Scheideler, Ullrich (2017), »Thomas Ahrend / Matthias Schmidt (Hg.), Webern-Philologien (= Webern-Studien. Beihefte der Anton Webern Gesamtausgabe, Bd. 3), Wien: Lafite 2016«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 14/2, 381–388. https://doi.org/10.31751/950
eingereicht / submitted: 27/12/2017
angenommen / accepted: 30/12/2017
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 31/12/2017
zuletzt geändert / last updated: 23/08/2018

Thomas Ahrend / Matthias Schmidt (Hg.), Webern-Philologien (= Webern-Studien. Beihefte der Anton Webern Gesamtausgabe, Bd. 3), Wien: Lafite 2016

Ullrich Scheideler

Schlagworte/Keywords: Anton Webern; Anton Webern Complete edition; Aufführungspraxis Wiener Schule; sketch studies; string quartett (1905)

Die Anton Webern Gesamtausgabe befindet sich in den Startlöchern. Sie verfügt seit geraumer Zeit über eine Projekt-Homepage (www.anton-webern.ch), und die ersten Notenbände dürften vermutlich im Jahr 2018 zu erwarten sein. Als »Beihefte der Anton Webern Gesamtausgabe« sind bereits seit 2012 insgesamt drei mit dem Reihentitel »Webern-Studien. Beihefte der Anton Webern Gesamtausgabe« versehene Buchpublikationen erschienen: Wechselnde Erscheinung. Sechs Perspektiven auf Anton Weberns sechste Bagatelle, hg. von Simon Obert (2012)[1], sowie zwei Bände, betitelt Der junge Webern. Künstlerische Orientierungen in Wien nach 1900, hg. von Monika Kröpfl und Simon Obert sowie von Thomas Ahrend und Matthias Schmidt (beide 2015)[2]. Ähnlich wie bei der Haydn-Gesamtausgabe (Joseph Haydn Werke), die durch Forschungen mit einem Schwerpunkt auf Quellenstudien in den Haydn-Studien flankiert wird, ist also auch hier mit der Publikation von wissenschaftlichen Studien jenseits des engeren Bereichs der Edition die Idee verbunden, zusätzlich zur Bereitstellung eines verlässlichen Notenmaterials und der Publikation von zu Lebzeiten unveröffentlichten Werken sowie der Skizzen die Beschäftigung mit diesem Material anzuregen und exemplarisch vorzuführen. Der Band Webern-Philologien, hg. von Thomas Ahrend und Matthias Schmidt, der nun als Band 3 der »Webern-Studien« vorgelegt wurde, zielt mithin gleichsam auf das Herzstück der Gesamtausgabe.

Der Band versammelt insgesamt neun Texte zu recht unterschiedlichen Themen, wobei Weberns Streichquartett op. 28 eines der Zentren bildet. Neben Detailstudien stehen vor allem Überblicksdarstellungen im Mittelpunkt, die einen Begriff vom Themenspektrum und von den Fragestellungen, aber auch von den Schwierigkeiten einer Webern-Philologie, hier im Plural als mögliche Zugänge zu und Arbeit mit den Quellen verstanden, vermitteln.

Der Band wird eröffnet mit einem Text von Matthias Schmidt (»Zu einigen Voraussetzungen bei der Betrachtung eines Skizzenblattes von Anton Webern«), in dem u.a. kritisch der bisherige Umgang mit dem schon mehrfach besprochenen »Form-Entwurf« zum frühen ›Streichquartett (1905)‹ im Besonderen und dem Verhältnis von Weberns Frühwerk zu Giovanni Segantinis Bildern im Allgemeinen beleuchtet wird, das zuletzt Gegenstand eines Themenhefts des Zeitschrift Musiktheorie gewesen war (Heft 4/2015) und auch im oben erwähnten Band 2b der »Webern-Studien« bereits thematisiert wurde. Schmidt versteht seine Ausführungen, die ebenso detailliert wie überzeugend die bisherige Forschungsliteratur zu dieser Quelle auf ihre Prämissen und die dahinterstehenden Webern-Bilder hin befragen, als »denkerische Skepsis« und »Fragezeichen« gegen die Verwendung von Quellen als »beliebig einsetzbare Bausteine für bestehende Theorien« (26). Auch wenn die Formulierung mir etwas übertrieben erscheint – denn völlig beliebig sind die Bausteine ja nicht, sie passen nur scheinbar zu gut –, so bleibt der Aufsatz doch eine klug argumentierende Aufforderung zum Versuch, die Quellen noch einmal neu und jenseits historiographischer »Rastrierungen« (26) zu lesen.

In seinem Text »Weberns Tempovorstellungen und ihre interpretationspraktische Rezeption. Zur Symphonie op. 21« befasst sich im Anschluss daran Lukas Näf mit dem schon mehrfach registrierten Phänomen, dass zwischen den Metronomangaben Webern’scher Werke und Weberns überlieferten Angaben zur Dauer an anderen Stellen (in Briefen, seltener in den Quellen selbst) oft eine Lücke klafft, die die Realisierung des Werks in einem angemessenen Tempo vor nicht geringe Probleme stellt. Dies ist sowohl in den Variationen op. 27 (die Dauernangabe »10 Min[uten]« widerspricht den Metronomzahlen, die etwa 6–7 Minuten suggerieren), aber auch in etlichen anderen Werken der Fall (so z.B. im Konzert für neun Instrumente op. 24). Näf startet einen neuerlichen Auflösungsversuch für den ersten Satz von Opus 21, der sowohl in der Erstausgabe als auch im Autograph Halbe = 50 vorschreibt, was zu einer Dauer von ca. 5½ Minuten führt. Auf der anderen Seite sind mehrere Aussagen Weberns überliefert, in denen von einer Dauer von etwa 15 Minuten für diesen Satz die Rede ist. Näf versucht, diese Diskrepanz durch einen Blick in die Genese des Satzes aufzulösen. Die Argumentation, dass die unterschiedlichen Tempo- und Taktangaben (nicht: Metronomangaben) und der Wechsel der Notation der Grundschläge (erst im letzten Schritt wurde die Notation auf einen 2/2-Takt umgestellt) auf eine sukzessive Verlangsamung der Tempovorstellung wie auf eine Charakteränderung nach tanzartig gestalteten ersten Skizzen hindeute, die sich in Weberns Vorstellung schließlich zu der Annahme einer Dauer von 15 Minuten verdichtete, überzeugt aber nur teilweise, weil einfach zu viele Variablen im Spiel sind: Die Skizzen enthalten keine Metronomangaben, sodass es mir fraglich erscheint, ob die Angabe Gehend des ersten und dritten Entwurfs (im 3/4-Takt und 4/8-Takt notiert), die im zweiten Entwurf zwischenzeitlich zu Sehr langsam (im 3/4-Takt) verändert wurde, in der Erstausgabe aber Ruhig schreitend im 2/2-Takt lautet, wirklich ein fortschreitend langsameres Tempo impliziert. Eine Untersuchung der Genese auch anderer von Diskrepanzen zwischen Angabe zur Dauer und zu Metronomzahlen betroffener Werke oder Sätze könnte vielleicht hier eine Antwort auf breiterer Grundlage herbeiführen.

Das Schriftbild und der Schreibprozess bei Webern stehen im Mittelpunkt der beiden Aufsätze von Regina Busch (»Weberns Streichquartett op. 28 und das Schriftbild seiner Partituren«) und Felix Wörner (»Notentext und Metatext. Textgenetische Perspektiven auf den zweiten Satz [›Kleiner Flügel Ahornsamen‹] von Weberns Kantate op. 29«). Anders als es die Überschrift von Buschs Text suggerieren mag, wird zunächst akribisch die persönliche Situation Weberns und seiner Freunde nach dem sogenannten ›Anschluss‹ Österreichs im März 1938 nachgezeichnet, dokumentiert mit noch immer berührenden Briefausschnitten u.a. an Erwin Stein oder Eduard Steuermann, ehe die Publikationsgeschichte von Opus 28 genauer umrissen wird. Busch zeigt durch einen Vergleich der Quellen zu Opus 28 anschaulich, wie sehr sich Webern darum bemühte, den musikalischen Gedanken plastisch nicht zuletzt durch das Schriftbild und die Partituranordnung in Erscheinung treten zu lassen (62). Das betrifft auch Details der Positionen der Noten- und Pausenzeichen zueinander wie die Seitenaufteilung, um die sich Webern oft mit großer Sorgfalt kümmerte, wie abschließend anhand weiterer Werke (vor allem der Opera 10 und 25) demonstriert wird.

Felix Wörner beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit einer Richtung der Musikphilologie, die in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt in den Fokus der quellenorientierten Musikwissenschaft geraten ist: der ›critique génétique‹. Sie geht davon aus, dass der Schreibprozess, wie er sich vor allem auf Skizzenblättern oder Entwürfen dokumentiert, einer eigenen Untersuchung wert ist, weil er Sinnschichten eines Notentexts freizulegen in der Lage ist, die in einem normierten Notensatz, wie ihn ein Druck oder auch nur eine Reinschrift bietet, verloren zu gehen oder mindestens gleichsam verschüttet zu werden drohen. Wörner geht dabei von der Beobachtung aus, dass es nicht zuletzt auch durch die Digitalisierung zu einem Wandel von einer deutungsbezogenen Edition hin zu einer materialbezogenen Edition gekommen sei. So plausibel auf den ersten Blick diese These sein mag, weil das Quellenmaterial einfach leichter online (und) in Digitalisaten zugänglich gemacht werden kann, so fraglich scheint sie mir aber auf der anderen Seite, nicht zuletzt, weil sich das Verständnis davon, was die Aufgaben einer Edition sein sollen, stark gewandelt hat. Zumindest hat sich die (als Beispiel angeführte) Schönberg-Gesamtausgabe bis in die 1980er Jahre noch stark als Grundlagenforschung verstanden, die in den Kritischen Berichten der Reihe B in den Kapiteln zu den Skizzen erst einmal das schwer erreichbare (damals noch meist in Los Angeles aufbewahrte) Material zugänglich machen wollte, wenngleich vom Editor übertragen und in Einheiten unterteilt und somit aufbereitet, aber nicht mit längeren Kommentaren und Interpretationen versehen. Die Ausgabe wollte Untersuchungen zu den Skizzen ermöglichen, nicht eine Auswertung in vollem Umfang schon selbst durchführen (das ist in verstärktem Umfang erst in den letzten Bänden der Fall, die seit den 1990er Jahren erschienen). Außerdem wird die Hinwendung zum Schreibprozess mit dem Bemühen einiger Ausgaben in Verbindung gebracht, ein Werk nicht nur in einer einzigen Gestalt, sondern unter Umständen in mehreren authentischen Werktexten und -fassungen herauszugeben. Wer aber eine für die Praxis, d.h. für eine Aufführung und damit für die ästhetische Vergegenwärtigung eines Werks bestimmte Ausgabe herstellen will (und dieses Ziel verfolgen mehr oder minder alle Ausgaben), muss sich für einen Notentext entscheiden, ihn unter Nutzung aller philologischen Methoden der Quellenkritik edieren. Dabei kann er oder sie das Starre des zu einem (gedruckten) Notentext Geronnenen wieder aufzulösen versuchen, aber es bleibt meist offen, inwiefern die dabei gewonnenen Erkenntnisse zur Werkgenese tatsächlich in eine Kritische Edition einfließen können. Salopp gesagt ist man oft hinterher auch nicht klüger als vorher, man hat nur mehr Zweifel, ob der Notentext in all seinen Bestandteilen der Autorintention tatsächlich entspricht, und kennt nur die problematischen Stellen besser. (Dass eine Edition gleichsam einen Baukasten bereitstellt, dessen Teile erst vom Interpreten zur aufführungspraktischen Fassung zusammengesetzt werden müssen, scheint mir im Moment allenfalls im Bereich der Oper Praxis zu sein; vgl. das laufende Projekt OPERA[3] sowie das abgeschlossene Forschungsprojekt zu Giuseppe Sarti[4].) Unabhängig davon, welche Perspektive man im Hinblick auf die neueren Editionen wählt: Vor dem Hintergrund eines zumindest theoretisch offeneren Werkbegriffs, der leichteren Zugänglichkeit von Handschriften wie des größeren Zweifels, inwiefern die Konsultation der Quellen tatsächlich eine Entscheidung über problematische Lesarten herbeiführen kann, ist es in diesem Kontext wenig überraschend, dass Schreibprozesse in den Fokus der Untersuchung geraten. Wie Wörner zu Recht hervorhebt, bedeutet dies indes eine Verschiebung des Erkenntnisinteresses von der Werkgenese zur Textgenese. Freilich lässt sein Text auch ein wenig offen, was das eine für das andere bedeutet bzw. welche Erkenntnisse die Untersuchung der Textgenese für die Werkinterpretation wie die Werkedition bereithalten kann.

Webern hat ja stets akribisch den Notentext notiert und die meisten seiner Drucke sorgsam überwacht, sodass wir doch wohl davon ausgehen können, dass der Text zum allergrößten Teil auch in einer Kritischen Ausgabe unverändert bleiben dürfte. Und was Wörner im ersten Teil seiner Skizzenanalysen zu elf Skizzenseiten vorlegt, auf denen der zweite Satz von Opus 29 nach und nach vor unseren Augen entsteht, ist zwar erhellend, unterscheidet sich aber zunächst kaum von auch in Gesamtausgaben vorgelegten Skizzenkommentaren (dass dabei für die Interpretation und Ordnung der Skizzen auch die Topographie der Skizzenseite als wichtiges Moment herangezogen wird, ist erst einmal nichts Ungewöhnliches). Erst im Schlussabschnitt auf den letzten Seiten seines Texts, der die Überschrift »Anschaulichkeit und Gestik« trägt, wendet er sich dem Schriftbild zu. Hier wird anschaulich vorgeführt, was ein Blick auf den sogenannten Metatext im günstigsten Fall zu leisten vermag: einen Einblick in den Charakter der Musik zu geben, der sich weniger durch die Notenzeichen selbst als durch den Gestus des Schreibens vermittelt. Freilich schränkt Wörner seine Ergebnisse später wieder ein, wenn er konstatiert, dass es »eines hohen interpretatorischen Aufwandes« (122) bedürfe, der nicht immer zu überzeugenden Ergebnissen führe. Die Untersuchung des Schreibprozesses steht denn auch vor der generellen Schwierigkeit, dass ein statischer Text, gewissermaßen ein Bild, in ein Nacheinander aufgelöst werden muss. Die Dimension der Zeit aber erschließt sich nicht unmittelbar, sondern bedarf der Interpretation, für die Anhaltspunkte nicht immer leicht ermittelbar sind. Warum Webern etwa auf Seite 4 von Skizzenbuch 5 die Notate auf den Systemen 6 und 7 so weit rechts notierte (vgl. 112–116), lässt sich eben nur vermuten, ja es ist noch nicht einmal klar, ob erst System 6 oder 7 beschrieben wurde (wenn System 6 das erste war, würde sich die großräumige Anordnung des Notats in System 7 nämlich einfach daraus ergeben, dass zunächst die Noten exakt untereinander geschrieben wurden, sodass die verlängerte Fortsetzung dann am Rand fortgeführt werden musste). Und die Notation sehr weit rechts im System hat vermutlich damit zu tun, dass die linke Hälfte für mögliche Korrekturen von System 5 freigehalten wurde, was an dem Eintrag auf der linken Seite ablesbar ist. So lebt wohl eine Interpretation des Schreibprozesses in hohem Maße von der genauen Kenntnis der individuellen Schreibgewohnheiten, und auch dann können wir nicht sicher sein, dass im speziellen Fall diese die angemessene Folie unserer Interpretation ist. Es ist daher nicht das geringste Verdienst des klug abwägenden und argumentierenden Texts, nicht nur auf die Möglichkeiten, sondern auch auf die Grenzen und die Reichweite der Methode aufmerksam zu machen.

Christian Martin Schmidt befasst sich in seinem Aufsatz »Hilft die Reihenanalyse bei der Edition von Zwölftonwerken Weberns?« mit der für die editorische Praxis von Zwölftonwerken wichtigen Frage, welche Ergebnisse aus einer Reihenanalyse im Hinblick auf den zu edierenden Notentext zu ziehen sind. Reihenanalysen dienen – etwa in der Arnold Schönberg Gesamtausgabe – dem Zweck, mögliche ›Reihenfehler‹ zu identifizieren und daran die Frage anzuknüpfen, ob auch in der Kritischen Edition die Tonhöhe entsprechend zu korrigieren ist, wobei abhängig vom jeweiligen Herausgeber die Antwort unterschiedlich ausfallen kann (in der Phantasie op. 47 hat sich die Herausgeberin Martina Sichardt meist gegen eine Korrektur im Sinne der Reihe entschieden, während andere Herausgeber bei anderen Werken häufiger eingegriffen haben). Im ersten Teil betont Schmidt, dass der Umgang mit der Zwölftonmethode bei den Schülern Schönbergs (Alban Berg, Anton Webern, Hanns Eisler) sich sehr unterschiedlich gestaltete, u.a. deshalb, weil Schönberg die Verfahrensweisen kaum offenlegte und etwa in Berlin als Kompositionslehrer nicht unterrichtete. Anhand einer Reihenanalyse des Streichquartetts op. 28 soll »die konkrete Art von Weberns Realisierung des Zwölftonsatzes verständlich« (61) gemacht werden, was auch sehr gut gelingt. Schmidt zeigt durch die Analyse der Reihe mit ihren aufeinander Bezug nehmenden Viertongruppen, wie die verschiedenen Reihenformen sich in ihren Segmenten ähneln, sodass nicht nur interne Korrespondenzen entstehen, sondern zugleich die Fortsetzung durch eine neue Reihenform dadurch initiiert wird, dass sich Ende und Anfang als doppelt bestimmt überlappen, wodurch Webern so etwas wie einen zwingenden Fortgang herstellt. Das Ende einer Reihenform wird damit zugleich zum Anfang der fortsetzenden neuen Reihenform, weil einzelne Töne doppelt bestimmt werden (beispielsweise, wie in den Variationen op. 27, zugleich als Nr. 11 und 12 wie als Nr. 1 und 2). Darüber hinaus gibt es einzelne Töne, die sich plausibel unterschiedlichen Reihenformen zuordnen lassen. Die Antwort auf die Frage »kann man hier von Reihenabweichungen sprechen?« (97) fällt dann vielleicht doch ein wenig zu kurz aus. Zwar macht Schmidt deutlich, dass Reihenabweichung bei Webern etwas ganz anderes bedeutet als bei Schönberg, aber es bleibt offen, wie denn im Falle einer bejahenden Antwort auf die gestellte Frage die Emendation der Lesart aussehen könnte. Soll der Ton von einer anderen Stimme gespielt werden (denn im Sinne der Reihenform ist er ja richtig), oder was wäre überhaupt ein mögliches Handeln des Edierenden? So lässt einen der Text etwas ratlos im Hinblick auf eine potenzielle Editionspraxis zurück, auch wenn hier sicher ein erhellender Einblick in Weberns Reihendenken vorliegt.

Zwei weitere Texte behandeln überblicksartig grundsätzliche Fragen zur Webern-Philologie: Nikolaus Urbanek eröffnet ein Panorama über die Skizzen Weberns in seinem Text »Familienchronik oder Flaschenpost? Text und Paratext in den Skizzen Anton Weberns«, indem er auf gut 30 Seiten die in den Skizzen zu findenden »Eintragungen äußerst heterogenen Zuschnitts« (135) zu systematisieren und zu kategorisieren sucht. Neben den im engeren Sinne musikalischen Notaten bildet eines der Zentren seines Beitrags unter der Überschrift »Numerisches« die Frage nach den zahlreichen Datierungen. Wurden sie gleichzeitig mit den Eintragungen des Notentexts vorgenommen oder erst nachträglich hinzugefügt (und wenn ja, zu welchem Zweck), bezeichnen sie Anfangsdatierungen oder Schlussdatierungen, und welchen Status haben hinzugefügte Ortsangaben oder die Verbindung mit persönlichen Ereignissen (wie z.B. Geburtstagen)? Für meinen Geschmack geraten die Ausführungen aber dann doch etwas zu unanschaulich, weil man zwar erfährt, was es so in Webern-Skizzen alles gibt (und es gibt eben mehr oder weniger alles), die jeweiligen werkgenetischen Kontexte (oder gar eine Chronologie) dann allerdings immer nur ganz kurz aufgespannt werden. Die Tatsache, dass auch Zwischenschritte datiert werden, mag für die Rekonstruktion einer Werkgenese hilfreich sein, aber zu gerne hätte man doch genauer gewusst, welche Bedeutung der Autor solchen Datierungen womöglich beigemessen hat: Sind sie Kennzeichen dafür, dass ein Schritt bzw. eine Stufe in der Fixierung des Materials als abgeschlossen betrachtet wurde, oder waren sie einfach ein Mittel, um Überblick über die Arbeitszeit bzw. die Entstehungszeit zu behalten, oder waren sie als eine Art von für die Nachwelt bestimmter Dokumentation gedacht, in welcher die Entwicklungsschritte der Dodekaphonie penibel erkennbar (und datierbar) sein sollten, wie der Verfasser am Ende des Absatzes andeutet (141)? Diese Fragen ließen sich vermutlich nur für den Einzelfall beantworten. Neben den Datierungen findet sich eine Reihe von persönlichen Eintragungen, die zu der These führt, »dass die tagebuchartigen Einträge in den Skizzenbüchern die Einträge in den Tagebüchern sukzessive ersetzt haben« (158), wodurch die Skizzenbücher als eine Art von Familienchronik über den werkgenetischen Aspekt hinaus noch eine neue Text- und Bedeutungsschicht erhalten. Abschließend wird daher die Frage gestellt, inwiefern die Skizzenbücher (nur) autokommunikativ zu verstehen sind oder doch (auch) für einen weiteren Leserkreis bestimmt waren. Urbanek lässt die Antwort ein wenig offen, weist aber auf vielfältige Indizien hin, die mindestens die Vermutung nahelegen, dass die Skizzen »über ihren Status als transitorische Formungen einer Werkgestalt im Verlauf eines Schaffensprozesses auch dauerhaft kommunikabel« (163) gemacht wurden. Spätestens mit einem Bewusstsein von der musikhistorischen Bedeutung der Wiener Schule, die dem Musikhistoriker und Schönberg-Schüler Webern ab einem bestimmten Zeitpunkt keineswegs fremd gewesen sein dürfte, müsste sich dann die Gestalt bzw. Anlage der Skizzeneintragungen teilweise geändert haben bzw. nachträglich geändert worden sein. Dem nachzugehen könnte lohnende Aufgabe einer Webern-Philologie sein.

In eine ähnlich grundsätzliche Richtung weist auch der Aufsatz von Neil Boynton mit dem Titel »Measures of Progress in Webern’s Sketchbooks«. Boynton versucht sich der Frage anzunähern, auf welche Weise man den Fortschritt der Skizzierungsarbeit in den Skizzenbüchern messen kann, den er mit Begriffen wie »slow, interrupted, fluent, systematic« (175) umschreibt. Nach einer Übersicht über die überlieferten sechs Skizzenbücher, deren Umfang jeweils knapp 100 Seiten umfasst (mit Ausnahme des ersten und sechsten Skizzenbuchs) und die eine hervorragende Grundlage für die Untersuchung abgeben, da in ihnen der Fortgang der Arbeit in einer einzigen Quelle gebündelt erscheint, beschreibt Boynton die Anfänge allgemein als ein Ineinander von »working out of an initial idea, the establishment of the row, the completion of the first phrase« (182). Anschaulich gemacht wird die Entwicklung einer musikalischen Phrase anhand eines Ausschnitts aus dem fünften Skizzenbuch, das Skizzen zu den Orchester-Variationen op. 30 zeigt (in leider nicht sehr gut lesbarer Qualität, hier wäre eine Übertragung hilfreich gewesen). Am Beispiel der Variationen op. 27 wird dann diskutiert, inwieweit man von einem Verlust von Quellen ausgehen muss, scheint doch noch eine große Lücke zwischen der letzten Skizze und der ersten überlieferten reinschriftlichen Fassung zu klaffen, die sogar so essenzielle Momente wie die Taktartvorzeichnung betrifft. Für die Zweite Kantate op. 31 wird eine analoge Diskrepanz zwischen letzter Skizze und Reinschrift erörtert. Boynton kann aber im Folgenden plausibel zeigen, dass es hier durch präzise anzugebende ›Umrechnungsmethoden‹ möglich war, von der Skizze zur Version der Reinschrift zu kommen, sodass die Annahme einer Zwischenquelle also nicht mehr zwingend erforderlich ist. Dass es sich im Falle der Variationen op. 27 aber trotzdem nicht so einfach verhält, macht Boynton vor allem durch die genauere Untersuchung der autographen Reinschrift des dritten Satzes deutlich, die Webern Rudolf Kurzmann unmittelbar vor dessen Emigration im Sommer 1938 schenkte (es ist unbekannt, ob auch von den ersten beiden Sätzen eine entsprechende Reinschrift existiert hat). Diese Quelle weist noch etliche von der Druckfassung abweichende Lesarten auf, die womöglich teilweise auch in der sogenannten Druckvorlage standen, ehe sie dort (unlesbar) durch Rasur getilgt bzw. korrigiert wurden (die zahlreichen Unterschiede zwischen der Druckvorlage und der Reinschrift für Kurzmann in den Lesarten werden in einem Anhang dokumentiert; Tonhöhen sind nicht betroffen, wohl aber Dynamik und Artikulation). Boyntons Fazit fällt dann auch ernüchternd aus: Obwohl der Skizzierungsprozess im Skizzenbuch gebündelt erscheint, stehen dem Messen von Fortschritt in der Werkgenese doch »inescapable difficulties« (205) entgegen, nicht zuletzt, weil Streichungen und Rasuren zur Unlesbarkeit führen und nicht mehr alle Quellen (von denen wir noch nicht einmal wissen, ob sie überhaupt existiert haben) überliefert sind. Dieser pessimistischen Einschätzung möchte man freilich entgegnen, dass Philologie immer eine nie zum Abschluss gelangende Annäherung bedeutet, die vermutlich auch bei Kenntnis noch so vieler Quellen immer unabgeschlossen bleibt. Man kann daher auch (umgekehrt) sagen, dass darin gerade ihr besonderer Reiz (und nicht nur ihr Mangel) liegt.

Eine kürzere Detailstudie von Monika Kröpfl über Weberns Klavierauszug zu Alfredo Casellas Paganiniana op. 65, der im Spätsommer 1942 im Auftrag der Universal Edition entstand, letztlich aber ungedruckt blieb (»Unspielbare Meisterleistung. Zu Weberns Klavierauszug von Alfredo Casellas Paganiniana op. 65«) gibt Einblicke in eine weniger bekannte Seite von Weberns musikalischer Tätigkeit. Die Autorin beschreibt zunächst die Reaktionen auf die Uraufführung des Orchesterwerks im April 1942 in Wien unter der Leitung von Karl Böhm in einem Jubiläumskonzert der Wiener Philharmoniker und die politischen Implikationen, sodann unter Heranziehung etlicher bisher unveröffentlichter Quellen die Verhandlungen um die Drucklegung sowohl der Partitur (erschienen mit Copyright-Vermerk 1944) als auch des Klavierauszugs, ehe knapp (vielleicht doch etwas zu knapp) die Diskussion um die mangelnde Spielbarkeit eröffnet wird, die Casella Weberns Einrichtung attestiert hatte, weshalb Casellas Schüler Pietro Scarpani eine Neubearbeitung unternahm. Hier hätte man – etwa im Vergleich beider Fassungen – gern mehr erfahren, sodass mögliche Kritikpunkte etwas unanschaulich bleiben, auch weil man Casellas originale Orchesterfassung in Partitur nicht zu Gesicht bekommt (gezeigt wird lediglich die erste Seite von Weberns Klavierauszug im Faksimile mit Korrekturen, mutmaßlich von Casellas Hand, die knapp kommentiert werden). Wenn der Auszug einmal in der Webern-Gesamtausgabe erschienen sein wird, wird man einen umfassenderen Begriff von der spezifischen Art von Weberns Einrichtung erhalten und diese sicher besser in die Bemühungen der Schönberg Schule um die spätestens mit der Tätigkeit des Vereins für musikalische Privataufführungen einsetzenden Vorstellungen über das Transkribieren an sich einordnen können. Der Text bedeutet einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung.

Einen Werkstattbericht und Ausblick, was in bzw. von der Anton Webern Gesamtausgabe zu erwarten ist, geben schließlich Barbara Schingnitz und Tobias Schweizer in ihrem knappen Beitrag »Erarbeitung der Anton Webern Gesamtausgabe in einer digitalen Forschungsplattform«. Die Ausgabe soll ja als Hybrid-Ausgabe mit einem gedruckten Anteil und einem (nur) online zugänglichen Anteil erscheinen. Es hat den Anschein, als solle das Medium Internet dabei hauptsächlich als Speicherort für Digitalisate der Quellen (Handschriften, Frühdrucke, allerdings wohl unter teilweisem Verzicht auf die wichtigen in der Paul Sacher Stiftung aufbewahrten Skizzenbücher; vgl. 169, Anm. 9) sowie von Dokumenten zur Uraufführung oder wichtigen Aufführungen, teils im Verbund mit durchsuchbaren Datenbanken, aber auch für die Auslagerung der kommentierten Skizzenedition verwendet werden. Das Internet scheint eher als Ort der Auslagerung solcher Anteile einer Kritischen Edition gebraucht zu werden, die bisher in Kritischen Berichten zu finden waren, wodurch das Projekt zwar an Transparenz und (womöglich) Handhabbarkeit bzw. Nutzerfreundlichkeit gewinnt, da Quellen selbst in Augenschein genommen werden können und bisweilen eine umständliche Beschreibung komplexer Sachverhalte entfallen kann, ohne aber dass spezifische Werkzeuge des World Wide Web einbezogen würden. Von der Software Edirom, wie sie im Rahmen der Max Reger Gesamtausgabe oder im oben erwähnten Forschungsprojekt zu Giuseppe Sarti Verwendung fand und findet, ist jedenfalls nicht die Rede. Auch der Einbezug etwa von Kartenmaterial scheint nicht zur Debatte zu stehen. So muss man sich noch ein wenig gedulden, um die volle Leistungs- und Funktionsfähigkeit der Anton Webern Gesamtausgabe zu erfassen und zu erproben. Der Band Webern-Philologien gibt davon einen ersten Vorgeschmack. Er ist eine Art von Speisekarte, doch welche Menüs tatsächlich zur Verfügung stehen werden, muss dann die Praxis erweisen. Es bleibt zu hoffen, dass bis zum Erscheinen der ersten Bände ein nicht mehr allzu langer Zeitraum des Wartens vergehen wird.

Anmerkungen

1

Obert 2012.

2

Kröpfl/Obert 2015 und Ahrend/Schmidt 2015.

3

Vgl. Forschungsstelle OPERA o.J. http://www.akademienunion.de/forschungsprojekte/opera-spektrum-des-europaeischen-musiktheaters-in-einzeleditionen/ (31.12.2017)

4

Vgl. Forschungsstelle Sarti-Edition 2016. http://sarti-edition.de/index.html (31.12.2017)

Literatur

Ahrend, Thomas / Matthias Schmidt (Hg.) (2015), Der junge Webern. Texte und Kontexte (= Webern-Studien. Beihefte der Anton Webern Gesamtausgabe, Bd. 2b), Wien: Lafite.

Forschungsstelle OPERA (Hg.) (o.J.), OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen. http://www.akademienunion.de/forschungsprojekte/opera-spektrum-des-europaeischen-musiktheaters-in-einzeleditionen/ (31.12.2017)

Forschungsstelle Sarti-Edition (Hg.) (2016), A Cosmopolitian Composer in Pre-Revolutionary Europe – Giuseppe Sarti. http://sarti-edition.de/index.html (31.12.2017)

Kröpf, Monika / Simon Obert (Hg.) (2015), Der junge Webern. Künstlerische Orientierungen in Wien nach 1900 (= Webern-Studien. Beihefte der Anton Webern Gesamtausgabe, Bd. 2a), Wien: Lafite.

Obert, Simon (Hg.) (2012), Wechselnde Erscheinung. Sechs Perspektiven auf Anton Weberns sechste Bagatelle (= Webern-Studien. Beihefte der Anton Webern Gesamtausgabe, Bd. 1), Wien: Lafite.

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