Popović, Tihomir (2014), »Eine ›Grille‹ in ›Händels Manier‹? Kompositionstechnik, soziale Symbolik und Dramaturgie in der zweiten Donna-Elvira-Arie aus Mozarts Don Giovanni«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 11/1, 89–97. https://doi.org/10.31751/780
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 24/07/2015
zuletzt geändert / last updated: 19/02/2016

Eine »Grille« in »Händels Manier«?

Kompositionstechnik, soziale Symbolik und Dramaturgie in der zweiten Donna-Elvira-Arie aus Mozarts Don Giovanni

Tihomir Popović

Der antikisierende Gestus der Arie »Ah fuggi il traditor« aus Mozarts Don Giovanni wurde in der Musikkritik und der Musikgeschichtsschreibung seit dem 18. Jahrhundert wiederholt thematisiert. In dem vorliegenden Beitrag wird, in Anlehnung an die Vorarbeiten Staehelins und Revers’, nach einer Deutung des Mozart’schen kompositionstechnischen Vorgangs gesucht. Dabei werden auch neue satztechnische Argumente in Bezug auf den antikisierenden Gestus der Arie vorgetragen. Diese liegen vorwiegend in der rhythmisch-metrischen Konstellation sowie der Präsenz von historischen Satzmodellen. Der Gestus der Arie wird unter einem Blickwinkel interpretiert, der auch die Ebene der sozialen Einordnung intensiv mit einbezieht: Die Musik scheint in der Arie in einer konkreten dramaturgischen Situation auch im Dienste der Repräsentation sozialer Stellungen zu stehen.

The pseudo-archaic style of the aria »Ah fuggi il traditor« from Mozart’s opera Don Giovanni has been repeatedly dealt with in musical criticism and musical historiography since the 18th-century. The present article is searching, following the preliminary studies of Staehelin and Revers, for an interpretation of the creative process Mozart was undergoing with respect to questions of compositional technique. New arguments are produced concerning the texture in reference to the pseudoarchaic style of the aria. These are predominantly based on the rhythmic-metrical constellation as well as on the presence of historical schemata. The style of the aria is being interpreted from a point of view that also gives much attention to the aspect of social classification. The music of the aria seems to help creating a dramatic situation reflecting social attitudes.

Schlagworte/Keywords: Alexander Oulibicheff; Arie »Ah fuggi il traditor«; Don Giovanni; Donna Elvira; Dramaturgie; dramaturgy; Friedrich Rochlitz; Georg Nikolaus von Nissen; Ignaz Ferdinand Arnold; Johann Carl Friedrich Triest; musical schemata; musical-rhetorical figures; musikalisch-rhetorische Figuren; Satzmodelle; Wolfgang Amadeus Mozart

Schon die frühe Mozart-Rezeption hat in der vielgestaltigen musikalischen Darstellung von Charakteren eine der markantesten Eigenschaften des Don Giovanni gesehen: So wurde dieser Aspekt des ›dramma giocoso‹ etwa in Johann Carl Friedrich Triests[1] Bemerkungen über die Ausbildung der Tonkunst in Deutschland aus dem Jahr 1801.[2] Auch der frühe Mozart-Biograph und zweite Ehemann der Constanze Mozart, Georg Nikolaus von Nissen, sah in Don Giovanni eine »Bildergalerie einzelner Schönheiten«.[3] Inzwischen dürfte die Beobachtung, dass gerade die musikalische Darstellung »verschiedenste[r] Charaktere«[4] den besonderen Wert dieser Oper ausmache, wohl als ein Truismus der Musikgeschichtsschreibung gelten. Dennoch sind manche Bezüge zwischen der Ebene der dramaturgischen Charakterdarstellung und der Kompositionstechnik in dem Da-Ponte-Mozart’schen ›dramma giocoso‹ nicht ausreichend thematisiert worden. Dazu gehören auch einige Aspekte der Arien Donna Elviras im ersten Akt des Don Giovanni.

Der antikisierende musikalische Gestus der zweiten Elvira-Arie »Ah fuggi il traditor« ist seit jeher ein Faszinosum für die Musikschriftsteller und -forscher: Im Jahr 1789, zwölf Jahre nach der Uraufführung, betonte Friedrich Rochlitz in der Allgemeinen musikalischen Zeitung, Mozart habe »sogar die Grille« gehabt, »eine Arie in seinem D. Giovanni in Händels Manier zu setzen«.[5] Ignaz Ferdinand Arnold schrieb 1803 in Bezug auf die Arie:

Ihr Stil ist schön, aber von allen anderen Piecen dieser Oper so unterschiedlich verschieden, daß ihre Ausführung bei den Vorstellungen befremdet und wie mit dem Schlage einer Zauberruthe ins das goldne Zeitalter der Bache, Händel und Hassen versetzt.[6]

Je weiter das 19. Jahrhundert fortschritt, desto kritischer wurden die Musikschriftsteller der Arie gegenüber. So schrieb etwa Alexander Oulibicheff, die Arie werde bei den Aufführungen stets ausgelassen, woran man auch gut tue: In der Nummer könne man lediglich eine »vortreffliche Studie des Contrapunctes auf [auf] gut Glück genommene Worte« sehen.[7] Im 20. Jahrhundert wurde die Arie gewissermaßen ›rehabilitiert‹: Man erkannte ihre Wichtigkeit im dramatischen Kontext, obwohl die konkreten Deutungen ihres bemerkenswerten Gestus weit auseinander gingen.[8]

Die Arie ist in der neueren Musikforschung sowohl im Rahmen von speziellen Studien zum Don Giovanni als auch als selbstständiger Forschungsgegenstand mehrmals untersucht worden.[9] Ihr antikisierender Gestus wurde insbesondere von Martin Staehelin beschrieben und mit einigen satztechnischen Argumenten untermauert.[10] Staehelins Ansatz wurde von Peter Revers ausdrücklich affirmativ rezipiert und mit Aspekten der ersten Elvira-Arie und anderen relevanten Abschnitten aus dem Don Giovanni in Verbindung gebracht.[11] Ohne andere Besprechungen der Arie zu ignorieren, knüpft der vorliegende Beitrag insbesondere an diese auch musiktheoretisch relevanten Vorarbeiten Staehelins und Revers’ an. Er stellt den Versuch einer Ergänzung ihrer Überlegungen durch Betrachtungen zur Kompositionstechnik dar und möchte eine weitere Deutung der Arie im Sinne ihrer sozialen Symbolik sowie im Kontext der Da-Ponte-Mozart’schen Dramaturgie anbieten.

Staehelin führte in seiner Besprechung der zweiten Elvira-Arie ihre wichtigsten archaisierenden Merkmale an, die hier nicht noch einmal detailliert beschrieben werden müssen: Neben der simplen formalen Anlage, der kontrapunktischen Textur, dem Verzicht auf Blasinstrumente und dem ubiquitären punktierten Rhythmus, zählen laut Staehelin auch barocke musikalisch-rhetorische Figuren Repetitio, Gradatio, Paronomasia und Hyperbaton dazu, die alle den Zweck einer Affektsteigerung haben.[12]

Diese Beobachtungen Staehelins sollten vorerst hinsichtlich des rhythmischen Aspekts ergänzt werden: Neben dem punktierten Rhythmus, der den Charakter der französischen Ouvertüre evoziert, ist in der Arie, die im Dreivierteltakt geschrieben ist, eine kontinuierliche Schwerpunktsetzung gerade auf der zweiten Zählzeit festzustellen. Bis zum Ende der ersten Textstrophe[13] (T. 1–11) fallen beinahe alle betonten Silben des italienischen Textes auf die zweite Zählzeit. Zwar gilt das in Takt 5 und 7 nicht für die Gesangslinie, aber statt dessen für den Orchesterpart. Dies trifft auch in dem kurzen Vorspiel (T. 1–2) und dem Zwischenspiel (T. 11–13) des Orchesters zu. In dem Da-capo-Abschnitt (ab T. 22) ist die Dominanz der Schwerpunktsetzung auf der zweiten Zählzeit wieder festzustellen. Allein in dem im Moll komponierten, mittleren Abschnitt der Arie, in dem die »donna abbandonata« von ihren »tormenti« berichtet (T. 14–22), wird der geschilderte rhythmisch-metrische Gestus weniger dominant. Dieses Faktum scheint auf der semantischen Ebene erklärbar zu sein, worüber weiter unten die Rede sein wird.

Die besprochene rhythmisch-metrische Konstellation der Elvira-Arie scheint einen direkten Bezug zu dem antikisierenden Ariengestus aufzuweisen: Liegt es angesichts der sonstigen Merkmale der Arie – und der Tempobezeichnung Allegro zum Trotz – nicht nahe, von einer Anspielung auf die Tanzgattung der Sarabande zu sprechen, die den antikisierenden Charakter punktierter Rhythmen unterstreicht? Diese Vermutung ist umso wahrscheinlicher, als sich die Handlung der Oper bekanntlich im alten Spanien abspielt.

* * *

Die nachfolgenden Beobachtungen zur Verwendung von Satzmodellen in der Arie sind bewusst knapp gehalten. Der Verlockung, eine umfangreiche, vergleichende Stilanalyse durchzuführen, die demonstrieren sollte, dass Mozart in diesem Fall in Anlehnung etwa an Händel[14] oder Gluck komponierte, ist zu widerstehen: zum einen, weil eine solche Analyse der zentralen Fragestellung des Beitrags – der Deutung des antikisierenden Stils im sozialen und dramaturgischen Kontext – nicht dienlich wäre, und, zum andern, weil die vergleichende Stilanalyse ohne konkrete, fallgebundene historische Belege und Parallelinformationen kaum als verlässliche Methode zur Feststellung einer vermeintlichen Anlehnung an den einen oder anderen Personalstil betrachtet werden dürfte.

Die Häufigkeit des Quintfall-Modells in »Ah fuggi il traditor« wurde bereits von Staehelin als Mittel einer archaisierenden Kompositionstechnik angesprochen.[15] Es soll hierzu noch ergänzend betont werden, dass die von Staehelin erwähnten Quintfälle (T. 4f., 6f., 8f.) auch mit Septakkorden vollzogen werden (z.B. in T. 6 und 8) und – in der Zusammenwirkung mit den punktierten Rhythmen und der Schwerpunktsetzung auf der zweiten Zählzeit – einen charakteristischen hochbarocken Gestus erschaffen.

Es sind in der Arie aber auch andere, in der bisherigen Forschung nicht berücksichtigte, Satzmodelle festzustellen, die – in ihrer Zusammensetzung und Dichte – als Elemente einer antikisierenden Tonsprache gemeint sein dürften. Sowohl im Zwischenspiel als auch im Nachspiel des Orchesters ist ein markanter, charakteristisch deszendierender Fauxbourdon-Satz festzustellen (T. 11f., 42f.), der beide Male das mit dem französischen »faux« verwandte italienische Wort »fallace« (»trügerisch«) im Arientext zu unterstreichen scheint. Dazu dient möglicherweise auch die elliptische Wendung am Ende des Modells: eine zusätzliche Bestätigung der ›Falschheit‹ Don Giovannis, über die Donna Elvira hier singt. Dieser Verweis der Fauxbourdon-Figur auf Falsches und Sündhaftes, die in der Elvira-Arie zu Tage tritt, ist aus der Figurenlehre bekannt.[16] In diesem Sinne dürfte auch der dritte Auftritt des Fauxbordon-Satzes verstanden werden (T. 17f.); denn an der entsprechenden Textstelle singt Donna Elvira über die »tormenti« (aus denen Zerlina lernen solle), die ihr aus dem Glauben an den ›falschen Wüstling‹ entstanden seien. Der Fauxbourdon-Satz beginnt in der Tat beim Wort »creder«: Der Glaube Donna Elviras an Don Giovanni war offensichtlich ein Fehler. Alle drei Verwendungen der Fauxbourdon-Technik könnten in diesem Sinne als eine direkte Bezugnahme auf eine barocke Musiksprache gedeutet werden.

Wiederholt sind in der Arie auch charakteristische Segmente der »kadenziellen« Oktavregel[17] zu finden (T. 34f., 38f.), in denen auch der – angesichts seines ›hohen Alters‹ hier vielleicht nicht zu Unrecht ›archaisierend‹ zu nennende – Sextakkord auf der zweiten Bassstufe anzutreffen ist. Darüber hinaus ist am Anfang des Da-capo-Abschnittes (T. 23f.) ein Fonte-Modell – im weiteren, nicht im Sinne Riepels[18] – zu finden, das sehr wahrscheinlich als Wortausdeutungsmittel (»Ah fuggi, fuggi«) dient. Ein dreigliedriges Monte-Modell, das möglicherweise ebenfalls einen Bezug zum dramaturgischen Kontext im Sinne der dramatischen Steigerung bei dem zuvor bereits vorgetragenen Text aufweist (»il labbro è mentitor, fallace il ciglio«), ist in den Takten 28 bis 30 festzustellen. Zwar sind diese beiden Modelle bekanntlich für die Wiener Klassik überaus charakteristisch, ihre barocke Herkunft und die Dichte, in welcher die ›barockisierenden‹ Modelle in der sehr kurzen Arie dominieren, ist – mit den bereits genannten rhythmischen Charakteristika zusammengenommen – besonders hervorzuheben. Diese ungewöhnliche Dichte sei in der folgenden Übersicht zusammenfassend veranschaulicht:

  • Quintfall (teilweise mit Septakkorden): Takt 4f., 6f., 8f.

  • Fauxbourdon mit elliptischer Schlusswendung: Takt 11f.

  • Fauxbourdon: Takt 17

  • Fonte-Modell: Takt 23f.

  • Monte-Modell: Takt 28–30

  • Aszendierendes Oktavregel-Segment: Takt 34f. sowie 38f.

  • Fauxbourdon mit elliptischer Schlusswendung: Takt 42f.

Der aristokratische Ton der Donna Elvira: Versuch einer Interpretation

Deutungen der antikisierenden Kompositionstechnik von »Ah fuggi il traditor« reichen ins frühe 19. Jahrhundert zurück. So hatte etwa Ignaz von Seyfried versucht, den (vermeintlich undankbaren) Gestus der Arie als Spitze gegen die Sängerin in der Uraufführung zu erklären: eine Annahme, die Staehelin genauso überzeugend ablehnt[19], wie er gegen die Deutung Otto Jahns und Edward Dents, der Gestus der Arie sei der einer Moralpredigt, argumentiert.[20] Dagegen bejaht Stahelin die u.a. von Hermann Abert stammende Deutung, Mozart habe in der zweiten Elvira-Arie einen »scharfen Kontrast zur ›weichen, sinnlichen Atmosphäre des Vorhergehenden‹ [gemeint ist das Duettino »Là ci darem la mano«] beabsichtigt«.[21]

Von Staehelin wurde – im Anschluss an Kantner[22] – die Verwandtschaft der zweiten Elvira-Arie mit einer Stelle aus dem Finale des zweiten Aktes unterstrichen: jener Stelle, an der Don Giovanni den vom Komtur angebotenen Händedruck akzeptiert.[23] Staehelin deutet den im punktierten Rhythmus geäußerten Gestus Elviras – wie auch jenen Don Giovannis aus dem Finale – als Symbol des »Energischen, des entschlossenen Nicht-Nachlassens«.[24] Die Arie zeigt dabei jene Entschlossenheit, mit der Donna Elvira Zerlina vor Don Giovanni retten will. Revers stimmt dieser Deutung zu und fügt – aufgrund von Analysen anderer vergleichbarer Stellen im Don Giovanni – eine neue Interpretationsebene hinzu: Der punktierte Rhythmus symbolisiere neben dem »entschlossenen Nicht-Nachlassen« in der gegebenen dramatischen Situation auch einen gewissen »Schicksalsvollzug«[25], was angesichts der Tatsache, dass Elvira in der Arie Zerlinas ›Schicksal‹ vorläufig in andere Bahnen lenkt, möglich erscheint.

Diesen Interpretationen möchte der Verfasser eine andere, soziologisch motivierte Interpretationsebene hinzufügen. Während Donna Elvira in ihrer ersten Arie, »Ah chi mi dice mai«, ein Gespräch mit sich selbst führt, wendet sie sich in ihrer zweiten Arie unmittelbar an Zerlina, die in der Nummer davor – dem Duettino »Là ci darem la mano« – von Don Giovanni zu einem sicherlich nicht ganz platonisch gedachten »innocente amor« überredet worden ist. Donna Elvira spricht mit Zerlina in einem ›Ton‹, in dem eine Aristokratin – und dadurch nicht zuletzt auch Machtträgerin des ancien régime – mit einer Bäuerin spricht: Sie stellt sich in ihrer zweiten Arie explizit als Repräsentantin des Adelsstandes vor. Das barock-prunkvolle, ›königliche‹ D-Dur – die re-Tonart auf beiden Bedeutungsebenen[26] –, die Dominanz der ›barockisierenden‹ Satzmodelle, der Rhythmus der französischen Ouvertüre und die – wenn auch weite – Verwandtschaft der rhythmisch-metrischen Konstellation mit jener der Sarabande können als Zeichen verstanden werden, die den aristokratischen Stand der Rolle symbolisieren. Dabei ist auch Elviras eigene Gesangslinie vom antikisierenden Gestus bestimmt: Sowohl das Orchester als auch Elvira selbst sprechen apodiktisch, aus den machtvollen Höhen des aristokratischen Standes. Und das wirkt – auch dramaturgisch betrachtet: Der pseudobarocke musikalische ›Machtdiskurs‹ Elviras trennt Zerlina, zumindest vorläufig, von dem prominentesten »traditor« der Operngeschichte.

Dass diese Interpretation keineswegs überzogen ist, scheint durch mehrere Argumente zusätzlich bestätigt zu werden: Erstens wird gerade im zentralen Abschnitt der Arie (T. 14–21, zweite Textstrophe), in dem Elvira nicht unmittelbar auf Zerlina einredet, sondern über ihren eigenen Verlust und Schmerz berichtet, der gesamte Gestus verändert: Die zweite Zählzeit dominiert nicht, die Sequenzmodelle dominieren weniger offensichtlich als in den Außenabschnitten, in denen Elvira unmittelbar Zerlina anspricht. Ebenso ist die Dichte der Sequenzmodelle aus »Ah fuggi il traditor« in kaum einer anderen Nummer des Da-Ponte-Mozart’schen ›dramma giocoso‹ anzutreffen. Als Gegenpol zur antikisierenden Sequenzsaturiertheit der Elvira-Arie dürfte etwa die kurz davor platzierte Arie des Masetto (»Ho capito«) betrachtet werden, die durch ihre Pendelmodelle und Dreiklangsmelodik im Orchester in offensichtlich gezielter ›Pseudoplumpheit‹ einen Bauern symbolisieren soll. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei dabei auch das Offensichtliche gesagt: Dass Mozarts musikalische Charakterdarstellung nicht einem Schwarz-Weiß-Muster folgt und dass die Präsenz von Pendelmodellen ebenso wenig stets mit Bäuerlichem in Verbindung zu bringen ist wie Sequenzartigkeit mit Aristokratischem, dürfte auf der Hand liegen.

Betrachtet man die erste Elvira-Arie im Don Giovanni, wird die hier vorgetragene, soziologisch motivierte Deutung des ›barockisierenden‹ Gestus ihrer zweiten Arie noch plausibler: In »Ah chi mi dice mai« sind mögliche Anspielungen auf die französische Ouvertüre auf zwei Ebenen festzustellen. Die erste, offensichtliche Ebene stellen die punktierten Rhythmen in den Takten 5 und 7 dar. Exzerpiert man die durch ein Forte aus ihrem Piano-Kontext hervorgehobenen Zählzeiten des Anfangs (von Takt 1 bis zur ersten Zählzeit von Takt 5), ist ebenfalls ein mehrfach augmentierter, doppelpunktierter Rhythmus das Resultat: Dem Satz wurde also auf einer übergeordneten Ebene der für die ganze zweite Elvira-Arie prägende Rhythmus zugrunde gelegt: Was in der zweiten Arie im Vordergrund angesiedelt ist, erscheint in der ersten latent.[27] Dabei finden sich beide Ebenen des punktierten Rhythmus in der ersten Elvira-Arie im Orchester: Elviras äußerst kantable Gesangslinie stellt in diesem Zusammenhang einen markanten Kontrast dar.

In der ersten Elvira-Arie scheint das Orchester die soziale Stellung der Person zu repräsentieren, während die Person selbst (durch die Gesangslinie) auf einer menschlichen statt einer sozialen Ebene vorgestellt wird. Dies steht auch völlig im Einklang mit dem Umstand, dass Elvira in ihrer Auftrittsarie ein Selbstgespräch führt. Dieses Selbstgespräch wird zwar von Don Giovanni und Leporello belauscht, die soeben aus Burgos angereiste »donna abbandonata« ist sich aber bis zum Ende der Arie dessen nicht bewusst. In »Ah chi mi dice mai« singt sie nicht als Standesrepräsentantin. In der zweiten Elvira-Arie vereinigen sich dagegen die Sängerin und das Orchester sowohl im Rhythmisch-Metrischen als auch im Melodischen zu ihrem antikisierenden Gestus: Nun spricht die Donna als Aristokratin, die sich nur wenige Moll-Takte erlaubt, in denen sie den sozial-symbolischen, aristokratischen Machtgestus teilweise ablegt.

Aus einer solchen Verschränkung von musiktheoretischen, dramaturgischen und kulturgeschichtlichen Perspektiven betrachtet, stellt sich die zweite Elvira-Arie keineswegs als »Grille« in »Händels Manier«[28] dar, die laut zeitgenössischen Berichten im 19. Jahrhundert sogar als unpassend aus den Aufführungen ausgelassen worden war.[29] Sie ist im dramaturgischen Sinne gerade in ihrer antikisierenden Gestalt notwendig. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass es in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in welchem die kritischsten Besprechungen der zweiten Elvira-Arie erschienen sind, kein Geringerer als Sören Kierkegaard war, der empfahl, die Arie Elviras nicht auszulassen. Von zwei anderen Arien aus dem Don Giovanni schrieb er sehr wohl, dass sie »besser weggeblieben« wären:[30] Der Grund dafür war, dass er diesen Arien jenen Mangel an dramaturgischer Berechtigung vorwarf, den er in der zweiten Elvira-Arie nicht fand.[31]

»Ah fuggi il traditor« kann als Resultat eines bedeutungsträchtigen dramaturgisch-kompositorischen Vorgangs aufgefasst werden, bei dem der antikisierende Musikgestus nicht als Zitat und auch nicht als Zeichen des historischen Kolorits zu verstehen ist, sondern die soziale Position einer Rolle symbolisiert und zugleich ihre Stellung in einer konkreten dramaturgischen Konstellation definiert.[32] Dass solche Deutungen historisch-kompositionstechnischer Vorgänge keinen Anspruch auf universale Geltung haben, sondern dass immer wieder versucht werden soll, Vorgänge dieser Art kontextbezogen zu interpretieren[33], stellt eine große Schwierigkeit, aber wohl auch den Wert einer historisch orientierten Analyse dar, sofern sie versucht, semantische Aspekte mit einzubeziehen.

Anmerkungen

1

Vgl. Triest 1801.

2

Vgl. hierzu Krones 1990, insbesondere 341–351.

3

Nissen 1828, Anhang, 111.

4

So Krones 1990, 346 (Hervorhebung original) mit Bezug auf Kanne 1818.

5

Rochlitz,1798/99.

6

Vgl. Arnold 1803, 313f. Weitere Zeugnisse historischer Rezeption in Staehelin 1982, 69–71.

7

Oulibicheff 1847, 155.

8

Vgl. Staehelin 1982, 70f.

9

Etwa von Staehelin (1982), Allanbrook (1983, 233–257), Kunze (1984, 403–407; hier steht allerdings die Auftrittsarie Elviras im Fokus), Steptoe (1988, 201), Alcalde (1992, 135f.) sowie Revers (1993). Zu älteren Besprechungen siehe Staehelin 1982, insbesondere 69f.

10

Staehelin 1982.

11

Revers 1993.

12

Vgl. Staehelin 1982, 68f.

13

Die Terminologie wurde hinsichtlich der Formaspekte weitestgehend von Alcalde (1992) übernommen, dessen Studie sich vordergründig den Fragen der Form im Don Giovanni widmet.

14

Eine gelungene Analyse von Mozarts Haltung Händel gegenüber ist in Konrad 2008 zu finden.

15

Vgl. Staehelin 1982, 69.

16

Vgl. hierzu etwa Bartel 1997, 158.

17

Vgl. Froebe 2008, 373.

18

Dass die Begriffe ›Monte-‹ und ›Fonte-Sequenz‹, wie Froebe (2008, 373) schreibt, »genaugenommen das von Riepel Gemeinte« verfehlen, ist sicherlich richtig. Der Präzision halber sei daher betont, dass die Ausdrücke ›Fonte-‹ und ›Monte-Modell‹ hier entkontextualisiert sind und eine pragmatische Erweiterung der Riepel’schen Begriffe darstellen. Hier ist also mit den beiden Begriffen nicht die ›syntaktische‹ Positionierung, sondern lediglich die harmonische Zusammensetzung gemeint.

19

Staehelins Behauptung, dass zur Konstruktion Seyfrieds jegliche Parallelinformationen fehlen und sie eher wie eine »nachträglich erfundenen Ätiologie« wirke (1982, 71), ist hier nichts entgegenzusetzen.

20

Ebd., Staehelin merkt hier treffend an, dass die Kompositionstechnik der Arie keineswegs nur mit dem kirchlichen Raum in Verbindung gebracht werden könne. Ein Klosterbezug Donna Elviras, bekannt aus einem Teil der Don-Juan-Überlieferung, fehle bei Da Ponte (ebd., 84, Anm. 16); und dass Elvira eine Zukunft als Klosterfrau erwarte, sei an dieser Stelle der Oper auch noch nicht bekannt (ebd., 71).

21

Staehelin 1982, 72, unter Bezugnahme auf Hermann Abert (1924, 496f.).

22

Kantner 1975, 161.

23

Vgl. Staehelin 1982, 76.

24

Ebd.

25

Vgl. Revers 1993, 853f.

26

Vgl. hierzu im Kontext des Don Giovanni etwa Krones 1990, 352. Zur Tonartensymbolik im Don Giovanni vgl. auch Konrad 1987.

27

Kunze (1984, 403f.) war offensichtlich diesem auch Gedanken auf der Spur.

28

Vgl. Anm. 4.

29

Vgl. oben sowie Staehelin 1982, 69f.

30

Es handelt sich um zwei Arien Don Ottavios und Donna Annas (vgl. Kierkegaard 2008, 103).

31

In Kierkegaards Schrift nimmt die Rolle der Donna Elvira auch sonst eine bedeutende Position im Don Giovanni ein (vgl. ebd., insbesondere 102f., 154–163). Zu Kierkegaards Mozart-Rezeption siehe insbesondere Tschugnall 1992.

32

Eine andere psychologisch-dramaturgische Ebene der Deutung bietet Ulrich Konrad (2008, 20–23).

33

Einen vergleichbaren Schluss zieht Klassen in Bezug auf die Figurenlehre (vgl. 2006 und die dort angeführte Literatur).

Literatur

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Tschugnall, Peter (1992), Sören Kierkegaards Mozart-Rezeption: Analyse einer philosophisch-literarischen Deutung von Musik im Kontext des Zusammenspiels der Künste (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 20: Philosophie, Bd. 364, zugleich Phil. Diss., Innsbruck), Frankfurt a.M. u.a.: Lang.

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