Kühn, Clemens (2016), »Erinnerungen«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 13/Sonderausgabe [Special Issue], 9–17. https://doi.org/10.31751/858
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 20/11/2016
zuletzt geändert / last updated: 26/09/2017

Erinnerungen

Clemens Kühn

Schlagworte/Keywords: Biographie; biography; Carl Dahlhaus; Geschichte der Musiktheorie; history of music theory; institutional history; Institutionengeschichte; Lehre der Musiktheorie; teaching music theory

›Erinnerungen‹ kann betulich klingen. Doch geht es im Folgenden nicht um Anekdotisches, das hübsch anzuhören, aber belanglos ist. Es geht um Momente aus der jüngeren Vergangenheit – den 1960er bis 1980er Jahren –, die Musiktheorie unmittelbar oder mittelbar formten: Versuchen möchte ich, aus meinem damaligen Miterleben heraus ein Bild zu geben von Carl Dahlhaus und seiner Zeit, um dadurch vielleicht manches an der Entwicklung der Musiktheorie verständlicher und anschaulicher werden zu lassen.

Der Übersichtlichkeit wegen sind die Gedanken unter fünf Überschriften zusammengestellt: Aura – Haltungen – Zeitgeist – Schaffen – Anspruch.

Aura

Dahlhaus war eine Erscheinung. Er zog die Aufmerksamkeit auf sich. Oft schaffte er dadurch Distanz, ohne sie jemals zu wollen. Ich erinnere mich an eine Feier in meiner letzten Berliner Wohnung, an der neben etlichen Kollegen der Musikhochschule auch Dahlhaus und seine Frau teilnahmen. Seine Anwesenheit schuf eine spürbare Befangenheit, weil einige sich gedrängt fühlten, angesichts eines bedeutenden Mannes möglichst bedeutend daher zu reden. Die Anspannung löste sich erst, als er sich verabschiedete. Natürlich wusste er, wer er war, doch es war ihm merklich unangenehm, wenn jemand ihn anhimmelte oder ihm aus dem Weg ging oder manieriert einen Kontakt suchte. Im Zwischenmenschlichen mochte er das Direkte, Herzhafte, Unkomplizierte. Begegnete man ihm unverstellt, ohne Scheu, im normalen Umgang, konnten sich wunderbare Gespräche ergeben.

Ein genuiner Pädagoge allerdings war er nicht. Vor Semesterbeginn hingen pünktlich seine Lehrveranstaltungen aus. Er verfuhr ökonomisch: Seine Seminare und Vorlesungen bezogen sich meist auf das, woran er arbeitete. Die Seminarübersicht gab wöchentlich ein neues Thema vor, und jeder konnte sich mit einem Referat einschreiben. Die Seminare selbst liefen mechanisch ab: erste Hälfte ein Referat, zweite Hälfte er. Die Referate nahm man hin, auf seine Äußerungen wartete man. In der Regel trug er einen Monolog vor, ungemein erhellend, aber eben zum Zuhören gedacht. Zwischenfragen waren möglich, gelegentlich gab es auch kleine Dialoge, ein allgemeiner Diskurs – die eigentliche Stärke von Seminaren – fand so gut wie nicht statt: Dafür konnte er wegen der Schnelligkeit, der Tiefe und des Reichtums seiner Gedankenwelt offenbar nicht die nötige Geduld aufbringen. Michael Zimmermann, sein kongenialer Assistent, nahm es auf sich, ihn mitunter zu bitten, mehr auf die Teilnehmer zuzugehen, und es war geradezu rührend zu erleben, wie sich Dahlhaus in der Woche darauf entsprechend anstrengte. Zwei Wochen später war alles wieder beim Alten: Er konnte nicht anders.

Zu entdecken aber gab es unendlich viel bei ihm. Eine Vorlesung ist mir noch lebhaft im Gedächtnis: Sie hieß Grundbegriffe der Musiktheorie. Aufzeichnungen besitze ich davon nicht mehr, doch vier Dinge weiß ich noch: dass dort nicht nur Studenten der Musikwissenschaft saßen, sondern auch etliche gestandene Musiktheoretiker; dass einen plötzlich die Erkenntnis durchfuhr, gerade das unscheinbar Elementare – ›Grundbegriffe‹ – sei ein Schlüssel zum Verstehen; dass man anfing, die ganze Musiktheorie neu zu bedenken; und dass ein ungebrochenes Zuhören über die Maßen anstrengte: weil die Vorträge äußerst komplex waren, weil sie einen hohen Grad an Abstraktion hatten – wie oft bei Dahlhaus –, und weil sie zu Teilen auch unsinnlich waren, da es ähnlich seinen meisten Vorlesungen kaum Klangbeispiele gab.

Seine Lehre bezog ihre Sogkraft nicht aus einem pädagogischen Geschick, sondern aus dem, was er zu sagen hatte – auch wenn es einen gedanklich oft überforderte –, und wie er es vorbrachte. Dahlhaus besaß eine enorme Ausstrahlung – schon als bloßes Gegenüber –, der sich kaum jemand entziehen konnte.

Dazu gehörte auch seine geschliffene Sprache. Seine Seminaraussagen hätten unredigiert veröffentlicht werden können, im Gespräch Gesagtes war druckreif, seine Briefe – knapp gefasst: 10 Zeilen waren ihr Durchschnitt – beeindruckten auch durch ihre Sprachgebung. Ein wunderbares Beispiel gibt ein Brief, den ich von ihm 1980 zu meiner Zeit als Schriftleiter der Zeitschrift Musica erhielt. Der Brief besteht aus einem ausgedehnten ersten Satz, drei eingeschobenen Worten als Kontrast, und einem Epilog, der halb so lang ist wie der erste Satz – Aufbau, Vokabular, Rhythmus wirken geradezu artifiziell:

Natürlich weiß ich, dass ich mich ein wenig lächerlich mache, wenn ich versprochene Aufsätze nicht erst zum letzten Termin schicke – als erhöhe die Verzweiflung des Redakteurs das Prestige des Autors –, sondern dann, wenn sie fertig sind, und das heißt bei mir, der nur in Ruhe schreiben kann: wesentlich früher. Sei es drum. Dass der Aufsatz etwas abstrakter geraten ist, als er sollte, werden Sie rasch erkennen – aber die notwendige Konkretion kann vielleicht in den übrigen Beiträgen des Heftes beigesteuert werden.

Sprachlich bestechend sind die Schriften von Dahlhaus, dazu scharfsinnig in den Überlegungen, zwingend im Gedankengang, und – wie kann man es ausdrücken – von einer Unbedingtheit des Darstellens: Nirgends stellt sich das Empfinden ein – und sei der musikalische Gegenstand noch so speziell –, dass das, was da verhandelt wird, einen nichts anginge oder dass da jemand am ›Leben‹ vorbeiredet. Dabei war er auch in Details äußerst achtsam und genau. Ob ich die beiden Worte ›lieto fine‹ groß schreiben würde, fragte er einmal – er wusste, dass ich Italienisch spreche –, weil sie ein feststehender Terminus für ›glückliches Ende‹ seien. Oder: »Aufgabe der Tätigkeit« hatte ich geschrieben, um auszudrücken, dass jemand mit etwas aufgehört habe. Seine Änderung in »Preisgabe der Tätigkeit« war so einleuchtend – denn ›Aufgabe‹ kann ja auch ›Auftrag‹ bedeuten –, dass sie zu meinem Bestand wurde.

Nicht erst durch Inhalte, sondern schon durch die Art ihrer Darbietung hat er gewirkt: Flottes Hinschreiben verbot sich, wollte man nicht bodenlos abfallen gegen seine stilistische Höhe. Sie schärfte das Bewusstsein dafür, wie sehr es auf Sprachgestaltung ankommt und auf die Worte: ihre Angemessenheit, Treffsicherheit, Überzeugungskraft. Dahlhaus, ein Genie des Formulierens, kultivierte das Sprechen über Musik. Das hat, bewusst oder unterschwellig, Schule gemacht. Einige mühten sich, anderen unterlief es, ihn nachzuahmen. Doch hat seine Sprache natürlich Eigenheiten, allem voran eine Neigung zu ausladenden Sätzen. Deren Verschachtelungen, Additionen, Parenthesen nötigen oft dazu, Sätze in ihre Bestandteile zu zerlegen und einzeln zu lesen. Dergleichen zu übernehmen, bringt wenig bis nichts: Mit einer sprachlichen Form hat man nicht gleich deren Inhalt.

Haltungen

Wesenszüge, die man an Dahlhaus beobachten konnte, gingen auch in seine Schriften ein; sie hinterließen Spuren bei jenen, die mit ihm zu tun hatten; und sie prägten die Atmosphäre seiner Umgebung.

Dahlhaus war von eiserner Selbstzucht. Zu seinem 60. Geburtstag hatte er, von seiner Krankheit deutlich gezeichnet, einen kleineren Kreis in ein Berliner Restaurant geladen. Nach dem Essen hielt er eine ebenso tiefsinnige wie launige Ansprache. Auf einmal verzog sich sein Gesicht vor Schmerz, für Sekunden hörte er auf zu sprechen, dann redete er weiter, ohne sich noch irgendetwas anmerken zu lassen. Bei Krankenhausbesuchen habe ich nie erlebt, dass er von sich und seinen Beschwerden redete; er sprach von beruflichen Dingen oder erkundigte sich nach dem, was draußen passierte: Er öffnete sich dem Leben anderer statt über seines zu lamentieren. Was medizinisch gemacht werden musste, ließ er über sich ergehen, ohne – so gestand er beiläufig – irgendetwas Näheres dazu wissen zu wollen. Er war innerlich zu erfüllt von Arbeit und musikalischen Fragestellungen. Sein musikwissenschaftliches Institut leitete er, so gut es ging, noch vom Krankenbett aus. Nicht mehr vergönnt war es ihm, den zweiten Band seiner Geschichte der Musiktheorie zu vollenden.

Zu gesunden Zeiten verliefen seine Tage dreigeteilt: morgens bis mittags Schreiben an eigenen Manuskripten; nachmittags andere Arbeiten, Lehrveranstaltungen, Sprechstunden, Korrespondenz; abends freie Zeit, gern als Gast oder selbst als Gastgeber, der sich irgendwann unauffällig zurückzog, um niemanden zum Gehen zu veranlassen. Er verfügte über die Disziplin, diese Ordnung konsequent durchzuhalten und daraus eine niemals nachlassende Produktivität zu gewinnen. Beim Schreiben seiner Manuskripte ging er übrigens so bemerkenswert vor, dass man versucht war, es selbst einmal auszuprobieren: Er brachte Gedanken zunächst ohne allzu große Sorgfalt zu Papier, diktierte dies Handschriftliche seiner Frau in die Schreibmaschine, und stellte dann den getippten Text so lange auf den Kopf, bis eine Fassung erreicht war, die ihn zufrieden stellte. Diese Fassung blieb: Er veränderte sie nicht mehr.

Dahlhaus war selbstkritisch. Es geht mir nicht aus dem Kopf: Bei der erwähnten Geburtstagsansprache bilanzierte er sein Wirken mit einem abwiegelnden Bild: Was er betrieben habe, sei »ein Ritt über den Bodensee« gewesen. Halbwegs verstehen lässt sich die Äußerung vielleicht mit einer Erfahrung, die man immer wieder im Leben machen kann: dass gerade jene, die in ihrem Fach exzellent sind, zu Selbstskrupeln neigen, die fachlich Mittelmäßigen fremd sind.

Geistigen Gefechten wich er nicht aus; exemplarisch denke man an seinen legendären, in Heften der Musikforschung (1983–84) ausgetragenen Disput mit Hellmut Federhofer über Heinrich Schenker. Kritik akzeptierte er von Kollegen auf Augenhöhe. Von Rudolf Stephan, dessen Texte musikalisch stets konkret bleiben, kam gelegentlich die – halb kritische, doch eher schmunzelnde – Aufforderung, er solle mal wieder etwas weniger Ästhetik betreiben und seinen Studenten etwas Ordentliches beibringen. Empfindlich allerdings reagierte Dahlhaus, wenn er sich falsch behandelt oder missverstanden fühlte. Solche Empfindlichkeit rückte ihn wieder menschlich heran, weil sich darin schlicht Verletzlichkeit ausdrückte.

Dahlhaus war einfühlsam. Einen unschönen Konflikt mit Berliner Kollegen legte er so behutsam wie nachdrücklich bei. Dahlhaus konnte auch deswegen sensibel und klug ausgleichen, weil er stets beide Seiten sah und sofort ihre Positionen verstand: Dialektisches Denken war seine zweite Natur. Dahlhaus besaß die Bereitschaft, sich zurück zu nehmen und konzentriert zuzuhören, um dann alles auf den Punkt zu bringen. Das ist ein Merkmal auch seiner Texte: In ihrer gedanklich-sprachlichen Dichte sind sie ohne Redundanz.

Dahlhaus war menschennah. Jedem gestehe er einen schlechten Tag zu, sagte er in einem Gespräch über fachliche Qualitäten. Er schätze Kollegen so oder so ein; ein einmal gewonnenes positives Urteil habe aber Bestand. Diese Form von Verbundenheit war menschlich gedacht, und sie gab ein Gefühl von Sicherheit. Treu blieb er auch der Technischen Universität Berlin, der er, nach Göttingen und Kiel, durchgängig seit 1967 angehörte. Einen kleinen Wortwechsel werde ich darum nicht vergessen: Als ich von Berlin nach München berufen wurde, sagte ich ihm: »15 Jahre war ich an der HdK Berlin – das ist viel«, und er korrigierte mich spontan: »zu viel«. Der vermeintliche Widerspruch zu seiner eigenen Beständigkeit meinte die Ermunterung, in akademischen Berufen örtlich flexibel zu sein.

Dahlhaus war fürsorglich. Vorausgesetzt, er bemerkte Resonanz und Engagement, lag ihm daran, seine Studenten voran zu bringen und Ehemalige einzubeziehen. Mein publizistischer Erstling beispielsweise, eine Musiklehre, verdankte sich seiner Vermittlung. Dahlhaus hielt sie für gelungen, ich selbst stehe ihr inzwischen sehr kritisch gegenüber. Seinen Brief möchte ich also nur deswegen zitieren, weil seine damalige Bemerkung zum generellen Nachdenken reizt: Dem Buch gelinge es,

Sachverhalte einfach und elementar darzustellen und dennoch denjenigen, der die Komplikationen kennt, fühlen zu lassen, dass die Simplizität sich von einem Hintergrund von Kenntnissen und Problembewusstsein abhebt, der unausgesprochen bleibt. Das bewahrt Sie vor ›Didaktik‹ im fatalen Sinne des Wortes.

Im Darmstädter Institut für Neue Musik und Musikerziehung konnte ich beim Generalthema Die Musik der fünfziger Jahre. Versuch einer Revision über Bernd Alois Zimmermann reden. Ich erwähne das aus einem bestimmten Grund. In Darmstadt bin ich eingesprungen: Ein Referent war ausgefallen, Dahlhaus brauchte einen Ersatz, und zwar sehr kurzfristig. Beides war ihm spürbar peinlich; am Telefon betonte er, für eine Absage hätte er jedes Verständnis. Es war also nicht so, dass der große Dahlhaus rief und man zu kuschen hatte. Er bot an, aber er diktierte nicht. Das charakterisierte auch seine Durchsicht von Manuskripten gleich welchen Formats. Schreibfehler besserte er automatisch aus – das, sagte er, sei ihm seit seiner Tätigkeit als Musikredakteur bei der Stuttgarter Zeitung in Fleisch und Blut übergegangen. Seine Anmerkungen aber, mit Bleistift an den Rand geschrieben, begnügten sich meist mit ein, zwei Worten. Ein Beispiel steht mir noch vor Augen. In einer Seminararbeit über Strawinskys Symphonie in C stand bei mir irgendwo der Begriff ›Durchführung‹. Am Rand notierte Dahlhaus »Durchführungsteil – Durchführungstechnik«. Er ließ das ohne weiteren Kommentar. Das zwang zum Nachdenken, und ich gestehe, dass mir erst damals die Differenz der Sachverhalte richtig bewusst wurde.

Die Sparsamkeit seiner Korrekturen und die Dezenz des Bleistiftes waren Ausdruck von Toleranz: Dahlhaus respektierte, so lange sie nicht sachliche Fehler oder Unklarheiten aufwiesen, die Darstellungs- und Ausdrucksweise von Autoren, denen er damit auch die letzte Verantwortung für ihre Texte zusprach. Neben allem anderen – Disziplin, Selbstkritik, Sensibilität, Menschenbezug, Fürsorge – war dies vielleicht seine nachhaltigste Qualität: Dahlhaus war ein Freigeist. Anderen ließ er alle Freiheiten, auch seinen Mitarbeitern am Institut, die er in nichts gängelte oder kontrollierte. Gerade diese Freiheit und die dadurch erzeugte, im Fachlichen wie im Menschlichen gelöste Atmosphäre setzten Kräfte frei und beförderten Leistungen: als Frucht und als Gegengabe seines Vertrauens.

Zeitgeist

Berlin-West war seinerzeit ein unangefochtenes Zentrum, mit Dahlhaus insgeheim als Mittelpunkt. Er war, ohne dass jeder sich das eingestand, ein Vorbild oder ein Widerpart. So merkwürdig das anmutet: Dahlhaus wirkte allein schon dadurch, dass es ihn gab. Hinzu kam eine einzigartige Konstellation von Persönlichkeiten und ideellen Strömungen.

Auf dem vergleichsweise engen Berliner Raum arbeiteten zahlreiche renommierte Musikwissenschaftler: Carl Dahlhaus, Rudolf Stephan – die zwei prominentesten Vertreter einer ›Berliner Schule‹; Helga de la Motte, der künstlerischen Moderne und Grenzüberschreitungen aufgeschlossen wie kein anderer; dazu weitere illustre Namen: Reinhold Brinkmann, Peter Rummenhöller, Klaus Kropfinger, Elmar Budde, Hellmut Kühn. Komponisten, Künstler, Pädagogen, Theoretiker lasse ich aus, sonst würde es uferlos. Eine Persönlichkeit muss gleichwohl genannt werden, Diether de la Motte nämlich, weil er zu Dahlhaus geradewegs einen Gegenpol abgab: De la Motte war der Paradiesvogel. Er schrieb so locker wie er sprach, sah in Kunst auch das Spiel, lebte von Phantasie, Kreativität, Unkonventionellem, war ein begnadeter Lehrer, vermochte es, Musik erleben zu lassen. Dahlhaus und de la Motte: Die Zeitgleichheit dieser zwei Großen, beide Jahrgang 1928, war ein Glücksfall, und beschenkt kann sich schätzen, wer beiden begegnen durfte.

Die Zeit ab den späten 1960er Jahren war ideell besonders: musikalisch aufregend und geistig unruhig, in einem Maße, das Jahrzehnte später gar nicht mehr richtig begreiflich zu machen ist. Neue Formen der Präsentation und des Ausführens wurden gesucht: Wandelkonzerte blühten, Improvisation wurde wiederentdeckt, Aleatorik dominierte das 1970er Jahrzehnt. Dahlhaus stand dem zurückhaltend gegenüber: Wandelkonzerte seien die institutionelle Konsequenz des Zerfalls des musikalischen Werk- und Formbegriffs; Improvisation, vermeintlich aus dem Stehgreif entstanden, stütze sich auf einen Vorrat eingeschliffener Topoi; Aleatorisches könne von einem Hörer nicht als etwas Offenes wahrgenommen werden, weil er keinen Vergleich habe.

Eine explosive Aufbruchstimmung herrschte, überall: in Politik, Gesellschaft, Kunst. Auf den Prüfstand gestellt – ›hinterfragen‹ hieß die Losung – wurde alles, nichts galt mehr als einfach hinnehmbar. Man wollte sich – ein zweites Lieblingswort – ›emanzipieren‹: Alles, was irgendeine Fessel anzulegen schien, sollte beseitigt werden, ›Systeme‹ ebenso wie ›Autoritäten‹. Das Gegenbild erschien menschenwürdiger: persönliche Freiheit und, damit einhergehend, die Hinwendung zu dem einzelnen Menschen. Ich erinnere mich, dass eine studentische Gruppe Veranstaltungen zum Thema ›Musik und Tanz‹ plante – die Idee des ›Projektstudiums‹ wurde damals geboren –, und dass sie dabei stets von sich ausging: Wichtig war an Musik nur, was sie mir gibt. Verblüffend ist nicht der Blickwinkel selbst, sondern die Ausschließlichkeit, mit der die jeweilige Sache zum Vehikel wurde und das Ich sich davor schob. Auf Seiten der Musiktheorie – so sieht es in der Rückschau aus – äußerte sich der Gedanke der Individualisierung, wenngleich unbewusst, auf spezielle Weise: in der Idee der ›individuellen Analyse‹.

Beherrschend war der Drang, alles neu zu gestalten: ein Wunsch nach Veränderung, der auch sämtliche hochschulischen Fächer erfasste, deren Inhalt, Methodik, Sinn, Stellenwert. Es brauchte nur noch jemanden, der die Kompetenz und die Kraft hatte, teils noch undeutliche Visionen (zu den ersten Sehnsüchten gehörte, dass Theorie sich auf wirkliche Musik bezieht, statt ein leeres Eigenleben zu führen) fasslich umzusetzen. Diether de la Motte gelang das: Mit seinen damals sensationellen Büchern krempelte er Musiktheorie um. In dem, was de la Motte für das Fach leistete, war er ein bewundernswerter Einzelkämpfer. Zugleich kam ihm die Gunst der historischen Stunde entgegen, mit ihrem spezifischen geistigen Umfeld und künstlerischem Klima.

Schaffen

Die Festschrift zu Dahlhaus’ 60. Geburtstag enthält ein erstes Schriftenverzeichnis. Allein an Aufsätzen sind über 400 aufgelistet, von denen – folgt man dem Verzeichnis – 48 der Musiktheorie gelten. Tücke jeder Systematik: Vieles, was unter anderen Stichworten rubriziert ist, könnte mit gleichem Recht unter ›Musiktheorie‹ stehen. Der Beitrag »Dahlhaus« in der MGG² bringt unter ›Musiktheorie‹ nur 18 Artikel. Ohnehin begnügt sich dies Schriftenverzeichnis mit einer »Auswahl« (knapp 300 Artikel sind aufgeführt), da es auf die Gesamtausgabe der Schriften verweist.

Wie auch immer man zählt und ordnet: Die Fülle von Dahlhaus’ Publikationen ist schier erschlagend. Er etablierte, wenn ich recht sehe, Aufsätze als Forum der Wissenschaft. Seine Bücher hatten es mitunter schwerer. Jedenfalls erwähnte er einmal in einer Mischung aus Verwunderung und Enttäuschung, es habe Jahre gebraucht, bis sich seine Musikästhetik durchgesetzt hätte.

Die Quantität seiner Texte ist aber nicht eigentlich das Entscheidende, sondern ihre perspektivische Vielfalt und ihre historische Spannweite. Dahlhaus öffnete dadurch auch der Musiktheorie Fenster und gab ihr eine unvergleichliche Tiefenschärfe. Musiktheorie erhielt Rang, Würde, Eigenständigkeit.

Seine Schriften setzten Maßstäbe. Sie sind grundlegend, so etwa der Aufsatz Satz und Periode. Zur Theorie der musikalischen Syntax, und sie waren von größtem Einfluss, da allseits zur Kenntnis genommen, so etwa der Vortrag Form, veröffentlicht in den Darmstädter Beiträgen zur Neuen Musik. Das in meinen Augen bedeutendste Buch sind die Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, seine Habilitationsschrift, die 1967 herauskam; und das für mich schönste Buch ist Musik zur Sprache gebracht, erschienen 1984. Für die Untersuchungen greift keine Vokabel zu hoch. Sie sind unerreicht, ein Jahrhundertwerk, eine Schatzkiste von unerschöpflichem Reichtum. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie oft Musiktheorie darin gestöbert hat und fündig wurde, ohne es zu gestehen. Musik zur Sprache gebracht vereint – zu thematischen Gruppen gebündelt und in historischer Folge – zahlreiche musikästhetische Texte, souverän kommentiert von Dahlhaus und Michael Zimmermann. Das Buch, leider nicht wieder aufgelegt, ist ein Leseschmaus und Denkvergnügen.

Man muss sich die Jahreszahlen vor Augen führen: Bereits 1960 erschien in der Schriftenreihe Musikalische Zeitfragen ein Heft mit dem Titel Die vielspältige Musik und die Allgemeine Musiklehre. Dahlhaus ist darin mit einem knappen Text Zur Kritik musiktheoretischer Allgemeinprinzipien vertreten. Die Frage nach wandelbarer ›Geschichte‹ oder allgemeingültiger ›Natur‹ ist mitgedacht, und ebenso das Spannungsfeld zwischen Historie und Systematik, das 40 Jahre später beim ersten Kongress der Gesellschaft für Musiktheorie ausdrücklich zum Thema wurde. 1966 hielt Diether de la Motte auf der Darmstädter Institutstagung einen Vortrag Reform der Formenlehre?, der auf die Forderung nach Analyse und die Skizze eines neuen Analysebuches hinausläuft, das er zwei Jahre später selbst vorlegte. Was den musiktheoretischen Wandel seit Ende der 1960er Jahre auszeichnet – die Hinwendung zur Analyse und zu geschichtlicher Differenzierung –, war bei dem Denker und Historiker Dahlhaus schon Alltag, bevor es im Fach Musiktheorie Programm wurde. Und was die Musiktheorie in einer zweiten Aufbruchwelle seit Ende des 20. Jahrhunderts beschäftigt – als einen Bereich nenne ich satztechnische Modelle, deren Breitenwirkung Hartmut Fladt begründete –, liegt schon bei Dahlhaus bereit. Ein Kapitel seiner Untersuchungen trägt den schlichten Titel Satztypen und -formeln des 15. und 16. Jahrhunderts.

Im Grunde gibt es nichts, wozu Dahlhaus sich nicht geäußert hätte: Für nahezu jeden musiktheoretischen Sachverhalt führen Wege zu ihm zurück. Sieht man genau hin, ist Dahlhaus letztlich der Urquell jener ›neuen‹ Musiktheorie, die sich in den 1970er Jahren ausbreitete.

Anspruch

1974 erhielt ich an der HdK Berlin eine Assistenz, parallel dazu begann ich mit meiner Dissertation. Das ging nicht von selbst: Als Doktorand hatte Dahlhaus mich erst angenommen, nachdem er sich – so wurde mir erzählt – kundig gemacht hatte, ob ich »gut« sei.

Einen Bonus brachte die Assistenz nicht: Die Inanspruchnahme durch einen Beruf änderte für Dahlhaus nichts an den Forderungen einer Promotion. Von acht Semestern Schulmusik-Studium rechnete er vier Semester an, aber vier weitere Semester Präsenz in seinen Vorlesungen und Seminaren erwartete er so selbstverständlich wie das Studium zweier Nebenfächer und die Absolvierung aller üblichen Seminararbeiten. Das Rigorosum war eine Tour de force, mit 60 Minuten Prüfung durch Dahlhaus in Musikwissenschaft und je 30 Minuten Prüfung in den Nebenfächern.

Von seiner eigenen maschinenschriftlichen Dissertation 1953, Studien zu den Messen Josquin des Prés schwieg Dahlhaus beharrlich. Vermutlich war ihm die Arbeit aus späterer Sicht nicht mehr gut genug. Ich glaube, dass dies seine Haltung zu Promotionen beeinflusst hat: Eine Promotion verlangt eine besondere, hohe Leistung, aber sie bleibt eine Qualifikation, sie erwartet nichts Übermenschliches und sie darf sich schon gar nicht zu einem Lebenswerk auswachsen.

Dahlhaus, das möchte ich mit diesen wenigen Bemerkungen veranschaulichen, stellte entschiedene fachliche Ansprüche. Sie waren einfach da, wie selbstverständlich, schon durch ihn selbst personifiziert, aber er stellte sie so, dass sie einen weder lähmten noch runter machten. Konnte Dahlhaus mit dem Ergebnis einer Arbeit leben, war er ebenso pragmatisch wie generös. Auf meine spätere Bemerkung, meine Dissertation über die Orchesterwerke Bernd Alois Zimmermanns sei eigentlich keine musikwissenschaftliche, sondern eine analytische Arbeit, sagte er nur »ich weiß« – und lächelte.

Die Arbeit forderte. Einen Ausgleich schuf der Hang zur Geselligkeit. Berlin-West war darin speziell. Ihre Insellage warf die Stadt auf sich selbst zurück und förderte inneren Zusammenhalt. Gern traf man sich in einer gemütlichen Kneipe, und verbreitet waren häusliche Einladungen, in wechselnd großen Runden, zu denen nicht nur Musiker gehörten. Am Abend meines Rigorosums gab es eine Feier. Zu ihr kamen Annemarie und Carl Dahlhaus, Helga und Diether de la Motte, der Komponist Frank Michael Beyer und seine Frau, Monika und Hermann Danuser, Silke Leopold, Rainer Wehinger, Michael Zimmermann, drei Kollegen aus anderen Bereichen, eine liebevolle Helferin. Warum diese Aufzählung? Weil die Feier in meiner ersten Berliner Wohnung stattfand: zwei kleine Zimmer, vierter Stock ohne Fahrstuhl, mit nicht so vielen Sitzgelegenheiten, so dass einige auf dem Bett Platz nahmen, die Jüngeren auf dem Boden kauerten, Diether de la Motte am Couchtisch kniete, einen Teller vor sich, und der Rest in die Küche auswich, in ausgerechnet den engsten Raum. Keiner war sich dafür zu schade, und keiner blieb lediglich eine halbe Stunde, um sozusagen der Höflichkeit Genüge zu tun. Die karge Umgebung trat zurück hinter dem Zusammensein und bunten Gesprächen. Das berührte tief.

Ich habe lange darüber nachgedacht, worin der innere Kern all dessen besteht, was ich hier skizziert habe, und versuche eine Antwort zu geben.

Ein Moment des Persönlichen durchzog nicht nur die Berliner Szene, sondern auch die Musiktheorie. Was sich banal anhört, ist in Wirklichkeit fundamental: Wie alles im Leben wird auch ein Fach von Menschen gemacht, und es kann umso intensiver gedeihen, wenn sie Leidenschaft haben für die gemeinsame Sache, sich aber auch auf privater Ebene begegnen, diskutieren, lachen, über alles reden: in einem Zueinander, das sich nicht auf Berufliches verkürzt. Erfahrbar wurde damals – das ist ohne jedes Pathos gemeint –, dass alles zusammen gehört: Kunst und Leben, Denken und Anschauung, Strenge und Gelöstheit, Musikalisches und Menschenbezogenes. Ein humanistischer, weiter, lebendiger Geist erfüllte die Berliner Zeiten. Dahlhaus war ihr, alle überstrahlender, Repräsentant.

Er starb im Jahre 1989. Sein Tod, ein Schock, riss ein gewaltiges Loch. Carl Dahlhaus wurde nur 61 Jahre alt. Auch darüber lässt sich lange nachdenken.

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