrhythmus besteht aus der Folge auftaktige Viertel + punktierte Viertel + Achtel + Viertel. Andererseits verzichtet die Mittelteilvariante völlig auf das bisherige Bassmodell und ersetzt es durch ein neues mit der rhythmischen Struktur vier Achtel (als aufsteigende Dreiklangsbrechung) + Viertel. Dieser Rhythmus wird im weiteren Verlauf des Mittelteils nicht mehr verändert. Der Mittelteil selbst ist also als Ganzes eine einzige Variation innerhalb der Folge, die dann in der Rekapitulation vergleichbar dem Hauptteil fortgesetzt wird. Der Stillstand des Variationsgeschehens im Mittelteil wird verständlich, wenn man als Idee dieses Intermezzos die Gegenüberstellung zweier historisch weit auseinanderliegender Tanzgattungen annimmt. Während Hauptteil und Rekapitulation auf die Chaconne anspielen, also eine Tanzgattung, die durch das Prinzip der Ostinatovariation geprägt ist, verweisen Taktart (3/4-Takt), Rhythmus (Betonung der Takteins) und Charakter des Mittelteils (Andantino grazioso statt des Andantino un poco agitato des Hauptteils) auf einen Ländler, also einen Tanz, der sich dezidiert durch Entwicklungslosigkeit auszeichnet und auf der permanenten Wiederholung eines beibehaltenen Taktschemas beruht.

Stärker noch zeigt sich der analytische Impetus bei einer anderen und weniger offenkundigen historischen Gegenüberstellung. Es handelt sich um das Capriccio op. 76 Nr. 5, das pars proto vor Augen führt, dass die Idee der historischen Intermezzobildung nicht auf die späten Sammlungen beschränkt ist, sondern bereits die Klavierstücke seit Ende der 1870er Jahre prägt und somit Brahms’ Ansatzpunkt im späten Klavierwerk insgesamt bildet. Bei op. 76 Nr. 5 handelt es sich erneut um eine Variationenfolge mit einem Thema, das, wie in op. 119 Nr. 2, eine in sich geschlossene, ostinatohaft wirkende Bassformel aufweist, die aufgrund der großintervalligen Sprünge vielleicht am ehesten an das Passamezzo-Modell erinnert. Der ostinatohafte Bass markiert im viertaktigen Themenvorderatz die beiden Taktschwerpunkte des 6/8-Taktes mit unteroktavverstärkten Bassschlägen. Die Oberstimme hierzu führt ein metrisches Eigenleben, indem ihre Textur – durchlaufende Viertel – einen Dreivierteltakt suggeriert. Diese Trennung in voneinander unabhängig agierende Oberstimmen- und Bassschicht setzt sich aber noch auf einer anderen Ebene fort und führt zu einer formalen Zweiteilung des Stückes mit der Grenze in Takt 69, die äußerlich durch die Wiederkehr des Tempo I angezeigt wird. Erst in der dort beginnenden zweiten Formhälfte wählt Brahms eine dem Charakter des Basses korrespondierende Variationsart. Wie bei einer Ostinatovariation zu erwarten, wird hier die Oberstimme rhythmisch-metrisch verändert.

Der erste Formteil von op. 76 Nr. 5 hingegen folgt, abgesehen vom abschließenden episodenhaften Abschnitt Takt 61ff., wo der rhythmisch gerade Themennachsatz (punktierte Achtel + Sechzehntelpause + zwei Viertel) zu einem Punktierungsrhythmus mit Ländlercharakter umgeprägt wird, einem ganz anderen Variationsmodell. Es ist das Prinzip der für Brahms an sich so bedeutsamen, im späten Klavierwerk ansonsten aber weitgehend ausgesparten und deshalb hier umso mehr ins Auge fallenden ›entwickelnden Variation‹, also des Verfahrens, aus einem Motivkern vor allem mittels diastematischer, insbesondere kontrapunktischer Transformation motivische Entwicklung hervorzutreiben. Bei op. 76 Nr. 5 bildet den Ausgangspunkt der Entwicklung eine dreitönige Konstellation, die in Takt 1 diatonisch aufsteigt (cis1-dis1-e1) und bereits im achttaktigen Thema in sieben verschiedenen Varianten auftritt.

Abbildung

Beispiel 2: Johannes Brahms, Capriccio cis-Moll op. 76 Nr. 5, T. 1–18, vereinfachte Darstellung

In Takt 2 ändert sich bei beibehaltener Bewegungsrichtung die Diastematik durch Intervallstauchung und -streckung. Aus der Folge Ganzton- und Halbtonschritt wird die Folge Halbtonschritt und Terzsprung (eis1-fis1-a1). Takt 3 bringt eine weitere Intervallweitung sowie durch eine Vertauschung der Elemente eine Bewegungsrichtungsänderung (gis1-cis2-fisis1). In Takt 4 ist gegenüber Takt 3 der Abwärtssprung von der verminderten Quinte zur großen Sexte vergrößert (gis1-cis2-e1). Takt 5 ist der Krebs von Takt 1 (gis1-fis1-e1), Takt 6 die Wiederholung von Takt 5. Takt 7 staucht einerseits Takt 3 und 4 horizontal, ist andererseits aber eine Permutation von Takt 1: Aus der Folge cis1-dis1-e1 wird dis1-e1-cis1. Takt 8 schließlich bezieht sich permutativ dergestalt auf Takt 3, dass sich eine Teilumkehrungsrelation ergibt. Aus gis1-cis2-fisis1 wird dis1-a-gis. Element 1 und 2 von Takt 8 bilden den Quartsprung von Takt 3 in Umkehrung und Element 2 und 3 von Takt 8 stehen wie Element 1 und 3 in Takt 3 im Halbtonschrittverhältnis zueinander.

Im weiteren Verlauf kommt es zu weiteren intervallischen Varianten des Themas sowie abschnittweise zu einer separaten entwickelnd variativen Verarbeitung von Themenvorder- und Nachsatz. Dem Thema von op. 76 Nr. 5 ist also – um auf Spitta zurückzukommen – strukturell eine doppelte historische Perspektive immanent, die Brahms in den beiden Formteilen separat vor- und nachdenkend entfaltet. Der modernen Variationstechnik der entwickelnden Variation folgt als historischer Rückblick die archaische der Figuralvariation über einem ostinaten Bassmodell.

Auch in das Intermezzo op. 118 Nr. 2, eine eher kaschierte Variationenfolge, ist ein historischer Perspektivenwechsel zwischen Haupt- und Mittelteil einkomponiert, allerdings kommt hier gegenüber den bisherigen Beispielen op. 119 Nr. 2, op. 118 Nr. 5 und op. 76 Nr. 5 eine neue Anspielungsebene zum Tragen. Zunächst einmal geht in op. 118 Nr. 2 der Mittelteil motivisch unmittelbar aus dem Hauptteil hervor, wobei es nicht nur zu einer harmonischen Neuorientierung vom A-Dur des Hauptteils in die Paralleltonart fis-Moll, sondern auch zu einem grundsätzlichen Wechsel der Satztechnik kommt. Dem Themenvordersatz als Ausklang des Hauptteils (più lento nach rit.) in Takt 47–48 folgt in Takt 49 als Mittelteilbeginn der rhythmisch leicht variierte und mit Nebennoten verzierte Themennachsatz, jedoch nicht mehr homophon gesetzt, wie im Hauptteil, sondern als Kanon. In Takt 57ff. erfolgt die nächste satztechnische Variante. Hier wandelt sich die Setzweise von polyphoner Imitation zu homorhythmischer Akkordik. Diese kantionalsatzartige Behandlung des Themennachsatzes ist gewissermaßen das hermeneutische Einfallstor in eine neue Ebene der historischen Bezugnahme: die des Zitats. Die choralhafte Textur wird vielleicht gerade Spitta aufhorchen lassen haben, denn durch sie lässt die Diastematik des nun nach Dur gewendeten Mittelteilthemas für wenige Takte den Themenkopf des Chorals Wenn ich einmal soll scheiden aus Bachs Matthäus-Passion aufleuchten.

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Beispiel 3.1: Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion BWV 244, Choral Wenn ich einmal soll scheiden, T. 1–4

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Beispiel 3.2: Johannes Brahms, Intermezzo A-Dur op. 118 Nr. 2, T. 58f.

Ab Takt 65 wird zur imitativen Setzweise zurückgekehrt, so dass es im Mittelteil von op. 118 Nr. 2 zu einer geschlossenen formalen Dreiteiligkeit kommt, mit dem ›Choral‹ inmitten zweier polyphoner Rahmenteile, die somit die Funktion von Prä- und Postludium erfüllen.

Auf eine ganz andere historische Ebene als der Mittelteil mit seiner Allusion auf das barocke Versett, bei dem die Choralmelodie im Wechsel ›instrumental‹ und ›vokal‹ durchgeführt wird, hebt der Hauptteil von op. 118 Nr. 2 ab. Auch er ist formal geschlossen, da die Takte 30ff. als interne Rekapitulation zu verstehen sind. Weil die nur locker gefügte und stark verkürzte Themenvariante Takt 25–27 eher die Funktion eines chromatisch zur Rekapitulation zurückleitenden Scharniers statt eines Mittelteils erfüllt, ist der Hauptteil als zweiteilige Liedform angelegt. Die paarweise zusammengehörigen Variationen im Hauptteil wiederum sind so aufeinander abgestimmt, dass die beiden Hauptteilhälften jeweils eine Barform ergeben. Die Abgesänge sind von den Stollen harmonisch abgesetzt, indem sie in der Gegenklangtonart (erste Formteilhälfte, T. 17ff.) bzw. in der Tonikaparallele (zweite Formteilhälfte, T. 39ff.) angesiedelt sind, motivisch hingegen leiten sie sich direkt aus den Stollen ab. Während die beiden viertaktigen Themenvarianten, die jeweils die Abgesangshälften bilden, im aufsteigenden Sequenzierungsverhältnis zueinander stehen, sind die beiden Themenformen in den Stollen so angelegt, dass sie zusammengenommen eine achttaktige Periode ergeben, obwohl sie beide auf der Dominante enden. Dies liegt daran, dass der erste Viertakter einen Halbschluss bildet und insofern öffnend wirkt, als hier die Dominante im Rahmen eines auf die Grundstufen der tonikalen Kadenz beschränkten harmonischen Raums den in Takt 3f. vorangegangenen Plagalschluss revidiert, während der zweite Viertakter den harmonischen Radius zur Doppeldominante weitet, so dass hier die Dominante in Takt 8 relativ zum Kadenzgeschehen ganzschlüssig erscheint.

Die erste Hälfte des Formteils lässt noch nicht ahnen, dass op. 118 Nr. 2 eine Variationenfolge ist. Das Variationsgeschehen des viertaktigen Themas beschränkt sich in den Stollen, wie beschrieben, auf die dezente harmonische Neubeleuchtung und moderate Ausschmückung der Melodiestimme durch Nebennoten, im Abgesang hingegen auf deren Dekolorierung sowie die Neuausrichtung der Achtelbegleitung. Die Achteldurchgänge und Punktierungen des Themas werden zugunsten eines durchgehenden Viertelrhythmus aufgegeben. Stattdessen scheint die erste Hälfte des Hauptteils vielmehr dem Lied ohne Worte Mendelssohnscher Prägung abgeschaut. Neben der liedhaften Simplizität, der wie beiläufig wirkenden Art der Variierung und den weiblich endenden Halbsätzen bedient sich Brahms vor allem in formaler Hinsicht Mendelssohns allgemeiner Folie für das Lied ohne Worte: Auch dort ist die barförmige Aufteilung der Strophen mit der Wiederholung einer achttaktigen Periode zu Beginn und einem anschließenden, motivisch abgeleiteten Beantwortungsabschnitt in einer terzverwandten Tonart eine häufige Formanlage. In op. 118 Nr. 2 führt erst die Rekapitulation bzw. die zweite Strophe variative Elemente im Sinne einer Variationenfolge ein, wobei der Themenauftakt umgekehrt (T. 35ff.) oder abgespalten zu einem Begleitorgelpunkt wird (T. 31ff.), neue Begleitstimmen hinzutreten (T. 35ff.), vor allem aber der Nachsatz des satzartig gebauten Variationsthemas eine Modifikation erfährt, indem die beiden Begrenzungsglieder des Themas – Zweiachtelauftakt und absteigende Viertelfolge – direkt nebeneinandergestellt werden (T. 31ff.). Resümierend lässt sich op. 118 Nr. 2 also als ein Stück begreifen, das als Lied ohne Worte anhebt, dann aber ab der zweiten Hauptteilhälfte in einen Variationensatz umschlägt, der zunächst einzelne Glieder des Themas neu kombiniert, um die Melodie zu variieren, und dann im Mittelteil den Themennachsatz abspaltet, um ihn einer satztechnischen Variierung mit der Gegenüberstellung von polyphoner und gebundener Setzweise zu unterziehen. Betrachtet man das Choralzitat nicht nur in formaler Hinsicht als das Zentrum des Stückes, könnte man op. 118 Nr. 2 aufgrund der thematischen Einheitlichkeit als Choralvariation oder treffender noch als Allusion auf die Choralphantasie bezeichnen, welche nun die mit dieser Gattung verbundene Freiheit weniger im Sinne des stylus phantasticus auf satztechnischem Gebiet auslebt, sondern vielmehr – mittels des Abschreitens der Stationen Lied ohne Worte, Choralfuge und Kantionalsatz – durch das freie Zusammenstellen von historisch teils Zusammengehörigem (Mittelteil), teils weit Auseinanderliegendem (Lied ohne Worte und Tradition der Choralbearbeitung) und teils Unvereinbarem (Lied ohne Worte als Variationenfolge).

Die bisherigen Beispiele der historischen Intermezzobildung im späten Klavierwerk zeigten das Verfahren, allgemeine Merkmale aus geschichtlich überlieferten Gattungen der Musik für Tasteninstrumente in lyrische Klavierstücke auf aktuellem Sprachniveau zu interpolieren. So alludiert, wie gesehen, op. 116 Nr. 3 auf Präludium und Fuge, die Romanze op. 118 Nr. 5 auf die Romanesca, das Intermezzo op. 119 Nr. 2 auf Passamezzo und Ländler, op. 118 Nr. 2 auf der Basis einer Choralphantasie auf die Stationen Lied ohne Worte, Choralfuge und Kantionalsatz und das Intermezzo op. 117 Nr. 2 auf die Sonatenhauptsatzform, deren bei Brahms maßgebliche Technik zur Gewinnung von Prozessualität, die ›entwickelnde Variation‹, op. 76 Nr. 5 in Gegenüberstellung zur Figuralvariation auf der Basis eines Ostinatobasses beisteuert. Zu diesen Beispielen lassen sich opusübergreifend im späten Klavierwerk noch weitere finden, die zeigen, dass es Brahms im gesamten Korpus der sechs Sammlungen mit Klavierstücken ganz wesentlich darum ging, den Blick des Historikers mit dem des Komponisten zu vermitteln und einen objektiven, geradezu enzyklopädischen Zugriff auf verschiedenste Gattungen der Klaviermusik mit modernen und subjektiven ästhetischen Mitteln einerseits zu bewerkstelligen und andererseits gleichzeitig durch die Gegenüberstellung oder Schichtung heterogener geschichtlicher Stationen zu kaschieren. Oftmals beschränken sich hierbei die historischen Anspielungen auf kurze Abschnitte, wie beispielsweise beim achttaktigen Hauptteilthema von op. 119 Nr. 1, das mit seinen raumgreifend fortlaufenden Unterterzungen im dreitaktigen Vordersatz wie ein Präludium im style brisé zum anschließenden Kanon in den Takten 4ff. wirkt, oder gar nur auf Partikel, wie beim Beginn der Scheinrekapitulation von op. 116 Nr. 2, die für zwei Takte (T. 51f.) einen Mazurkenrhythmus bringt, wobei sich eine gestalthafte Ähnlichkeit zu Chopins Mazurka op. 56 Nr. 3 (T. 15f.) ergibt. Wie bereits im Mittelteil von op. 118 Nr. 2, wo das Choralzitat und die dazugehörige Kantionalsatzallusion einen hermeneutischen Zusammenhang bilden, verhält es sich also auch hier. Die Mazurkenallusion wird mit einem konkreten Mazurkenzitat bestritten. Weitere Beispiele für diese Verbindung von Zitat und Allusion wären das Capriccio op. 76 Nr. 1 und das Intermezzo op. 118 Nr. 6. In op. 76 Nr. 1 wird im Rahmen eines homophonen lyrischen Klavierstücks auf die Bipolarität von Präludium und Fuge angespielt und dabei im fugenstellvertretenden Hauptteil, in dem die Melodiestimme mit fugentypischen kontrapunktischen Verfahrensweisen wie Umkehrung, Krebs, Augmentation etc. variiert wird, das Fugenthema aus Mozarts Jupiter-Symphonie zitiert. Und op. 118 Nr. 6 beginnt mit einem Dies-irae-Zitat und führt dieses Thema dann in den Rahmenteilen dem vokalen Ursprung entsprechend responsorial aus, während der Mittelteil instrumental gedacht ist, so dass sich insgesamt eine Allusion auf das Versett ergibt.

Während bei jenen Beispielen, in denen Brahms auf barocke Gattungen der Klaviermusik anspielt, die Zitate lediglich verstärkende Funktion haben, da die historische Konnotation bereits hinreichend durch die verwendeten Satztechniken hergestellt wird, sieht dies bei Beispielen, die auf Genres des Lyrischen Klavierstücks des 19. Jahrhunderts Bezug nehmen, naturgemäß anders aus. Da sie, abgesehen von den Klaviertänzen, kaum verbindliche formale oder satztechnische Abgrenzungskriterien aufweisen, ist hier das individuelle Zitat die einzige Möglichkeit der historischen Bezugnahme.

Vergleicht man op. 118 Nr. 2 von Brahms mit der Bagatelle op. 119 Nr. 4 von Ludwig van Beethoven, ergeben sich bezüglich der Themen sowie des motivischen Ableitungsverhältnisses zwischen Haupt- und Mittelteil, das sich auf die Isolierung und Variierung des Nachsatzes bezieht, Korrespondenzen von zitathafter Qualität.

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Beispiel 4.1: Johannes Brahms, Intermezzo A-Dur op. 118 Nr. 2, T. 1–4

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Beispiel 4.2: Ludwig van Beethoven, Bagatelle A-Dur op. 119 Nr. 4, T. 1–4

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Beispiel 4.3: Johannes Brahms, Intermezzo A-Dur op. 118 Nr. 2, T. 49ff.

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Beispiel 4.4: Ludwig van Beethoven, Bagatelle A-Dur op. 119 Nr. 4, T. 9ff.

Das Thema der Bagatelle weist in der linken Hand die gleiche satzartige Syntax mit einer sehr ähnlichen Struktur in diastematischer, rhythmischer und, bezüglich der Parallelen im Nachsatz, stimmführungstechnischer Hinsicht auf, nur dass in der Bagatelle der Auftakt in Vierteln statt in Achteln ausgeführt wird, im Nachsatz die Punktierungen fehlen und für den weiblichen Schluss die Stimme gewechselt wird. Und auch bei op. 119 Nr. 4 ist das Thema des Mittelteils (T. 9ff.) aus dem Nachsatz des Anfangsthemas abgeleitet. Die Oberstimme übernimmt aus der Oberstimme den Terzsprung des Zweiachtelauftakts zu Takt 2, und die diatonisch absteigende Achtelkette aus Takt 3 weitet den Terzsprung zum Quartsprung, ändert die Phrasierung der Achtelkette und beschleunigt den Achtel- zum Sechzehntelrhythmus. Die Unterstimme isoliert den Auftakt zu Takt 1 ebenfalls in der Unterstimme und spinnt den Abwärtsterzsprung zu Terzgängen weiter.

In diesem Zusammenhang betrachtenswert sind die charakterlich stark kontrastierenden Themen von Haupt- und Mittelteil in op. 116 Nr. 2. Vergleicht man sie mit den benachbarten Stücken Valse allemande und Paganini aus Schumanns Carnaval op. 9, die sich ihrerseits aufgrund der anschließenden Wiederaufnahme des Walzers zu einer dreiteiligen Liedform im Großen zusammensetzen, sich also innerhalb der Phantasievariationenfolge von op. 9 wie ein zusammenhängendes Stück verhalten, ergeben sich auffällige Ähnlichkeiten. Wie in Paganini ist auch der Mittelteil von op. 116 Nr. 2 gegenüber dem Hauptteil beschleunigt, wobei allerdings der Tempounterschied deutlicher ausfällt als bei op. 9 (op. 116 Nr. 2: Andante-Presto-Andante; op. 9: Valse allemande [Molto vivace]-Paganini [Presto]-Valse allemande [Tempo I ma più vivo]) Der Übergang ist jeweils mit einem Taktwechsel sowie einer musikalischen Neuausrichtung verbunden. Diese besteht (was bei Paganini bereits die Betitelung erwarten lässt, bei op. 116 Nr. 2 aber angesichts eines Hauptteils eher melancholischen Charakters besonders hervorsticht) in der durchgängigen und ausschließlichen Verwendung virtuosen Passagenwerks insbesondere in Form nachschlagender Oktavrepetitionen. Dieses Passagenwerk erstreckt sich bei Schumann auf beide Hände, bei Brahms hingegen nur auf die rechte Hand, aber auch bei Schumann ist, wie bei Brahms durchgehend, die linke Hand zunächst ins mittlere Register mit Violinschlüsselung versetzt. Außerdem ergibt sich zwischen dem Hauptteil von op. 116 Nr. 2 und der Valse allemande eine dramaturgische Parallele, da jeweils der zweite Formabschnitt eine rhythmische Beschleunigung mit sich bringt. Die deutlichste Korrespondenz zeigt sich aber in Bezug auf die Initialtakte. Hier erweisen sich die beiden Versionen des Hauptteilthemas – zum einen zu Beginn des Stückes und zum anderen bei der Mazurkenallusion zu Beginn der Scheinrekapitulation Takt 51 – als Auseinanderlegung der beiden Initialtakte des Walzerthemas. Dieses beginnt ebenso wie das Hauptteilthema von op. 116 Nr. 2 niedertaktig, aber mit einer Auftaktwirkung auf die zweite Zählzeit, die zu einer Halben verlängert wird. Dieser Auftakt wiederum wird in der Valse allemande mit einer Punktierungsfigur bestritten (Sechzehntel + punktierte Achtel mit Anbindung an die nächste Note), wie sie auch zu Beginn der Scheinrekapitulation von op. 116 Nr. 2 zu finden ist.

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Beispiel 5.1: Johannes Brahms, Intermezzo a-Moll op. 116 Nr. 2, T. 1f. und T. 51f.

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Beispiel 5.2: Robert Schumann, Carnaval op. 9, Valse allemande, T. 1f.

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Beispiel 5.3: Johannes Brahms, Intermezzo a-Moll op. 116 Nr. 2, T. 19f.

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Beispiel 5.4: Robert Schumannn, Carnaval op. 9, Paganini, T. 1

Dem möglichen und nicht unberechtigten Einwand, man könnte bei der Annahme derartiger motivisch-thematischer Beziehungen in einen hermeneutischen Zirkel geraten und Gefahr laufen, in einen willkürlich von außen an den Gegenstand herangebrachten Beziehungswahn zu verfallen, kann mit einer Indizienkette begegnet werden. Bereits im Vorfeld der Publikation von op. 76 hatte Brahms im Rahmen der Titeldiskussion mit seinem Verleger eine entsprechende Spur gelegt. Am 31. September 1878 schreibt er Fritz Simrock:

Wissen Sie einen Titel !??!!??!? ›Aus aller Herren Länder‹ wäre der aufrichtigste, Kirchneriana der lustigste.[34]

Die Anspielung lässt sich leicht auflösen. Sprichwörtlich verweist der »aufrichtigste« Titel darauf, dass Brahms in den Stücken ganz aktiv die Idee verfolgte, auf eine Vielzahl von Vorlagen zu rekurrieren, und der »lustigste« Titel zeigt an, wie Brahms mit den Vorlagen zu verfahren gedachte. Theodor Kirchner hatte gerade im Jahr 1878 eine Vielzahl von Werken Brahms’ – insbesondere Lieder – zu Klavierstücken umarrangiert. Ferner verweist Aus aller Herren Länder bereits implizit auf eine der verwendeten Vorlagen. Robert Schumann hatte das Eröffnungsstück der Kinderszenen op. 15 Von fernen Ländern und Menschen genannt.[35] Und in der Tat hatte Brahms dieses Stück zum Ausgangspunkt für ein Neuarrangement gewählt. Die Motivbestände von Von fremden Ländern und Menschen finden sich in op. 76 Nr. 4 wieder. Zunächst weisen beide Stücke in rhythmischer Hinsicht das gleiche Kopfmotiv auf, und auch das Umkehrungsverhältnis zwischen Haupt- und Mittelteilbeginn in Bezug auf dieses Motiv übernimmt Brahms, allerdings in chiastischer Relation.

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Beispiel 6.1: Johannes Brahms, Intermezzo B-Dur op. 76 Nr. 4, T. 1ff.

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Beispiel 6.2: Johannes Brahms, Intermezzo B-Dur op. 76 Nr. 4, T. 21f.

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Beispiel 6.3: Robert Schumann, Kinderszenen op. 15, Von fremden Ländern und Menschen, T. 1f.

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Beispiel 6.4: Robert Schumann, Kinderszenen op. 15, Von fremden Ländern und Menschen, T. 9ff.

Bei Schumann beginnt der Hauptteil mit einem Aufwärtssprung, der Mittelteil – das Thema ist in den Bass verlegt (T. 9ff.) – mit einem Abwärtssprung, bei Brahms ist es genau umgekehrt. Zwar stimmen nur die Bewegungsrichtungen und nicht die Diastematiken überein, aber der verminderte Quintfall, mit dem op. 76 Nr. 4 beginnt (es2-a1), findet sich auch in Takt 1 von Von fremden Ländern und Menschen im Bass (g-cis). Die Verlegung des Themas von der Oberstimme im Hauptteil in die Unterstimme im Mittelteil in op. 15 Nr. 1 – der Kanon zwischen Ober- und Unterstimme im Hauptteil von op. 76 Nr. 4 (T. 1 zu T. 5) deutet ähnliches an – ist das Ergebnis eines Stimmtausches, mit dem eine Ableitung des b-a-c-h-Motivs zur neuen Oberstimme wird. Es besteht aus einer pendelnden Wechselnotenbewegung zunächst in Terzparallelen. Dieses Mittelteilthema wiederum hat Ähnlichkeit mit der Abgesangsmotivik der barförmigen Formteile von op. 76 Nr. 4.

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Beispiel 6.5: Johannes Brahms, Intermezzo B-Dur op. 76 Nr. 4, T. 13ff.

Während bei diesem Beispiel die entsprechende Briefstelle der angenommenen musikalischen Reminiszenz ein hinreichendes Maß an Plausibilität verleiht, lässt sich mit op. 76 Nr. 6 noch ein Stück herausgreifen, das auf eine technisch originelle Weise einen Beleg für die These liefert, Brahms habe Zitate und Reminiszenzen verwendet, um über individuelle Beziehungen das individualisierte Charakterstück des 19. Jahrhunderts in sein historisches Sichtfeld integrieren zu können. Op. 76 Nr. 6 gehört zur Klasse jener Stücke im späten Klavierwerk, die sich zitierend auf Zitate beziehen, also Vorlagen wählen, die selbst auf Vorlagen rekurrieren. Zur Veranschaulichung ist op. 76 Nr. 6 aus zwei Gründen besonders prädestiniert. Zum einen verwendet es ein Selbstzitat Schumanns, also eine Vorlagenkonstellation, bei der ein bewusster Zitiervorgang angenommen werden kann, den Brahms in seinem Stück fortführt. Zum anderen ist die Übertragung des Vorgefundenen in den neuen Kontext des Brahmsschen Klavierstücks so bewerkstelligt, dass auf beide Vorlagen zugleich und dennoch arbeitsteilig angespielt wird. In Mai, lieber Mai. Bald bist du wieder da!, der Nr. 13 aus dem Album für die Jugend op. 68, zitiert Robert Schumann das Minore I aus seiner Arabeske op. 18. Nur bei op. 68 Nr. 13 aber erfolgt in Takt 3–4 eine Rückung der Anfangsphrase von E-Dur nach fis-Moll. Genau hier setzt der erste Mittelteiltakt von op. 76 Nr. 6 im Hinblick auf die Tonart und die Oberstimme mit seinem Zitat an.

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Beispiel 7.1: Johannes Brahms, Intermezzo A-Dur op. 76 Nr. 6, T. 25f.

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Beispiel 7.2: Robert Schumann, Album für die Jugend op. 68, Mai, lieber Mai, T. 1f.

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Beispiel 7.3: Robert Schumann, Arabeske C-Dur op. 18, Minore I, T. 41ff.

Der Hauptteil von op. 76 Nr. 6 hingegen bezieht sich auf den Hauptteil von op. 18. Beide Hauptteile sind dreiteilig aufgebaut (op. 18 eher strophen- und op. 76 Nr. 6 eher liedförmig), wobei jeweils der Mittelteil bzw. die mittlere Strophe durch Rückung von den Rahmenteilen abgesetzt wird. Bei op. 76 Nr. 6 erfolgt die Sequenzierung als Halbtonschritt (e nach eis) und die harmonische Rückung von A-Dur nach Cis-Dur, bei op. 18 als Ganztonschritt (d nach e) und harmonisch von C-Dur nach H-Dur. Zur signifikanten formalen Korrespondenz kommt noch eine motivische hinzu.

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Beispiel 7.4: Johannes Brahms, Intermezzo A-Dur op. 76 Nr. 6, T. 1f.

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Beispiel 7.5: Robert Schumann, Arabeske C-Dur, T. 1ff.

Diese betrifft vor allem die Unterstimmenbegleitungen der Hauptteilthemen, wenngleich auch die in sich kreisenden Oberstimmen einander ähneln, wobei allerdings Schumann kleine und Brahms große Intervallklassen wählt. Die Unterstimmen verhalten sich jeweils metrisch nachschlagend zur Oberstimme und beginnen motivisch mit einer zusammenphrasierten absteigenden Sekunde (Brahms: cis-his; Schumann: d-c). Während op. 18 mit einer Wiederholung dieses Motivs ansetzt, beschreibt es bei op. 76 Nr. 6 zunächst eine Wechselnote, wodurch sich im Sinne eines kontrastierenden Ableitungsverhältnisses eine Vorwegnahme des Auftakts des späteren Mittelteilthemas ergibt. Dafür übernimmt der Mittelteilabschnitt des Hauptteils (T. 11ff.) die op. 18 entsprechende tonhöhengleiche Repetition. An diese schließt sich in op. 18 ein steigender Quintsprung an, der durch eine absteigende Linie ausgeglichen wird. Dieser Quintsprung, nunmehr vermindert, findet sich auch bei op. 76 Nr. 6 in Takt 3, und die absteigende Linie wiederum, nunmehr chromatisch statt diatonisch geführt, erscheint an der entsprechenden Stelle im Mittelteil.

Während Schumann also aus der Arabeske op. 18 das Minore I entnimmt, um aus ihm ein neues Stück, nämlich Mai, lieber Mai, zu verfertigen, geht Brahms genau umgekehrt vor. Er stellt im Rahmen eines neuen Stückes das Zitat von Mai, lieber Mai wieder in einen Kontext, der der Arabeske nahe kommt.

In den meisten Fällen sind die Zitate und Reminiszenzen weniger stark logisch abgesichert und rangieren eher auf dem in op. 116 Nr. 2 und op. 118 Nr. 2 gezeigten Plausibilitätsniveau. Diese beiden Stücke sind aber noch auf einer anderen kategorialen Ebene repräsentativ für die Intermezzobildung im späten Klavierwerk. Diese weitere Ebene ist nun statt auf die Herstellung historischer Außenbeziehungen auf Zusammenhänge innerhalb der Brahmsschen Klavierzyklen ausgerichtet. Die Stücke des späten Klavierwerks sind opusübergreifend durch ein aus vielen Fäden bestehendes, dicht geknüpftes Netz von motivischen Bezügen miteinander verbunden. Einer dieser Fäden ist die rhythmisch identische, aber metrisch und diastematisch abweichende Auftaktfigur, mit der op. 116 Nr. 2 und op. 118 Nr. 2 beginnen. In op. 116 Nr. 2 ist diese Auftaktfigur in die Niedertaktigkeit gebracht und zeichnet sich diastematisch durch die Repetition eines Terzenklanges mit anschließender Auffaltung in Gegenbewegung aus. In op. 118 Nr. 2 ist die Figur auftaktig sowie diastematisch durch die kontrapunktische Gegenüberstellung einer Drehfigur (cis2-h1-d2) in der oberen und eines absteigenden Dreischritts (a1-gis1-fis1) in der unteren Oberstimme gekennzeichnet. In beiden Fällen ergibt sich zwischen Takt 1 und Takt 2 eine diastematisch variierte Wiederholungsstruktur.

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Beispiel 8.1: Johannes Brahms, Intermezzo a-Moll op. 116 Nr. 2, T. 1f.

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Beispiel 8.2: Johannes Brahms, Intermezzo A-Dur op. 118 Nr. 2, T. 1f.

Im späten Klavierwerk finden sich pars pro toto zahlreiche Varianten dieser beiden Modelle. Diese Varianten bilden ihrerseits neue Ableger aus, die mitunter beide Modelle wieder miteinander vermitteln, also eher die Korrespondenz als die Verschiedenheit des Ursprungspaares betonen. Einige wenige Beispiele sollten zur Veranschaulichung genügen. Am engsten mit op. 118 Nr. 2 ist der Themenbeginn des benachbarten op. 118 Nr. 3 verbunden (Beispiel 8.3). Auch dieser erfolgt auftaktig und weist, angepasst an die andere Taktart, den gleichen Rhythmus und eine charakteristische Wiederholungsstruktur auf, bedient sich aber ausschließlich der Umkehrung der unteren Oberstimme aus op. 118 Nr. 2. Im Beginn von op. 118 Nr. 1 (Beispiel 8.4) verbinden sich Elemente von op. 118 Nr. 2 (Drehfigur) und op. 118 Nr. 3 (Rhythmus). Eine rhythmische Diminution von op. 118 Nr. 3 bietet der Beginn von op. 117 Nr. 3 (Beispiel 8.5).

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Beispiel 8.3: Johannes Brahms, Ballade g-Moll op. 118 Nr. 3, T. 1f.

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Beispiel 8.4: Johannes Brahms, Intermezzo a-Moll op. 118 Nr. 1, T. 1ff.

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Beispiel 8.5: Johannes Brahms, Intermezzo cis-Moll op. 117 Nr. 3, T. 1f.

Ableger von op. 116 Nr. 2 hingegen sind das zweite Hauptteilthema von op. 119 Nr. 4 (Niedertaktigkeit – Beispiel 8.6), der Beginn von op. 116 Nr. 4 (Rhythmus – Beispiel 8.7) und der Anfang von op. 118 Nr. 4 (Repetitionsfigur und Auffaltung des Terzenklangs in Gegenbewegung – Beispiel 8.8). Letztere sind auch im Hauptteilthema von op. 119 Nr. 2 (Beispiel 8.9) zu beobachten, das allerdings auftaktig ist, womit es eine Verbindung zu der Ablegergruppe um op. 118 Nr. 2 herstellt. Diese ergibt sich über den Rhythmus auch zu op. 117 Nr. 3. Hier treffen also Ableger von op. 118 Nr. 2 und op. 116 Nr. 2 direkt zusammen, womit sich der Kreis schließt.

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Beispiel 8.6: Johannes Brahms, Rhapsodie Es-Dur op. 119 Nr. 4, T. 65f.

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Beispiel 8.7: Johannes Brahms, Intermezzo E-Dur op. 116 Nr. 4, T. 1ff.

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Beispiel 8.8: Johannes Brahms, Intermezzo f-Moll op. 118 Nr. 4, T. 1f.

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Beispiel 8.9: Johannes Brahms, Intermezzo e-Moll op. 119 Nr. 2, T. 1

Von Modell und Ablegern zu sprechen, also mit einer Ursprungs- und Wachstums- bzw. Entwicklungsmetaphorik zu arbeiten, scheint allerdings im späten Klavierwerk wenig angebracht, denn diese setzt eine lineare Zeitlichkeit voraus, in der Zustandsveränderungen als Entwicklungsstadien erkennbar werden. Genau dieses Merkmal aber fehlt im späten Klavierwerk. Die zahlreichen motivischen Korrespondenzen werden eher opusübergreifend willkürlich ausgestreut statt in einen logischen Zusammenhang gebracht. Selbst wenn man sie unabhängig von der Chronologie ihres Auftretens zu systematisieren versucht, lassen sich die motivischen Zustandsveränderungen nur selten auf einen Veränderungsmodus zurückführen. Und selbst wenn dieses ausnahmsweise gelingt, wie in der Diminutionsreihe op. 116 Nr. 2, op. 118 Nr. 4 und op. 119 Nr. 2, verschleiert die Verteilung auf verschiedene Opera den Zusammenhang. Meist sind die motivischen Bezüge als äußerst lockere Assoziationsketten angelegt. Man vergleiche hier beispielsweise die Anfänge der Mittelteile von op. 76 Nr. 4 (Beispiel 6.2), op. 76 Nr. 6 (Beispiel 7.1), op. 117 Nr. 3 (Beispiel 9) und op. 118 Nr. 2 (Beispiel 4.3), die alle einen vergleichbaren Melodiebogen aufweisen, wobei sich aufgrund des Beginns mit einer Wechselnote op. 76 Nr. 6 und op. 117 Nr. 3 zusätzlich als Korrespondenzpaar ausweisen.

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Beispiel 9: Johannes Brahms, Intermezzo cis-Moll op. 117 Nr. 3, T. 46ff.

Wie in diesen Beispielen ausschnittweise angedeutet, bilden die auf sechs Sammlungen verteilten 30 Stücke des späten Klavierwerks aufgrund eines Pools immer wiederkehrender Motivbausteine Zusammenhänge aus, und da diese Motivbausteine in immer neuen Gestalten, Kombinationen und Zusammenhängen auftreten, bestimmen sich die Stücke gegenseitig zu Zwischenstücken.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Spittas Vermutung, der Intermezzo-Begriff beziehe sich bei den Klavierstücken auf das »Vor- und Nachdenken«, das Reflektieren von »Voraussetzungen und Folgen«, auf zwei Ebenen realisiert wird: zum einen innerhalb des intrinsischen Kreises der Klavierstücke, indem sich durch die motivischen Korrespondenzen Nahtstellen ergeben, anhand derer zwischen den Stücken hin- und her geblendet werden kann, zum anderen, indem die Stücke durch die Arbeit mit verschiedenen historischen Ebenen und Versatzstücken eine über sich selbst hinausweisende historische Tiefenschärfe erhalten. Hierbei wird die musikalische Vergangenheit – geschichtliche Stationen der Musik für Tasteninstrumente – entweder, wie bei den allgemeinen Allusionen auf Gattungen und Genres, als lediglich subkutane Schicht unter einer klanglich modernen Oberfläche verborgen, oder aber sie dient, wie bei den individuellen Zitaten und Reminiszenzen, nur als Stichwortgeber für ein ganz eigenständiges Weiterkomponieren.

Die Klavierstücke lösen also in ebenso idealer wie gesteigerter Weise Spittas Kernthese zu Brahms ein. In ihnen schöpft Brahms nicht nur »tief aus dem Born der Vergangenheit«, sondern entwirft vielmehr über Allusionen und Zitate ein umfassendes historisches Panorama des Klavierstücks. Und das »Alte« hat sich hier nicht nur im Allgemeinen mit seiner »höchstpersönlichen Tonsprache verflößt«, sondern es wird, um im Bild zu bleiben, von Brahms kunstvoll zu einander überlagernden und sich durchkreuzenden Sedimenten geschichtet. Ein passenderes und hintersinniges Gegengeschenk als die späten Intermezzi hätte Brahms für Spittas Aufsatz, in dem er sich offenbar in idealer Weise verstanden fühlte, kaum finden können.

Anmerkungen

1

Vgl. Spitta 1892a.

2

Ebd., 387–427.

3

Brahms u.a. 1860, 142.

4

Dahlhaus 1980, 220.

5

Pohl 1876, 657.

6

Offenkundig ausgelassene Gattungen wie die Symphonische Dichtung und die Oper sind durch historisch vorgeordnete Stellvertreter ersetzt; die Symphonische Dichtung durch die Konzertouvertüre (›Tragische‹ und ›Akademische‹) und die Oper durch die weltliche Kantate, wobei der Rinaldo zudem noch einen Opernstoff vertont.

7

Spitta 1892b, 135.

8

Selmar Bagge in seiner Rezension des Horntrios op. 40 in der LaMZ 2 (1867), zit. nach: Meurs 1996, 143, Anm. 102.

9

Floros 1983, 31.

10

Spitta 1892b, 131.

11

Ebd., 132.

12

Ebd., 144f.

13

Nietzsche o.J., 117.

14

Wagner o.J., 59.

15

Nietzsche o.J., 117.

16

Spitta 1892b, 157.

17

Ebd.

18

Ebd.

19

Ebd., 129.

20

Ebd., 134.

21

Ebd.

22

Ebd., 141.

23

Vgl. Schönberg 1976, 35–71 (Rückübersetzung des erweiterten Radiovortrags aus dem Amerikanischen).

24

Vgl. Brahms 1920, 88f.

25

Vgl. etwa Mast 1980, 1–196.

26

Brahms 1917, 91.

27

Ebd.

28

»Könnte man sie nur recht spielen! Manches gelingt mir nach einigen Versuchen leidlich, aber das herrliche es-moll [op. 118 Nr. 6, d. Verf.] kriege ich nicht heraus, sondern ärgere mich nur über mein Gestümper. Nicht einmal das a-moll [op. 118 Nr. 1, d. Verf.] will mir gelingen« beklagt sich Spitta sogar angesichts der keineswegs technisch anspruchsvollsten, der ohnehin, mit Ausnahme vielleicht von op. 119 Nr. 4 nicht gerade virtuosen Stücke. Vgl. seinen Brief an Brahms vom 22. Dezember 1893 (Brahms 1920, 96).

29

So betont beispielsweise Klaus Groth in seinem Dankesschreiben für den Erhalt von op. 116/117, dass »es […] erfreulich [sei], daß Brahms einmal wieder etwas komponiert hat, was man ohne fremde Hilfe für sich allein und ohne Störung genießen kann« (Brief vom 8. Februar 1893. Brahms/Groth 1997, 129.)

30

Brief an Brahms vom 22. Dezember 1893, BBW XI, 95f.

31

Ebd., 96f.

32

Siehe hierzu Dahlhaus 1980, 215.

33

Vgl. McCorkle 1984, 473.

34

BBW XII, 91.

35

Hierbei handelt es sich um die musikalische Anspielung auf ein Stück Weltliteratur, nämlich den »Lehrbrief« aus E.T.A. Hoffmanns Kreisleriana, den der Romanheld, der an der prosaischen Wirklichkeit irre werdende Kapellmeister Johannes Kreisler, an sich selbst gerichtet hat und in dem von einem unbekannten, wie aus ferner Zeit kommenden Mann die Rede ist, der »von fernen unbekannten Ländern und sonderbaren Menschen« berichtet, wobei »dann seine Sprache in ein wunderbares Tönen verhalle, in dem er ohne Worte unbekannte, geheimnisvolle Dinge verständlich ausspreche«. Schumann sah in diesem geheimnisvollen Fremden offenbar J.S. Bach, wie das tonsymbolische b-a-c-h in der Mittelstimme der Takte 1–3 nahelegt (vgl. Koenig 1982, bes. 314f.).

Literatur

Brahms, Johannes u.a. (1860), »Manifest gegen die Neudeutschen«, Echo 10, 142.

Brahms, Johannes (1917), Briefe an P.J. und F. Simrock (= BBW X), hg. von Max Kalbeck, Reprint 1974, Tutzing: Schneider.

––– (1920), Johannes Brahms im Briefwechsel mit Philipp Spitta (= BBW XVI), hg. von Carl Krebs, Reprint 1974, Tutzing: Schneider.

Brahms, Johannes / Klaus Groth (1997), Briefe der Freundschaft, hg. von Dieter Lohmeier, Heide: Boysen & Co.

Dahlhaus, Carl (1980), Die Musik des 19. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6), Wiesbaden: Athenaion.

Floros, Constantin (1983), »Studien zu Brahms’ Klaviermusik«, in: Brahms-Studien 5, hg. von der Johannes-Brahms-Gesellschaft, Hamburg: Wagner, 25–63.

Hofmann, Renate und Kurt Hofmann (1997), Über Brahms. Von Musikern, Dichtern und Liebhabern. Eine Anthologie, Stuttgart: Reclam.

Koenig, Thomas (1982), »Robert Schumanns ›Kinderszenen‹ op. 15: Hermeneutische und formanalytische Untersuchungen«, Musikkonzepte, Sonderband Robert Schumann II, 299–342.

Mast, Paul (1980), »Brahms’s Study ›Octaven u. Quinten u.a.‹«, The Music Forum 5, 1–196.

McCorkle, Margit L. (1984), Johannes Brahms. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis, München: Schneider.

Meurs, Norbert (1996), Neue Bahnen? Aspekte der Brahms-Rezeption 1853–1868, Köln: Studio.

Nietzsche, Friedrich (o.J.), »Melancholie des Unvermögens«, in: Hofmann und Hofmann 1997, 117–118.

Pohl, Richard (1876), Rezension der I. Symphonie, Musikalisches Wochenblatt 7, 657.

Schönberg, Arnold (1976), »Brahms der Fortschrittliche« [1933], in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (= Gesammelte Schriften 1), hg. von Ivan Voijtech, Frankfurt a.M.: Fischer, 35–71.

Spitta, Philipp (1892), Zur Musik. Sechzehn Aufsätze von Philipp Spitta, Berlin: Paetel.

Wagner, Richard (o.J.), »Über das Dichten und Komponieren«, in: Hofmann und Hofmann 1997, 57–62.

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