Luchterhandt, Gerhard (2012), »Vom Einfall zum Gedanken. Arnold Schönbergs Tonalitätsdenken und dessen Entwicklung seit der Harmonielehre«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 9/2, 197–225. https://doi.org/10.31751/685
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 15/03/2013
zuletzt geändert / last updated: 04/09/2014

Vom Einfall zum Gedanken

Arnold Schönbergs Tonalitätsdenken und dessen Entwicklung seit der Harmonielehre

Gerhard Luchterhandt

Was Arnold Schönbergs Tonalitätsdenken betrifft, ist in seinen theoretischen Schriften eine deutliche Entwicklung hin zum Konservativismus erkennbar. Hatte seine Harmonielehre (1911) noch das Zustandekommen von Tonalität untersucht und mit einem zukunftsoffenen, pantonalen Deutungsanspruch verbunden, verschiebt sich der Blickwinkel in den 1920er Jahren: Parallel zur Entwicklung der Zwölftontechnik gerät nun stärker die Funktion der Tonalität als eines unter mehreren Zusammenhang bildenden Verfahren in den Blick. Der Konservativismus der späten amerikanischen Lehrwerke lässt sich allerdings wohl nur teilweise auf diesen Perspektivwechsel zurückführen – er dürfte eher pragmatische Gründe gehabt haben. Schönbergs partielle Rückkehr zu einer mutig experimentierenden tonalen Schreibweise (op. 38–40) Ende der 1930er Jahre zeigt nämlich, dass seine ursprüngliche Haltung zur Tonalität zumindest kompositorisch noch präsent war.

Schlagworte/Keywords: Arnold Schoenberg; Arnold Schönberg; coherence; Gedanke; Harmonielehre; harmonische Tonalität; idea; musical space; musikalischer Raum; theory of harmony; Tonalität als Prozess; tonality; tonality as process; Zusammenhang

»Aber sie wissen, worauf es ankommt, aufs Suchen!«[1]

Wenige Jahre nach der Fertigstellung seiner ersten sogenannten atonalen Kompositionen erschien 1911 Arnold Schönbergs Harmonielehre, die als seine bedeutendste theoretische Schrift gilt.[2] Für Schönberg war sie der Anfang einer lebenslangen Auseinandersetzung mit musiktheoretischen Fragen, die sich in zahlreichen Essays und Lehrwerken niedergeschlagen hat. Tonalität ist in vielen dieser Texte das zentrale Thema; in anderen wird sie zumindest selbstverständlich vorausgesetzt.[3] Das Verhältnis von Schönbergs theoretischen Schriften zu seiner kompositorischen Entwicklung ist nur scheinbar paradox; denn auch der Zwölftonkomponist Schönberg kehrte – offenbar auf der Suche nach »ungenutzten Möglichkeiten« – immer wieder zur tonalen Schreibweise zurück. Diese tonalen Einschübe reichen von den Nebenwerken und Handgelenksübungen der 1920er Jahre bis zu den späten neotonalen Hauptwerken der amerikanischen Zeit.[4] Der vorliegende Beitrag versucht, die Entwicklung von Schönbergs theoretischer und pädagogischer Haltung zur Tonalität seit der Harmonielehre nachzuzeichnen.[5]

I. Künstlerisches Leitbild und pädagogische Intention der Harmonielehre

Die Harmonielehre versteht sich als Lehrwerk für angehende Komponisten, mit dem Schönberg seine pädagogische Eignung und seine Ambitionen auf ein akademisches Amt dokumentieren wollte.[6] Gleichzeitig stellt sie eine Standortbestimmung des Komponisten Schönberg dar. Insofern verbindet sich hier viel Selbstreflexion mit den tatsächlichen pädagogischen Zielen, so dass die eigentliche Intention des Werkes nicht leicht auf einen Nenner zu bringen ist. Der Kurs des Buches vom Traditionellen und Elementaren zur zeitgenössischen Entwicklung dient unverkennbar der handwerklichen Absicherung: Schönberg wollte offenbar den Beweis antreten, dass seine aktuelle kompositorische Entwicklung trotz ihrer Radikalität fest auf dem Boden der Tradition stand. Wenn Schönberg dabei auf die Funktion seines Buches als Handwerkslehre großen Wert legte, so war das weniger Bescheidenheit als tiefempfundene Skepsis gegenüber Systemen, welche die Einschränkung seiner eigenen künstlerischen Freiheit bedeutet hätten. Der Handwerksbegriff ließ sich ästhetisch neutral und zukunftsoffen verwenden und war nicht an musikalische ›Weltanschauungen‹ gebunden. In Wirklichkeit geht die Harmonielehre aber über die reine Handwerksvermittlung weit hinaus: Schönbergs viel zitierte Feststellung, seinen Schülern eine »schlechte Ästhetik genommen« zu haben[7], fasst die Haltung des Buches zusammen, das von Anfang an auf die Ausbildung einer eigenständigen künstlerischen Urteilsfähigkeit zielt. Konterkarierend wirkt hier immer wieder Schönbergs Geniedenken, das grundsätzlich am Sinn künstlerischer Unterweisung zweifelt und damit sein eigenes Buch in Frage stellt.

Als Lehrgang baut die Harmonielehre den Stoff schrittweise vom Einfachen zum Komplexen hin auf und führt den Schüler an die neuesten Erscheinungen der tonalen Harmonik heran. Neuartig ist das Buch vor allem im Hinblick auf die Behandlung des Stoffes im Detail. Hier verrät nicht zuletzt der Sprachstil die Herkunft aus Schönbergs Lehrpraxis. Sein Anliegen ist nicht nüchterne Stoffvermittlung – insofern ist die Harmonielehre als Nachschlagewerk für bündige Definitionen völlig ungeeignet –; vielmehr spiegelt das Buch einen Schüler-Lehrer-Dialog[8], der auf allen Ebenen das Prinzip unvoreingenommenen Abwägens vermittelt. Durch zahllose Exkurse ins Grundsätzliche wird der Leser zudem immer wieder mit elementaren pädagogischen und künstlerischen Sinnfragen konfrontiert:

Und er [der Schüler] sieht die Schönheit in jenem ewigen Ringen nach Wahrheit, erkennt, daß Erfüllung immer das Ziel der Sehnsucht ist, leicht aber das Ende der Schönheit sein könnte; begreift, daß Harmonie – Ausgeglichenheit – nicht Bewegungslosigkeit untätiger Faktoren, sondern Gleichgewicht aufs höchste angespannter Kräfte ist.[9]

Zwei Grundsätze beherrschen die Harmonielehre:

1. Was Schönberg hier – in sehr dynamischer Auslegung des Harmoniebegriffs – als »Gleichgewicht höchst angespannter Kräfte« idealisiert, zieht sich als roter Faden durch das Buch, dessen Stoffpräsentation auf allen Ebenen vom Prinzip des Austarierens gegensätzlicher Kräfte durchdrungen ist.

2. Schönberg trennt zwischen Substanz und Entwicklung – dem bloßen Potential an Eigenschaften und dem Prozess ihrer Herausarbeitung. Priorität hat Letzteres: Dass der Weg, den etwas nimmt, stärker seinen Charakter formt als seine (physikalische) Ausgangssubstanz, ist eine der Grundideen, auf der Schönbergs Kunstauffassung basiert:

[…] Die Kunst ist nicht ein Gegebenes wie die Natur, sondern ein Gewordenes. Hätte also auch anders werden können. Da ist vielleicht oft für dieses Gewordene der Weg, auf dem es geworden ist, die Entwicklung, charakteristischer als die Natur, aus der es geworden ist.[10]

Organisches Denken durchzieht die Harmonielehre auf mehreren Ebenen: Der Verlauf eines einzelnen Kunstwerks, derjenige der Musikgeschichte im Ganzen und derjenige der künstlerischen Entfaltung einer Person erscheinen jeweils als Prozesse, die auf unterschiedlicher Ebene stattfinden und einander durchdringen. Sie werden von drei ›handelnden Instanzen‹ getragen, die Schönberg quasi absolut setzt: Diese sind der Einfall, wiederum das Kunstwerk und der beides verantwortende Künstler.

1. Der Einfall. Nach Schönbergs Überzeugung verdanken sich Qualität und Folgerichtigkeit einer Komposition letztlich inneren Quellen, deren Wirken dem Komponisten unbewusst bleibt:

Ich habe erlebt, wie mein Verstand es mir unmöglich machte, einen schlechten Einfall zu verbessern, und habe mir gesagt, daß das kein Zufall sein kann. Daß hier ein Gesetz liegen muß. Dieses Gesetz lautet: Der Einfall. […] Ich entscheide beim Komponieren nur durch das Gefühl, durch das Formgefühl. […] Jeder Akkord, den ich hinsetze, entspricht […] einem Zwang meines Ausdrucksbedürfnisses, vielleicht aber auch dem Zwang einer unerbittlichen, aber unbewußten Logik in der harmonischen Konstruktion. […] ich kann als Beweis dafür anführen, daß Korrekturen des Einfalls aus äußerlich formalen Bedenken […] den Einfall meist verdorben haben.[11]

Auf diese Weise erklärt Schönberg »Einfall« und »Formgefühl« zum einzigen Kriterium des kompositorischen Entscheidungsprozesses. Dessen Resultate werden durch die Berufung auf innere Folgerichtigkeit oder gar »Zwang« letztlich vor jeder Kritik abgeschirmt. Insofern wirkt diese Passage auch wie eine Verteidigung der eigenen künstlerischen Freiheit.

2. Das Kunstwerk. Das abgeschlossene Kunstwerk ist für Schönberg offenbar das Maß aller Dinge.[12] Man darf sich die Musikgeschichte aus seiner Perspektive wohl als gleichsam frei schwingende Kette von Meisterwerken vorstellen: Erst rückblickend ordnet sich der freie und individuelle künstlerische Akt, der jede dieser Schöpfungen hervorgebracht hat, einer allgemeinverständlichen, möglicherweise in Form von Gesetzen erfassbaren geschichtlichen Entwicklung unter.[13] Dahinter steht ein Freiheitsdenken, das zwar den stetigen Fortschritt der abendländischen Musik konstatiert, daraus aber keine Lizenzen für die Zukunft ableiten möchte.[14]

3. Das künstlerische Individuum. Ungeachtet aller Weltgeist- und Fortschrittsmetaphorik zielt die Harmonielehre primär auf die Emanzipation des Individuums, dessen kompositorischer Kreativität – das suggerieren die spekulativen Schlusskapitel – die Entdeckung des »Neuen«[15] überlassen bleibt. Diesen pädagogischen Intentionen entspricht eine dialektische Lehrmethode, die auch für Schönbergs Unterrichtspraxis verbürgt ist: Der Stoff wird nach dem Prinzip des laborartigen Erforschens aller Möglichkeiten ausgebreitet und der Beurteilung durch den Schüler ausgesetzt. Die Ambivalenz von Bindung und Freiheit, die sich durch das ganze Buch zieht, wird dabei zum pädagogischen Prinzip: In zahllosen Übungsreihen fordert Schönberg zunächst äußerste Disziplin in der Einhaltung von Regeln, die er aber später wieder in Frage stellt. Hierbei wird der Schüler schrittweise geführt, indem das verwendete Material an Komplexität zunimmt, verbunden mit wachsender Freiheit seiner Verwendung. Die Kunstgesetze, denen Schönberg grundsätzlich misstrauisch begegnet[16], werden dadurch zu Spielregeln mit begrenzter Gültigkeit herabgestuft:

Wir werden sie beruhigt fallenlassen dürfen, sowie unsere Mittel reicher, unsere Möglichkeiten, dem Material Wirkungen abzuringen, also größer werden.[17]

Methodisch wird die Kultur des Suchens, Vergleichens und Ausbalancierens in sich weitenden Grenzen auf vielen Ebenen vermittelt:

1. Schönberg legt wenig Augenmerk auf isolierte akkordische Phänomene, vielmehr ist der Schüler von Anfang an dazu angehalten, Akkordfolgen zu erfinden und deren Elemente auf ihre relative Zweckmäßigkeit hin zu untersuchen.

2. Die Erläuterung harmonischer Phänomene geschieht fast ausschließlich mit Hilfe exemplarischer Sätzchen. Literaturbeispiele werden kaum angeführt.

3. Der Weg als Ziel: Schönberg vergleicht und diskutiert viele – möglichst sogar alle – Alternativen. Immer wieder betont er, dass das Ziel im Suchvorgang selbst liege.[18]

4. Die Beurteilung des Gefundenen geschieht nicht prinzipiell in richtig oder falsch, sondern abwägend in besser und schlechter und entspricht damit einer alten Tradition kontrapunktischer Unterweisung.[19]

5. Der Stoff ist weniger nach systematischen Gesichtspunkten als nach dem Grad tonaler Komplexität angeordnet. Schönberg hat dabei jederzeit das Gleichgewicht zwischen tonalen Zentrifugal- und Zentripetalkräften im Blick, welches herzustellen Aufgabe des Schülers ist. Bezeichnend ist, dass Schönberg das Thema Modulation nicht en bloc präsentiert, sondern so dosiert, dass jeweils genügend harmonische Mittel bereitstehen, um ›Gegengewichte‹ bilden zu können.

6. Die Wechselwirkung besteht auch pädagogisch: Der Schüler lernt vom Lehrer, und der Lehrer lernt vom Schüler.[20]

II. Zum Tonalitätsbegriff der Harmonielehre

Der Hauptgegenstand der Harmonielehre, die Tonalität, wird in der Erstauflage zwar immer wieder erwähnt, jedoch nirgends definiert. Schönberg mag dies später als Mangel empfunden haben; denn in der Neuauflage bemüht er sich um eine Konkretion:

Die Tonalität ist eine sich aus dem Wesen des Tonmaterials ergebende formale Möglichkeit, durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit zu erzielen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, im Laufe eines Tonstücks nur solche Klänge und Klangfolgen, und beide nur in solcher Anordnung zu verwenden, daß die Beziehung auf den Grundton der Tonart des Stückes, auf die Tonika, unschwer aufgefaßt werden kann. […] 1. daß ich sie nicht halte, wofür sie scheinbar alle Theoretiker vor mir gehalten haben: für ein ewiges Gesetz, ein Naturgesetz der Musik, obwohl dieses Gesetz den einfachsten Bedingungen des naturgegebenen Vorbilds, des Tons und des Grundakkords, entspricht; daß es aber 2. für den Schüler unerläßlich ist, alles das, worauf diese Wirkung beruht und wie sie erzielt wird, eingehend kennen zu lernen.[21]

Das Zitat enthält drei Bestimmungen der Tonalität: 1. Tonalität ist ein Verfahren[22] zur Erzielung von Geschlossenheit, das sich aus natürlichen Eigenschaften des Tonmaterials herleiten lässt. 2. Sie kommt im einzelnen Werk dadurch zustande, dass Klangfolgen auf einen gemeinsamen Grundton bezogen sind und diese Beziehungen vom Hörer auch erfasst werden können. 3. Die Bedingungen, unter denen tonale Zusammenhänge entstehen, müssen erlernt werden.

Hinter diesen Bestimmungen steht ein in mehrfacher Hinsicht ›handlungsorientierter‹ Tonalitätsbegriff: In einem allgemeineren Sinn versteht Schönberg unter Tonalität ein Verfahren; als »Tonart« im engeren Sinn ist sie aber kein anwendbares System, sondern entsteht in jedem Werk auf unverwechselbare Weise neu[23]; schließlich bedarf sie der Realisation durch den subjektiv wahrnehmenden Hörer.[24] Die je konkreten Ausprägungen von Tonalität gehören zu jenem individuellen strukturellen Gehalt einer Komposition, den Schönberg später als ›Gedanken‹ bezeichnete. In diesem Universalbegriff bündelt sich die ästhetische Forderung, die Beziehungen zwischen den musikalischen Elementen eines Stückes niemals automatisiert nach allgemeinen Gesetzen ablaufen zu lassen, sondern vollständig durch einen werkspezifischen gedanklichen Prozess kontrolliert zu wissen. Konkret heißt das: Harmonien verbinden sich weniger durch ›natürliche Verwandtschaft‹ miteinander als vielmehr durch (möglichst motivisch begründete) Stimmführung[25]; folglich ändert sich ihre Wertigkeit abhängig von den musikalischen Zusammenhängen, in die sie gestellt sind. Modulationen verbinden diesem Verständnis nach nicht einfach tonale Zentren, sondern existieren als mit Bedeutung belegte Wege.[26] Der Idealfall »schwebender Tonalität« bedarf eines ständigen Ausgleichs der Kräfte.[27] Insofern ist das Tonalitätskonzept der Harmonielehre (noch) umfassend; denn in Schönbergs Vorstellung vom organischen Werkzusammenhang bildet die Tonalität gleichsam das Bewusstsein.

Natürliche Fundierung der Tonalität im einzelnen Ton

Nach Schönberg sind im Grundton eines Stückes, genauer gesagt: in den unterschiedlichen Verwandtschaftsgraden der Obertöne bereits alle Klangbeziehungen angelegt.[28] Mit der Rückführung aller harmonischen Beziehungen auf ein Urprinzip scheint Schönberg die Harmonielehre in den Rang einer Grundlagentheorie zu erheben.[29] Der darin implizierte stufenweise Übergang zwischen Konsonanz und Dissonanz dient ihm später als Begründung der »Emanzipation der Dissonanz«.[30]

Ungeachtet des pantonalen Potentials, das in jedem Grundton steckt und aufgrund dessen auch die vermeintlich unverständlichste Dissonanz als Teil eines tonalen Zusammenhangs aufgefasst werden kann[31], muss Tonalität herausgearbeitet werden, um diese Fasslichkeit zu ermöglichen. Dies geschieht durch das ständige Austarieren von Kraft und Gegenkraft:

Es ist klar, daß eine Tonart schon allein durch ihre I. Stufe bestimmt werden könnte; insbesondere, wenn der nicht widersprochen wird. Freilich, jeder Akkord, der sich an die I. Stufe reiht, muß als Abschweifung vom Hauptton von der Tonart ablenken. […] Je öfter und mit je stärkeren Mitteln widersprochen wird, desto stärker müssen die Mittel sein, die die Tonart wieder herstellen. Aber je geringer die harmonischen Ereignisse waren, desto einfacher wird auch die Reparatur sein.[32]

Indem er das Zustandekommen von Tonalität als Prozess von Bestätigung und Widerspruch darstellt, offenbart Schönberg ein dialektisches Tonalitätsverständnis, dessen wesentliches Kennzeichen ein permanenter historischer Lernprozess ist: Einstmals singuläre, tonalitätsgefährdende Ereignisse werden ins System eingebunden und dadurch allgemeinverständlich. Auch der Hörer durchläuft diesen Lernprozess, indem sein Aufnahme- und Verarbeitungsvermögen stetig wächst.[33] Die Harmonielehre zeichnet diesen Prozess nach, indem das zunächst Neue hernach zum Erprobten wird, für das weniger strenge Regeln gelten.[34] Die grundsätzliche, aus der Obertonreihe abgeleitete Hierarchie tonaler Spannungsgrade bleibt dabei allerdings erhalten.[35] Das zeigen die Notenbeispiele im vorletzten Kapitel, mit denen Schönberg demonstriert, wie neuere Klänge (Quarten und Ganztonakkorde) »aufzulösen« sind.[36]

Innerhalb der konventionellen Grenzen des zwölfstufigen Systems[37] kann Tonalität nach Schönberg in unterschiedlichen Graden von Deutlichkeit herausgearbeitet werden:

Es können also von dem Wesen der Akkorde und ihrem Verhältnis zum Grundton Erkenntnisse abgeleitet werden, die zur Konstatierung folgender Funktionen führen: 1. Die Abweichungen vom Grundton und sein Auftreten sind derart, daß trotz aller aufgewendeten, noch so entfernt liegenden Neubildungen der Nebentöne die Tonalität schließlich siegt. Das wäre dann eigentlich eine erweiterte Kadenz, wie sie im Grunde jedem noch so großen Tonstück als harmonischer Plan dient. 2. Die Abweichungen führen zur Erreichung einer neuen Tonalität. Das ist der Fall, wie er im Laufe eines Stückes fortwährend, da aber nur scheinbar vorkommt, denn diese neue Tonalität hat in einem geschlossenen Stück nicht selbständige Bedeutung, sondern ist nur eine ausgeführtere Form der Triebe der Nebenklänge, die im tonartlich geschlossenen Stück dennoch immer Nebenklänge bleiben. 3. Der Grundton tritt von vornherein nicht eindeutig bestimmend auf, sondern läßt die Rivalität anderer Grundtöne neben sich aufkommen. Die Tonalität wird sozusagen schwebend erhalten, der Sieg kann dann einem der Rivalen zufallen, muß aber nicht. 4. Die harmonische Disposition neigt von vornherein nicht dazu, die Vorherrschaft eines Grundtons aufkommen zu lassen. Es entstehen Gebilde, deren Gesetze nicht von einem Zentrum auszugehen scheinen, mindestens aber ist dieses Zentrum nicht ein Grundton.[38]

Wie fast überall in der Harmonielehre, lehnt sich der Tonalitätsbegriff hier an denjenigen der Tonart[39] an, ist aber unterschiedlich eng verwendet: Zunächst bezeichnet er die Konvergenz zu einem bestimmten Grundton (1. und 2.) – die »siegende Tonalität« ist de facto eine konkrete Tonart, die sich durchsetzt; durch Modulation können vorübergehend andere Tonarten (»neue Tonalität«) gelten.[40] Bei »schwebender Tonalität« handelt es sich aber wohl weniger um eine Tonart, die schwebt, als vielmehr um ein Bündel mehrerer »rivalisierende[r] Tonalitäten«.[41] Die letzte Stufe wird von Schönberg später als »aufgehobene Tonalität« bezeichnet.[42]

Modulation

Den thematischen Schwerpunkt der Harmonielehre bildet die Modulation. Schönbergs Umgang mit diesem Phänomen unterscheidet sich von anderen zeitgenössischen Harmonielehren; denn er demonstriert daran sein zentrales Ausbildungsziel, die Suche nach individuellen harmonischen Wegen. Entsprechend ist die Behandlung der Modulation nicht auf ein Kapitel beschränkt, sondern über viele Abschnitte hinweg ausgebreitet. Unterschieden wird dabei allein nach dem Entfernungs- bzw. Verwandtschaftsgrad zweier tonaler Zentren, der in Quinten gemessen wird; die heute übliche Typologie (diatonisch, enharmonisch, chromatisch), die auf Louis-Thuille zurückgeht, spielt bei Schönberg keine Rolle. Da Modulation per se eine Infragestellung der Grundtonbezogenheit bedeutet, werden für jede Entfernung immer wieder neue harmonische Mittel bereitgestellt. Dabei hat die Priorität des Weges und des Austarierens praktische Konsequenzen: Akkorde, die einen raschen Weg in neue Tonarten versprechen, werden zwar benutzt, um tonale Zusammenhänge aufzuweichen; ihre Verwendung als modulatorisches Patentrezept lehnt Schönberg aber ausdrücklich ab. Stattdessen fordert er einen langsamen und harmonisch reichen, ggf. sogar in Teilstücke zerlegten Modulationsweg.[43] Bezeichnend für seine Auffassung von »unendlicher Harmonie«[44] ist seine mehrfach geäußerte Skepsis gegenüber tonalen Schematismen wie Wiederholung und Sequenz[45] sowie der prinzipielle Zweifel an der Notwendigkeit definitiver Schlusswendungen.[46]

Harmonie und (chromatische) Stimmführung

Auch in der Harmonielehre ist Tonalität zunächst ganz traditionell an Dreiklänge bzw. Terzschichtungen sowie Fundamentbeziehungen geknüpft. Bereits zu Beginn des Buches betont Schönberg jedoch die Wichtigkeit einer gleichberechtigten Verbindung von Melodie und Harmonie:

[…] für unsere heutige Musik sind seit mindestens vierhundert Jahren beide Methoden, die harmonische und die polyphone, in gleicher Weise entwicklungstreibend gewesen. Es geht daher kaum an, die Akkorde nur auf dem einen der beiden Prinzipien aufzubauen […][47]

Im Laufe des Buches begegnen dem Leser zahlreiche Hinweise auf die Wichtigkeit horizontalen Denkens; sie zeigen, dass der Kurs der Harmonielehre eigentlich auf eine »Rechtfertigung durchs Melodische allein« abzielt.[48] Zu den Besonderheiten, die sich weder in eine harmonische noch eine kontrapunktische Schublade einordnen lassen, gehören Schönbergs so genannte Wendepunktgesetze.[49]

Proportional zur wachsenden Komplexität des Akkordmaterials löst sich das Beziehungsnetz, welches der Schüler ›entdeckt‹, um damit tonartliche Vorgänge im Gleichgewicht zu halten, allmählich von den Voraussetzungen der Diatonik: Mit den »vagierenden Akkorden« bezeichnet Schönberg eine Klasse von Klängen, deren harmonische Funktion nicht mehr auf eindeutigen Fundamentbeziehungen beruht. Die Rechtfertigung solcher Phänomene geschieht über die Stimmführung als Ersatz für fehlende Stufenbeziehungen. Schönberg legt Wert darauf, dass diese Stimmführung motivisch bedingt sein müsse. Da aber im Rahmen eines Harmonielehrebuchs keine motivischen Zusammenhänge untersucht werden können, gewinnt die Fortschreitung in Halbtonschritten überragende Bedeutung: Die Leittönigkeit in allen Stimmen bewirke, so Schönberg, »überzeugendere, zwingendere weichere Akkordverbindungen«.[50] Auf diese Weise wird die Chromatik zum universellen Verknüpfungsprinzip, das sich im Einzelfall nicht weiter rechtfertigen muss.[51] Funktionsanalyse und Fundamentschritttheorie verlieren an Bedeutung.[52]

›Dialektische‹ Einführung der Chromatik

Der Chromatik – inbesondere der chromatischen Stimmführung – nähert sich Schönberg vorsichtig. Der Schüler lernt als erstes das Denken in leitereigenen Beziehungen; auch Zwischendominanten dürfen in dieser Phase nur unter strikter Beachtung der Wendepunktgesetze – d.h. einer Vermeidung chromatischer Schritte – verwendet werden.[53] Die anschließende Einführung der Chromatik steht zunächst im Dienst kadenzieller Eindeutigkeit: Durch chromatische Schritte erreichte Leittöne scheiden, so Schönberg, in der Wahrnehmung als »leitereigen« aus, so dass ihre Auflösungen nicht tonikal aufgefasst und damit der Tonart nicht ›gefährlich‹ werden können. Jetzt dürfen die Schüler die Neutralisationsgesetze umgehen, weil ihr Bewusstsein inzwischen für den Sinn der Gesetze – den Ausgleich zwischen zentrifugalen und zentripetalen Tendenzen im Umgang mit Zwischendominanten – sensibilisiert worden ist. Diese sehr behutsame methodische Behandlung der Chromatik verrät viel über Schönbergs Philosophie des Austarierens: Tonalität – die Darstellung einer Tonart – beruht von Anfang an auf einem Ausgleich zwischen ›Klarheit‹ und ›harmonischem Reichtum‹. Gleichzeitig zeigt sich hier Schönbergs didaktische Methode, das bequemere Verfahren erst zuzulassen, wenn der Umgang mit dem Problem unter verschärften Bedingungen geübt worden ist.

Implikationen

Der in der Harmonielehre angedeutete Prozess der Tonalitätsentwicklung entspricht einer dauernden ›Bewusstseinserweiterung des Materials‹. Dementsprechend muss der Komponist unentwegt nach Neuem trachten; denn in dem Maße, wie Phänomene schließlich tonal gewendet werden, verlieren sie ihre ›Unschuld‹ und können immer weniger eine antithetische Rolle spielen. Diese Ästhetik bevorzugt demzufolge einen Idealzustand des In-der-Schwebe-Haltens.[54] Die Relevanz allgemeinverständlicher, anwendbarer harmonischer Muster, die Tonalität garantieren, wird eher zurückhaltend beurteilt.[55] Der gelegentliche Hinweis auf »Gebräuchlichkeit« suggeriert zwar eine Konzentration auf Gemeinverständliches, doch hat streng genommen individuell gefundene Harmonik Priorität. Zwingende Gesetzmäßigkeiten müssen gegenüber dem subjektiv verantworteten Kompositionsprozess zurücktreten (»Hätte auch anders werden können«). Noch 1927 argumentiert Schönberg ähnlich, wenn er den scheinbar gesetzlichen Zusammenhang zwischen Klangkomplexität und tonaler Konvergenz auf den Kopf stellt:

Abbildung

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Beispiel 1: Schönberg 1976g, 229f. (Beschriftungen original)[56]

Was Schönberg hier zeigen will, ist klar: Die Tatsache allein, dass Mehrklänge bekannten Akkordtypen entsprechen, konstituiert noch keine Tonart. Erst die Abfolge der Akkorde, die zugleich eine sinnvolle Abfolge von Fundamenten bilden muss, lässt die Auffassung einer Tonart entstehen. Umgekehrt beweist das zweite Beispiel, dass sich Akkorde, die keinem standardisierten Typ entsprechen, in eindeutiger Weise tonal gruppieren lassen. Die vertikale und horizontale Dimension der Tonalität müssen nicht notwendigerweise ›harmonieren‹. Schönbergs Bewertung beweist erneut, dass für ihn die Klangrelationen ausschlaggebend sind. Schönberg bleibt sich hier treu: Besonders seine komplexen tonalen Frühwerke bis zum 2. Streichquartett op. 10 zeigen, dass der tonale Verständnisgrad eines einzelnen Akkordes manchmal weit hinter seiner motivisch und satztechnisch vermittelten Rolle innerhalb einer Akkordfolge zurücktritt.[57] Dem entsprechend kennt sein Tonalitätsverständnis kein ›ganz oder gar nicht‹, sondern bewegt sich im vieldeutigen Zwischenbereich des ›weniger oder mehr‹.

Seine progressiven Tonalitätsvorstellungen vermag Schönberg allerdings nicht ganz durchzuhalten. Das zeigen paradoxerweise die der modernen Harmonik gewidmeten Schlusskapitel der Harmonielehre. Hier bedient Schönberg sich vergleichsweise konservativer Deutungsmuster: Der neuartigen Quartenharmonik wird – unter Beschränkung auf reine Quartenschichtungen – dadurch tonale Konvergenz unterstellt, dass Quartenakkorde in bekanntere Akkorde fortschreiten können. Eine Reflexion über das Quartensystem geschieht nur in Ansätzen; eine Reflexion über Intervallschichtungen als solche findet gar nicht statt. Die Vielfalt der Quartenharmonik, die in Schönbergs Werken dieser Zeit (op. 5, op. 9 bis op. 21) kompositorisch anzutreffen ist, hat kaum Eingang in das Quartenkapitel gefunden.[58] Stattdessen genießt ›Rückbindung ins System‹ ganz offensichtlich Priorität. Konsequenterweise bleibt das Schlusskapitel über »sechs- und mehrstimmigere Akkorde« unfertig. Anders als später Alois Hába, der in seiner Harmonielehre vieltönige Akkorde vom Aufbau her zu systematisieren sucht, gerät Schönberg mit seiner Theorie an ein abruptes Ende. Der Versuch einer Fundierung von Akkordfortschreitungen durch chromatische Stimmführung und komplementäre Harmonik muss bei vielstimmigen Akkorden versagen, da diese sich im zwölftönigen System nicht chromatisch fortsetzen lassen, ohne dass Tonwiederholungen oder -verdoppelungen die Komplementärharmonik zerstören.

Weiterentwicklung und Einschränkung

Schönbergs bewegliche Tonalitätsauffassung lässt sich als Weiterentwicklung der Position von François-Joseph Fétis ansehen. Fétis bezeichnete ›tonalité‹ als Ergebnis »notwendiger Beziehungen zwischen den Tönen einer Skala«.[59] Skalen und Tonsysteme wiederum fasste er nicht als natürliche Gegebenheiten auf, sondern begründete sie anthropologisch als auf geschichtlichen und ethnischen Voraussetzungen beruhend.[60] Damit ordnete er die Tonalität der Wahrnehmung bzw. der ästhetischen Beurteilung des Tonmaterials durch das Subjekt unter. Schönbergs Tonalitätsbegriff fußt auf dieser Offenheit, die er sowohl erweitert als auch beschränkt: Tonalität ist für ihn nicht mehr eine Frage fest definierter Tonsysteme bzw. Leitern, vielmehr steht für ihre Herausbildung jederzeit das ganze zwölfstufige Tonsystem zur Verfügung: Alles kann prinzipiell zur Tonart gewendet werden.[61] Die grundsätzliche Trennung zwischen von vornherein festgelegten Instanzen, die entweder die Tonalität bestätigen oder in Frage stellen, ist aufgehoben. Vielmehr ist jegliche Tonalität – gleichsam als Pantonalität – in den natürlichen Tonbeziehungen bereits vollständig angelegt. Auf der anderen Seite beschränkt Schönbergs Werkästhetik Fétis’ Tonalitätsauffassung, was aber wiederum auch ein Weiterdenken der von Fétis eingeschlagenen Richtung bedeutet: vom Absolutheitsanspruch einer Natur-Ordnung über begrenzte, durch Menschen erdachte Systeme (Fétis) zur tonalen Ordnung des einzelnen Werkes (Schönberg).

Einige offensichtliche oder verdeckte Inkonsequenzen der Harmonielehre zeigen, dass Schönberg nicht an der Beschreibung von Systemen, sondern an der »Überwindung der Prinzipien«[62] interessiert war:

1. Als Konsequenz aus Schönbergs werkbezogenem Tonalitätsbegriff hätte die Harmonielehre eigentlich ein umfassendes Analysebuch werden müssen, das sich grundsätzlich ganzen Werken widmet. Schönberg erkennt die Unmöglichkeit dieses Unterfangens und verweigert sich deshalb umgekehrt der Analyse praktisch ganz.[63] Der ›Realitätsbezug‹ des Buches bleibt damit vage.

2. Im Schlusskapitel zitiert Schönberg einige neue Akkorde, doch die Deutungsversuche verbleiben in Ansätzen. Stattdessen rät Schönberg ausdrücklich von der »Anwendung moderner Kunstmittel« ab.[64] In der Tat hat die rein vertikale Klangkonstruktion in der Harmonielehre keinen Platz: Die noch nicht emanzipierte Dissonanz muss sich ganz traditionell in der Akkordverbindung beweisen, und wenn schließlich am Ende des Buches doch von »Klangfarben« die Rede ist, spricht Schönberg selbst sogleich von »Klangfarbenmelodien«; es geht also wiederum um Verbindungen.

3. Angesichts der wachsenden Dominanz des Stimmführungsprinzips in der Harmonielehre wäre es streng genommen sinnvoll gewesen, auf ein Harmonielehrebuch, das sich gewissermaßen selbst paralysiert, ganz zu verzichten und stattdessen eine Kontrapunktlehre zu schreiben, die die Möglichkeiten selbständiger Stimmen in einem modernen Tonsatz diskutiert.[65]

All dies zeigt, dass die Argumentationsstruktur der Harmonielehre in erster Linie von ihrer Zielsetzung her zu erklären ist: Schönberg, der zunehmend motivisch-thematisch dachte und Harmonik nurmehr als Farbe einsetzte, suchte seiner Zeitgenossenschaft zu erklären, dass seine Musik, die man tonal nicht verstand, im Bereich der Harmonik noch auf dem Boden der Tradition stand.[66] Insofern ist die Auseinandersetzung mit Bedingungen und Grenzen der Tonalität in der Harmonielehre von einer großen Aktualität, die keines seiner späteren Lehrbücher wieder erreicht.

III. Tonalität in den theoretischen Schriften nach der Harmonielehre

Obwohl Schönberg sich nach 1911 von der Tonalität kompositorisch abgewandt zu haben scheint, bleibt die Auseinandersetzung mit Fragen der Tonalität in seinen zahlreichen Aufsätzen und Essays weiterhin präsent.[67] Allerdings ändert sich allmählich der Blickwinkel: Das neue unhierarchische Beziehungssystem der »Methode der Komposition mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen« widerspricht dem pantonalen Denken, das noch die Harmonielehre durchzogen hatte. Infolgedessen konstatiert Schönberg die Auflösung der Tonalität, die er als konsequenten Akt der Emanzipation darstellt:

Abgesehen von denen, die auch heute noch mit ein paar tonalen Dreiklängen das Auslangen finden […] haben die meisten lebenden Komponisten aus dem Wirken der Werke Wagners, Strauss’, Mahlers, Regers, Debussys, Puccinis etc. […] gewisse Konsequenzen gezogen, als deren Ergebnis die Emanzipation der Dissonanz zu erkennen ist. Dadurch aber ist die bereits bei Wagner wahrzunehmende Gefährdung des tonalen Schwerpunkts hervorgerufen […].[68]

Das Schlagwort von der »Emanzipation der Dissonanz« bezieht sich auf das fehlende Auflösungsbedürfnis – oder besser: den fehlenden Auflösungszwang – emanzipierter Dissonanzen.[69] Es bedeutet de facto eine Emanzipation von dem Glauben an die Exklusivität der Tonalität als einheitsstiftendes Mittel, der dazu verleitet hatte, auch avancierteste Erscheinungen noch als tonal wendbar zu erklären. Diese Emanzipation hat zur Folge, dass die definitorischen Grenzen der Tonalität plötzlich wesentlich konturierter erscheinen:

Die in altem Sinn tonal gearbeiteten Kompositionen verfahren so, daß sie jeden auftretenden Ton in unmittelbares oder mittelbares Verhältnis zum Grundton bringen, und ihre Technik ist bemüht, dieses Verhältnis so zum Ausdruck zu bringen, daß ein Zweifel darüber, wohin der Ton sich bezieht niemals aufkommen kann. So wird nicht nur der einzelne Ton behandelt, sondern auch alle Tonfolgen sind so konstruiert, alle Zusammenklänge und alle Folgen von Zusammenklängen. Die Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen (unrichtig [als] atonale K. benannt) setzt die Bekanntschaft dieser Beziehungen voraus, sieht in ihnen nicht ein erst zu lösendes und herauszuarbeitendes Problem und arbeitet in diesem Sinne mit ganzen Komplexen, ähnlich wie die Sprache mit umfassenden Begriffen arbeitet, deren Umfang und Bedeutung als allgemein bekannt vorausgesetzt wird.[70]

Anscheinend sieht Schönberg zu dem Zeitpunkt, als er die Zwölftontechnik bereits weitgehend entwickelt hat, die Tonalität als etwas Erprobtes an, das keine zu lösenden Probleme mehr aufwirft. Tonale Beziehungen werden als »bekannt« vorausgesetzt; mit der Zwölftontechnik lässt sich »in diesem Sinne« analog weiterarbeiten. Hier dreht sich also die Perspektive: Tonalität als »Bündel anwendbarer Beziehungen« lenkt den Blick vom mittlerweile geklärten Zustandekommen der Tonalität auf ihre Funktion als solche. Das folgende Zitat macht den Wandel deutlich:

Musik, die man heute ›tonal‹ nennt, stellt fortwährend oder wenigstens rechtzeitig die Beziehung zur Tonart her; Musik aber, die man heute ›nicht tonal‹ nennt, läßt die Beziehung zu einer Tonart niemals hervortreten: Dann besteht der Unterschied zwischen beiden Arten lediglich in der Hervorhebung oder Nichthervorhebung der Tonalität. […] Die Kompositionsweise eines Stückes, welches auf Tonalität im herkömmlichen Sinne verzichtet, wird anders sein müssen als die, bei welcher die Tonalität herausgearbeitet erscheint. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint dann die Tonalität als eines der Mittel, welches die einheitliche Auffassung eines Gedankens erleichtert und die Befriedigung des Formgefühls bewirkt.[71]

Beide Blickwinkel – die »Hervorhebung« der Tonalität durch bestimmte »Kompositionsweisen« bzw. »Kunstmittel«[72] und die Funktionalisierung der Tonalität als ersetzbares »Mittel« zur Erzielung von Fasslichkeit – verhalten sich nicht gegensätzlich, sondern komplementär.[73] Der sich in den 1920er Jahren vollziehende Perspektivwechsel hat indes zur Folge, dass sich die Akzente in Schönbergs theoretischem und pädagogischem Umgang mit Tonalität gegenüber der Harmonielehre nun deutlich verschieben.

Zusammenhang und ›Gedanke‹

Mit der Systematisierung der atonalen Kompositionsweise zur technisch handhabbaren Zwölftonmethode vollzieht sich das, was in der Harmonielehre noch von pantonalem Fortschrittsdenken überlagert gewesen war: die Trennung musikalischer Substanz in eine strukturelle, handwerklich beschreibbare Außenseite, der nun mit dem ›Gedanken‹ eine – von Stil und Technik unabhängige – Innenseite gegenüber steht, die ein »Komponieren wie zuvor« erlaubt.[74] Damit einhergehend verfestigen sich in der Harmonielehre noch unspezifisch verwendete oder umschriebene Begriffe wie ›Gedanke‹, ›musikalischer Raum‹, ›Zusammenhang‹ und ›Fasslichkeit‹ in Schönbergs essayistischen Schriften seit den 1920er Jahren allmählich zu Schlüsselworten seines Denkens, und es scheint, als ob Schönbergs musikalisches Weltbild, in dem bisher ein endgültiger Zustand nicht vorkam, nun auf abstrakterer Ebene ›eingeachst‹ würde.

Während der ›Gedanke‹ in der Harmonielehre noch beiläufig mit »Motiv« gleichgesetzt ist[75], und damit dem ›Einfall‹ nahe steht, wandelt sich seine Bedeutung nun zur Grundidee eines Werkes.[76] Damit symbolisiert er die oberste Instanz künstlerischer Autonomie: Der Essay »Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke« (Urfassung 1930) führt das Verhältnis zwischen Personal- und Zeitstilen zurück auf einen abstrakten Kern, der allein Ausgangspunkt für neue Stile sein könne. Zwar fungiert der ›Gedanke‹ hier hauptsächlich als Rechtfertigungsinstanz in einer polemischen Auseinandersetzung um Fragen des Stils und des musikalischen Fortschritts, doch steht dahinter der Musikalische Gedanke und die Logik, Technik und Kunst seiner Darstellung[77], jenes unvollendete theoretische Großprojekt, welches Schönberg in den 1920er und 1930er Jahren immer wieder erwähnt, meist im Sinne eines umfassenden Gedankengebäudes, in dem das gerade geschilderte Problem als Ganzes aufgehoben sei. Schönbergs ursprüngliches Ziel einer umfassenden Kompositionslehre, deren ersten Teil die Harmonielehre bilden sollte, scheint sich nun in zwei Richtungen aufzuspalten: Zum einen verlegt er sich mit dem ›Gedanke-Projekt‹ auf eine Ebene abstrakter kompositorischer Grundlagen, wo Fragen der Tonalität, des Stils und des musikalischen Fortschritts lediglich abgeleitete Bedeutung beanspruchen können. Auf der anderen Seite stehen die späten Lehrwerke, welche im Vergleich zur Harmonielehre zwar konkreteren Lehrstoff bieten, diesen aber auch wesentlich verschulter präsentieren.

Der ›Gedanke‹ als tonaler Prozess

Wie sehr Schönberg indes – ungeachtet aller Abstraktion – nach wie vor in tonalen Kategorien denkt, zeigt die folgende Passage aus dem ›Gedanke‹-Essay:

In seiner weitesten Bedeutung wird der Begriff Gedanke als Synonym für Thema, Melodie, Phrase oder Motiv gebraucht. Ich selbst betrachte die Totalität eines Stückes als den Gedanken: den Gedanken, den sein Schöpfer darstellen wollte. Aber aus Mangel an besseren Begriffen bin ich gezwungen, den Begriff Gedanke auf folgende Weise zu definieren: Jeder Ton, der einem Anfangston hinzugefügt wird, macht dessen Bedeutung zweifelhaft. Wenn zum Beispiel G auf C folgt, kann das Ohr nicht sicher sein, ob dadurch C-Dur oder sogar F-Dur oder e-Moll ausgedrückt wird; und die Hinzufügung anderer Töne kann dies Problem klären oder nicht. Auf diese Weise wird ein Zustand der Unruhe, der Unausgewogenheit erzeugt, die fast das ganze Stück hindurch wächst und durch ähnliche Funktionen des Rhythmus weiter verstärkt wird. Die Methode, durch die das Gleichgewicht wiederhergestellt wird, scheint mir der eigentliche Gedanke zu sein.[78]

Die Analogie zur Tonalitätsauffassung der Harmonielehre ist frappierend und erklärt auch die etwas schiefe Argumentation.[79] Es scheint, als ob die Totalität der Beziehungen, für die früher die Tonalität stand, nun mit dem ›Gedanken‹ identifiziert wird. Gleichzeitig wird die Vielschichtigkeit der ›Gedanke‹-Metaphorik deutlich, die bald »Idee«, bald »Ausformung« meint. Mit Schönbergs Versuch, das bei der Ausformung des musikalischen ›Gedankens‹ entstehende komplexe Beziehungsgeflecht in seinen Details zu erfassen, scheinen sich seine früheren organischen Vorstellungen vom musikalischen Zusammenhang allerdings zu verändern: Man hat den Eindruck, als werde in den ›Gedanke‹-Manuskripten weniger ein Organismus, in dem alles mit allem in Verbindung steht und dessen Kennzeichen die Bewegung ist – wie es für Schönbergs früheres Bild der Tonalität galt –, als vielmehr eine ungeheuer komplizierte, gleichwohl in ihren Funktionen klare, in sich ruhende Mechanik beschrieben.[80] Verglichen mit der Harmonielehre hat prozesshaftes Denken an Bedeutung verloren[81], und es verwundert nicht, wenn eine Überlegung, die eigentlich genau der Schönbergschen Denkweise entspräche, hier nicht vorkommt: dass ein jeder ›Gedanke‹ sich nämlich seine ganz eigene, nicht verallgemeinerbare bzw. abstrahierend umschreibbare Form prägen müsse.

Das Konzept des musikalischen Raumes

Mit dem stil- und technikinvarianten ›Gedanken‹ korrespondiert Schönbergs Idee vom zeitlosen musikalischen Raum, in dem dieser ›Gedanke‹ sich entfaltet. Musikalische ›Raumvorstellungen‹ treten bei Schönberg in mehreren Facetten auf:

1. Hinter der in der Harmonielehre geäußerten Vorstellung, spätere Generationen möchten Gesetze finden, die heute Unbegreifliches erklären, kündigt sich bereits so etwas wie ein universeller ›Raum‹ an, in dem ›alles schon da ist‹. Ungeachtet dessen ist der Geist der Harmonielehre ein offener; denn eigentlich lehnt Schönberg ewige Gesetze ab und beruft sich auf Individualität und Werkimmanenz. Insofern stehen sich in der Harmonielehre das Auffinden und das Erfinden noch tendenziell unvermittelt gegenüber. Mit dem Konzept der harmonischen Regionen, das Schönberg später in den Structural Functions of Harmony vorstellt, wird sich die Idee eines gesetzmäßig vorstrukturierten und insofern abgeschlossenen Raums jedoch konkretisieren.

2. Im Zusammenhang mit der Zwölftontechnik geht es Schönberg weniger um Überzeitliches als ganz konkret um Räumlichkeit. Er wünscht sich, dass die strenge Scheidung von Harmonie und Melodie einer Neujustierung weicht, so dass die Dimensionen aufeinander beziehbar werden und man so gleichsam alles von allen Seiten betrachten kann:

Der zwei- oder mehrdimensionale Raum, in dem musikalische Gedanken dargestellt werden, ist eine Einheit. […] Alles, was an irgendeinem Punkt dieses musikalischen Raumes geschieht, hat mehr als örtliche Bedeutung. Es hat nicht nur auf seiner eigenen Ebene eine Funktion, sondern in allen anderen Richtungen und Ebenen und ist selbst an entfernter gelegenen Punkten nicht ohne Einfluß.[82]

Die späten Lehrwerke

Der tendenziell konservative Blickwinkel des ›Gedanke‹-Projekts[83] konkretisiert sich – auf noch einseitigere Weise – in den drei großen Lehrwerken der späten amerikanischen Zeit, von denen Schönberg nur die Structural Functions of Harmony selbst vollendete, die anderen beiden jedoch in einem sehr weit entwickelten Zustand hinterließ. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit Tonalität findet in diesen Schriften nicht mehr statt, im Gegenteil:

1. In den Structural Functions of Harmony wird jene aktuelle Sphäre neuer Musik, mit der sich Schönberg in den Schlusskapiteln der Harmonielehre auseinandersetzte, nicht mehr berührt. Das ehedem prozesshafte Tonalitätsverständnis hat sich nun zu einem hierarchisch geordneten harmonischen Raum verfestigt, der als Monotonalität[84] bezeichnet wird: Der Grundton, der sich früher im Laufe des Werkes erst durchsetzen musste, ist jetzt vorausgesetzt; die ehemals ›rivalisierenden‹ Grundtöne werden zu ›Regionen‹, die untereinander und mit der Tonika über abgestufte Verwandtschaftsverhältnisse in Verbindung stehen. Modulation findet ausschließlich in diesem Raum und damit – und das ist neu – ›innerhalb der Tonart‹ statt.[85] Schönbergs graphische Darstellung dieses Systems[86] suggeriert die prinzipielle Abgeschlossenheit und Vollständigkeit des harmonischen Raumes, in dem kaum Platz für zukünftige Entwicklungen der Tonalität bzw. andersartige Akkordbeziehungen zu sein scheint.[87] Seine Analysen betreffen – ausgenommen wenige eigene Stücke aus seiner tonalen Phase – ausschließlich Klassiker.

2. Die Preliminary Exercises of Counterpoint sind streng an der traditionellen Gattungslehre orientiert; lediglich in einigen der so genannten »Kompositorischen Anwendungen«[88] behandelt Schönberg Modulationen im modernen Sinne – auf eine traditionelle Tonartenlehre verzichtet er – und weitet so den Kurs ein wenig in Richtung Harmonielehre. Auch hier findet keine Auseinandersetzung mit neueren musikalischen Entwicklungen statt.

3. Bei den Fundamentals of Musical Composition handelt es sich um eine sehr konzentrierte Formenlehre, die sich nie vom klassischen Formenkanon und von der Tonalität löst. Dies gilt auch für die Analysebeispiele, die ausschließlich der klassisch-romantischen Tradition entstammen.[89]

In diesen Lehrwerken spiegeln sich die wesentlichen Ideen der Harmonielehre kaum wider, am allerwenigsten das Ideal einer auf Individuation ausgerichteten pädagogischen Unterweisung. Künstlerische (Entdeckungs-)Freiheit und Zukunftsoffenheit scheinen jetzt keine Rolle mehr zu spielen. Vielmehr suggeriert Schönberg durch die Art der Stoffpräsentation eine grundsätzliche Abgeschlossenheit der Materie. Dementsprechend findet man in diesen Werken keine auch noch so ausschnitthafte Auseinandersetzung mit der Gegenwartssituation. Auch das Verfahren, möglichst viele Varianten eines Problems zu diskutieren, das die gesamte Harmonielehre dominiert und dort den Schüler zur eigenen Suche anregen soll, wird in diesen jüngeren Lehrwerken kaum praktiziert.[90] Demgegenüber überwiegt der klar strukturierte, logische Aufbau des Stoffes. Es ist zweifelhaft, ob Schönberg 1911 bereit gewesen wäre, derart konservative Gedankengebäude zu entwerfen. Am späteren Konzept der Regionen zeigt sich der Unterschied: Die in der Harmonielehre beschriebene ›schwebende Tonalität‹ ist weniger für Formbildung verantwortlich, als dass sie umgekehrt selbst in der Waage gehalten werden muss. Der in Regionen gegliederte tonale Raum hingegen suggeriert ein Ordnungssystem, in welchem einst Schwebendes nun fest gegründet wird. Wo die Harmonielehre systematisch die Erscheinungsvielfalt untersucht, das Gefundene vorsichtig abwägend nebeneinander stellt und dabei immer wieder auch auf ›Noch-nicht-Gefundenes‹ hinweist, geben die Structural Functions of Harmony das Erklärungsmodell vor. Die netzwerkartige Darstellung von einst ist zu einem stabilen Theoriegebäude geworden.

IV. Theoretische und kompositorische Verfestigung des Tonalitätsdenkens?

Veränderungen im theoretischen Denken

Zusammenfassend lässt sich eine Verfestigung des Schönbergschen Tonalitätsdenkens in mehreren Schritten konstatieren:

1. Die Harmonielehre untersucht primär das Zustandekommen von Tonalität und formuliert einen dialektischen Tonalitätsbegriff: Tonalität – hier noch weitgehend gleichzusetzen mit Tonart – entsteht im einzelnen Werk durch permanenten Ausgleich zentrifugaler und zentripetaler Kräfte. Daraus resultiert ein Fortschrittsprozess: Was im einzelnen Werk durch dialektischen Prozess entstand, verfestigt sich durch stilistische Gewöhnung – die erneute Infragestellung bedarf stärkerer Mittel und so weiter: Das Tonsystem differenziert sich aus, das musikalische Material wandert vom Individuellen ins Allgemeine. Der musikalische Fortschritt erwächst damit aus einem Bewusstseinsfortschritt bei Komponist und Hörer und lässt die Mittel des Zusammenhangs zunehmend komplexer werden. Die Rolle der Tonalität im konkreten kompositorischen Prozess erschöpft sich daher nicht in der bloßen Anwendung eines einmal erforschten, unveränderlich gefügten Systems, sondern wird im werkimmanenten tonalen Spannungsfeld geschichtlich immer neu definiert. Das pädagogische Ziel der Harmonielehre liegt in einer Sensibilisierung für labile tonale Gleichgewichtszustände und im Training eines solchen prozessualen Denkens.

2. Die Entwicklung der Zwölftontechnik verrät – gegen Schönbergs bisheriges Denken – eine gewachsene Neigung zu ›System‹ und ›Methode‹.[91] Mit der Relativierung der Tonalität zu einem von mehreren Mitteln der Zusammenhangbildung bekommt Schönbergs Tonalitätsbegriff nun erstmals klarere Grenzen, die auch von der Anwendungsseite her definiert werden. Ob Tonalität angewendet wird oder nicht, ist nun allein Sache des souveränen kompositorischen Akts. Damit ist die historische Weiterentwicklung tonaler Mittel gestoppt und der Optimismus, alles zur Tonalität wenden zu können, sinnlos geworden: Es nicht mehr zu müssen, bedeutet ja, dass die Verbindlichkeit unterbrochen ist, mit der bisher das, was in einzelnen Werken neu entwickelt wurde, anschließend den Weg ins allgemeine Verständnis gefunden hat. Schönbergs Analysen großer Meisterwerke hinsichtlich der sie durchwirkenden ›entwickelnden Variation‹ sollen zeigen, dass längst gleichwertige Methoden, musikalischen Zusammenhang herzustellen, existieren.[92] Schönberg kann damit auch theoretisch die Auflösung der Tonalität konstatieren – als Folge eines schwindenden Bedürfnisses, sie angesichts der »Emanzipation der Dissonanz« noch aufrecht zu erhalten.

3. Nachdem die technische Außenseite durch anwendbare Verfahren abgesichert ist, gerät nun stärker die musikalische Substanz an sich – der ›Gedanke‹ – in Schönbergs Blick. Entsprechend verfestigt sich das, was in der Harmonielehre als Teil eines historischen Prozesses in Bewegung ist, in Schönbergs Essays seit den 1920er Jahren zu einem Netz korrespondierender Instanzen (›Raum‹, ›Zusammenhang‹, ›Entwickelnde Variation‹, ›Fasslichkeit‹), die dem ›Gedanken‹ quasi zuarbeiten. In diesem Sinne offenbaren die ›Gedanke‹-Entwürfe der 1920er und 1930er Jahre in ihrer Gesamtheit ein gewandeltes Konzept des Organischen, in dem die Idee des ›Panta rhei‹ zurücktritt gegenüber derjenigen des gegliederten Organismus.

4. Die Trennung in Innen- und Außenseite ermöglicht letztlich eine Änderung des Blickwinkels auf die Tonalität, die sich in den etwa drei Jahrzehnte nach der Harmonielehre entstandenen Structural Functions of Harmony niederschlägt. Hier wird untersucht, was Tonalität als formales Gestaltungsmittel – alternativ zur Zwölftontechnik – zu leisten vermag. Ihr gezielter Einsatz als Verfahren setzt ein klar umrissenes Bild dessen voraus, was Tonalität sei. Entsprechend vermittelt Schönbergs zweites Harmonielehrebuch tendenziell ein geschlossenes System, in dem alles seinen Platz hat. Konsequenterweise ändert sich nun auch die Methodik. Die hermetische Untersuchungsmethode der Harmonielehre, welche die Phänomene aus sich selbst heraus zu verstehen und begründen sucht, weicht dem analytischen Nachweis in der Literatur.

Der Wandel des Standpunktes lässt sich als Perspektivwechsel von einer prozessorientierten, zukunftsoffenen Bottom-up- zu einer architektonischen, zur Zeitlosigkeit neigenden Top-down-Denkweise sehen: 1. Bottom-up: Von einer elementaren ›Unruhe‹ bzw. einem ›Einfall‹ aus entwickelt sich Musik organisch und frei fortpflanzend: Das Große wird aus dem Kleinen entwickelt. Die Harmonielehre studiert die Bedingungen der Tonalität aus dieser Perspektive, und es ist nicht verwunderlich, dass der ›Einfall‹ als Grundelement hier fast Heiligenstatus genießt. 2. Top-down: Die ›spontane und ganzheitliche Vision‹ des (zukünftigen) Kunstwerks in Form eines ›Gedankens‹ stellt den gegenüber liegenden Ausgangspunkt dar. Von hier aus muss sich die Musik anschließend gleichsam nach innen auskristallisieren: Hierfür ist es notwendig, die Beziehungen von Teilen festzulegen sowie Funktionen und Darstellungsmethoden zu studieren. Die ›Gedanke‹-Studien und die Structural Functions of Harmony stehen für diese umgekehrte Perspektive.

Damit scheint sich ein rundes Bild des Schönbergschen Tonalitätsdenkens und seiner Vermittlung zu ergeben: Einer stürmischen Entwicklungsphase – geprägt vom kollektiven Lehrer-Schüler-Erlebnis in einer Zeit, als sich ringsum die Bedingungen herkömmlicher Tonalität auflösen und also ein Verlangen nach neuen, zukunftsoffenen Unterrichtskonzepten entstehen muss – steht die altersweise, abgeklärte Vermittlung des Vergangenen in der Neuen Welt gegenüber, getragen von einem Bewusstseinswandel hin zu zeitlosen Grundsatzfragen der Musik.

Auch wenn man hier Schönbergs Streben nach ›Fasslichkeit‹, seinen zeitlebens erkennbaren Wunsch nach Vermittlung und Verstanden-Werden ins Feld führen kann, wäre sein späteres Tonalitätsverständnis mit diesem simplen Bild jedoch nur unzureichend erfasst; denn wesentliche Gründe und Notwendigkeiten für die Tendenz zur Verfestigung seiner Tonalitätsauffassung bleiben verborgen. Vor allem Schönbergs Fortschrittsbegriff hat sich gewandelt: Die Harmonielehre hatte ihren Stoff noch als linearen Materialfortschritt präsentiert. Doch der Konnex zwischen Materialentwicklung und Tonalität wird hier bereits in Frage gestellt; denn die eigentliche Verkomplizierung tonaler Zusammenhänge passiert im Hirn des Komponierenden, indem dessen Fähigkeiten zur Verbindung des Entfernten stetig wachsen. Fortschritt wird zum Individualisierungsprozess. Spätestens in den 1920er Jahren, als die ›Front‹ der Musikentwicklung sich zu einer nur noch schwer zu überblickenden Vielfalt der Stile aufspaltete, zeigte sich die Zwangsläufigkeit dieses Wandels: Um jetzt noch an pantonalen Fortschrittsideen festzuhalten, musste man naiv oder verbohrt sein. Schönberg jedoch suchte nach dem Gehalt hinter den Stilen – und verteidigte damit auch den Gehalt seiner Kompositionen.

Im amerikanischen Exil hatte Schönberg schließlich noch mit einem Traditionsabbruch zu kämpfen. Die geschlossene Systematik der späten Lehrwerke lässt sich insofern auch als Niederschlag eines Unterrichts verstehen, der zum einen tatsächlich für Grundlagen sorgen, zum anderen aber der Entwicklungsfreiheit einer äußerst heterogenen Schülerschar Rechnung tragen musste.[93] Wie wichtig in diesem Kontext formales Training wurde, belegt kein geringerer als John Cage:

Schönberg war ein großartiger Lehrer. Er vermittelte immer den Eindruck, uns mit den musikalischen Prinzipien vertraut zu machen. […] Ich versuchte, Schönberg einige Male zu erklären, daß ich kein Gefühl für Harmonie habe. Ohne ein Gefühl für Harmonie, so sagte er mir, würde ich immer auf ein Hindernis, eine Mauer stoßen, die ich niemals durchbrechen werde. […] Durch Schönberg hat sich bei mir das Bedürfnis nach musikalischer Struktur (der Unterteilung des Ganzen in einzelne Partien) entwickelt. Seiner Meinung nach sollte man das über Harmonie und Tonalität erreichen.[94]

Schönbergs eigentliches Unterrichtsziel lag also in der Einübung kompositorischen Denkens schlechthin. Tonalität diente hier lediglich als Vehikel im Sinne einer Suche nach dem, was bekannte tonale Vorgänge an Verknüpfungsmöglichkeiten bieten.

Wie sehr Schönbergs Tonalitätsdenken ungeachtet der beschriebenen Veränderungen über die Zeit eine gewisse Kontinuität bewahrt hat, zeigen zwei späte Textfragmente über Tonalität und Form. Während er im ersten in aller Kürze das Prinzip des dynamischen Kräfteausgleichs darlegt[95], kommt im zweiten, das vom Formbegriff handelt, erneut eine Tendenz zum netzwerkartigen Verständnis musikalischer Zusammenhänge zum Ausdruck: Schönberg wendet sich hier gegen die gängige Klischeevorstellung von Musik als ›geschmolzener Architektur‹. Da sich Musik von Architektur grundsätzlich durch das Prinzip immer währender Variation unterscheide, gebe es nichts, was den Vergleich mit einem starren Gefäß rechtfertige.[96]

Schönbergs kompositorischer Umgang mit Tonalität nach 1920[97]

Schönbergs Tendenz zur Abwehr eines allzu architektonisch festgelegten Musikdenkens wird indes schon früher erkennbar: Seine kompositorische Entwicklung zeigt, dass scheinbare Verfestigungen immer durch Gegenbewegungen konterkariert werden, die ihm bekanntlich auch als Inkonsequenz, Rückwärtsgewandtheit zur Last gelegt wurden.[98] So sind – ungeachtet des kompositorischen Selbstbewusstseins, das er mit der Zwölftontechnik verband – seine Bestrebungen unübersehbar, ihre Anwendungsmöglichkeiten zu flexibilisieren, wenn er etwa im III. Satz des 4. Streichquartetts aus der Zwölftonreihe durch Unisonoführung und Schwerpunktbildung ein unverkennbar romantisierendes Thema gewinnt. Mit der Zwölftonmethode, die er nicht als Essenz eines Werkes begriff, ›objektivierte‹ sich seine Vorstellung von ›Fasslichkeit‹ keinesfalls – und offenbar galt Ähnliches eben auch für seinen persönlichen Unterrichtsstil.

Ein weiterer Stachel ist Schönbergs permanente ›Rückkehr‹ zur Tonalität, die schon während seiner frühen zwölftönigen Phase die vermeintliche Allgemeingültigkeit des Erreichten immer wieder in Frage stellt. Schönbergs ›Experimentiersinn‹ betrifft allerdings noch nicht die Tonalität als solche, die sich sowohl in den tonalen Nebenwerken der 1920er Jahre als auch in einzelnen Zwölftonkompositionen eher von ihrer konservativen, chiffrenartig angewandten Seite zeigt, so dass man hier noch von Verfestigung sprechen könnte.[99] Dies ändert sich, als Schönberg Ende der 1930er Jahre gleich mit mehreren neotonalen Werken ein weiteres Mal kompositorisches Neuland betritt. ›Auslöser‹ ist das Kol Nidre op. 39 (1938), dem 1939 die Fertigstellung der 1906 begonnenen Kammersinfonie op. 38 folgt. Wichtigstes Werk dieser Phase sind die 1941 entstandenen Variations on a Recitative op. 40 für Orgel.[100] Spätestens jetzt entspricht tonales Komponieren nicht mehr nur nostalgischer Rückbesinnung, sondern wird wieder zur Herausforderung. Die ursprüngliche Frage nach den Bedingungen, die Tonalität ermöglichen, wird hier erneut gestellt und schließlich mit den Variations auf eine sehr individuelle Weise beantwortet, die einer Rückkehr zur Bottom-Up-Perspektive der Harmonielehre gleichkommt: Die Harmonik dieses Werkes beruht auf einem motivischen Keim, der auf dem Umweg über eine tonale Reihe das ganze Stück durchzieht.[101] Schönbergs neotonale Phase findet eine zwölftönige Fortsetzung, die man als Projektion bezeichnen kann: Die deutlich erkennbaren tonalen Merkmale etwa in der Ode to Napoleon op. 41 und dem Klavierkonzert op. 42 erscheinen als Spiegelung der Blickrichtung und zeigen, wie sehr es Schönberg auch in dieser Spätphase neben politischen und weltanschaulichen Fragen noch um die Integration von Tonalität, Harmonik, Struktur, Inhalt und Ausdruck ging.[102]

Fazit

Was sein Tonalitätsdenken betrifft, paart sich in Schönbergs Entwicklung die persönliche Biographie mit einer gewissen historischen Zwangsläufigkeit. Der ›pantonale‹ Deutungsanspruch, den die Harmonielehre 1911 mit dem Beginn der Neuen Musik gerade noch aufrecht erhält[103], lässt sich bereits in den 1920er Jahren nicht mehr rekonstruieren. Die Idee permanenter tonaler Weiterentwicklung ist mit der Ausbildung der Zwölftontechnik endgültig überwunden. Das ›Wir-Gefühl‹ in den Schlusskapiteln der Harmonielehre, wo Schönberg so unterschiedliche Zeitgenossen wie Bartók, Schreker und Webern zitiert, weicht einem ›Ich-Gefühl‹, das sich gegenüber konkurrierenden Stilen verteidigt[104] und folglich musikalischen Gehalt auf eine Ebene jenseits der Stile verlagert sehen will. In Konsequenz daraus wird die Neugier gegenüber der unentwickelten Tonalität von morgen, die noch die Harmonielehre durchzog, in den späten Lehrwerken von funktionalem Denken abgelöst; dass Schönberg sich Ende der 1930er Jahre kompositorisch erneut in die Bottom-Up-Perspektive – der Suche nach den Bedingungen für das Zustandekommen von Tonalität – begibt, zeigt aber, dass sein Tonalitätsdenken in seiner schriftstellerischen und pädagogischen Tätigkeit nicht vollständig aufgeht, dass vielmehr der Geist der Harmonielehre zumindest kompositorisch lebendig bleibt.

In den neotonalen Werken, vor allem den Variations, verknüpfen sich die beiden komplementären Blickwinkel: Die Intention, Tonalität erneut anzuwenden, verquickt sich mit der Intention, sie auf neue Art zu erzeugen. Notgedrungen bleibt die kompositorische Neuentdeckung der Tonalität allerdings privat. Neuentwicklungen der Harmonik, wie sie die Variations bringen, ist die universelle Geltung versagt, sie beschränken sich auf das einzelne Stück. Schönbergs spätes Tonalitätsdenken konnte zwangsläufig nicht mehr pantonal sein.

Es verwundert daher nicht, dass das Tonalitätskonzept der Harmonielehre eine Einzelerscheinung in Schönbergs Schrifttum geblieben ist. Ihr ambivalenter Blick auf die Tonalität, der zwischen Allgemeingültigkeit und radikaler Individualität schwankt, ist unwiederholbar vom Geist der musikalischen Zeitenwende getragen: Noch schwingt das Gefühl eines überzeitlichen Bewusstseinsstroms mit, doch gleichzeitig lässt Schönberg keinen Zweifel, dass mit dem »Weg als Ziel« eher ein individueller Trampelpfad gemeint ist, der einer mühseligen Suche bedarf.

Anmerkungen

1

Schönberg, 1911, VI.

2

1921/22 wurde sie von Schönberg einer kritischen Revision unterzogen. Die beiden Fassungen werden hier mit Schönberg 1911 bzw. Schönberg 1922 bezeichnet.

3

Die späten Lehrwerke der amerikanischen Zeit, unter ihnen die Ende der 1930er Jahre entstandenen Structural Functions of Harmony, betreffen ausschließlich tonale Musik.

4

Über die Tonalität der späten Orgelvariationen op. 40 schrieb Schönberg 1947 an René Leibowitz: »Die Harmonik der Orgelvariationen füllt die Lücke zwischen meiner Kammersinfonie und der ›dissonanten‹ Musik. Es sind viele ungenutzte Möglichkeiten darunter.« (Schönberg 1958, 260)

5

Der ganze Komplex ausführlicher in: Luchterhandt 2008. Hier werden neben der Entwicklung in Schönbergs Tonalitätsdenken auch seine kompositorischen Veränderungen im Umgang mit Tonalität behandelt. Der vorliegende Artikel fasst wesentliche Aspekte aus dem theoretischen Teil dieser Untersuchung zusammen.

6

Dies geht u.a. aus einem undatierten Brief Schönbergs an das Präsidium der k. k. Akademie für Musik und darstellende Kunst hervor, dessen Entstehung Erwin Stein für Frühjahr 1910 vermutet (Schönberg 1958, Nr. 6, 23). Vgl. Scharenberg 2002, 133ff.

7

Schönberg 1911, 7.

8

Das Vorwort der Harmonielehre beginnt mit dem Ausspruch: »Dies Buch habe ich von meinen Schülern gelernt.« (Ebd., V)

9

Ebd., 33f.

10

Ebd., 110. Da es sich bei »Natur« im generellen Sinne ja wohl auch um »Gewordenes« handelt, ist klar, das »Gegebenes« sich hier primär auf den Zwang unveränderlicher Naturgesetzlichkeiten beziehen dürfte.

11

Ebd., 456 und 466f.

12

Siehe Anm. 23.

13

Schönberg 1911, 364.

14

Ebd., 461f.

15

Die Idee künstlerischer Rechtfertigung durch Neuheit bildet eine Konstante in der Harmonielehre: »Die Zukunft bringt das Neue, und darum vielleicht ist uns das Neue so oft und mit soviel Recht identisch mit dem Schönen, dem Guten.« (Ebd., 263).

16

Ebd., u.a. 5f., 109f., 461ff. Die Subjektivität aller Kunstauffassung wird von Schönberg immer wieder betont. Das gelte selbst für den Komponisten im Verhältnis zum eigenen Werk: »Das Kunstwerk vermag das zu spiegeln, was man hineinsieht. […] Steht nun aber auch das Kunstwerk zu seinem Hervorbringer in dem gleichen Verhältnis, spiegelt es wider, was er hineinsieht, so mögen auch die Gesetze, die er wahrzunehmen meint, nur solche sein, die in seiner Vorstellung vorhanden waren, nicht aber solche, die seinem Werk eigentümlich sind. […] Man braucht nur mit einem anderen Vorstellungskreis in den Spiegel zu blicken, um auch von dessen Spiegelbild wieder glauben zu können, es sei das Bild des Kunstwerks, während es das des Beschauers, aber ein anderes als das frühere ist.« (Ebd., 32)

17

Ebd., 48.

18

»[…] die selbstgefundene Lösung, sei sie auch mangelhafter, bereitet nicht nur mehr Freude, sondern stärkt auch die in Betracht kommenden Muskeln intensiver. […] Die Hauptsache ist: daß man etwas anstrebt. Ob man es erreicht, ist nur von untergeordneter Bedeutung.« (Schönberg 1911, 104, 313; siehe auch VIf., 2ff., 3, 17, 33, 113, 188, 341, 417)

19

So etwa im Fuxschen Gradus ad parnassum (1725).

20

Schönberg 1911, V, 465f.

21

Schönberg 1922, 27.

22

Mit »Möglichkeit« deutet Schönberg bereits an, dass es auch andere Verfahren geben könne. – Die in diesem späteren Zusatz akzentuierte allgemeine Definition der Tonalität als Verfahren zur Herstellung von Geschlossenheit spielt jedoch in der Harmonielehre nur eine untergeordnete Rolle. In der Regel wird Tonalität dort mit Tonart gleichgesetzt (vgl. dazu Jacob 2005, 380f.). In solchen Akzentuierungen der Neuauflage deutet sich jedoch bereits der sich in den 1920er Jahren ändernde Blickwinkel Schönbergs auf die Tonalität an, deren Funktion als zusammenhangstiftendes Mittel ihm nun wichtiger wurde.

23

Schönbergs primär auf das geschlossene Kunstwerk bezogener Tonalitätsbegriff wird in seiner Begründung für den Verzicht auf Analysebeispiele deutlich: »Ich leugne nicht, daß es für den Schüler von Nutzen ist, sich über den Gang der Harmonie in Meisterwerken Rechenschaft zu geben. Aber auf die Art, wie es nötig wäre, nämlich: die harmonische Konstruktion eines ganzen Werkes aufzuzeigen, ihre Gewichtsverhältnisse untereinander zu prüfen, ist es ja ohnedies im Rahmen einer Harmonielehre nicht möglich. Alles andere aber ist relativ zwecklos.« (1911, 12) Hier kündigt sich das an, was Dahlhaus in Bezug auf die Tonalität in neuer Musik als »Tendenz zu in sich gestützten Systemen« beschrieb (1978a) – John Cage erinnert sich, dass Schönberg bei einem Analysekurs zu Beethovens Klaviersonaten über eine Sonate nicht hinauskam, »denn seine Analysen waren so ins Detail gehend und erhellend, daß wir sogar bei der einen Sonate nicht sehr weit kamen.« (Zitat nach Schnebel 1974, 152)

24

»Die Natur des Gehörs muß auch befragt werden. Dieses aber ist abhängig auch von seiner Geschichte, von der Art und Reihenfolge seiner Erlebnisse.« (Schönberg 1911, 136). Vgl. Anm. 16.

25

»[…] daß die Harmonien vielfach durch Stimmführungszufälle entstehen, ist […] eine der Grundlagen meiner Betrachtung.« (Schönberg 1911, 132f.) In der Neuauflage spricht Schönberg gar von der »Rechtfertigung durchs Melodische allein« (siehe Anm. 48).

26

»Aber wenn jemand um was erzählen zu können, eine Reise tut, dann wählt er doch nicht die Luftlinie! Der kürzeste Weg ist hier der schlechteste. Die Vogelperspektive, aus der die Ereignisse gesehen werden, ist eine Vogelhirnperspektive. […] Das Wesentliche an einer Modulation ist nicht das Ziel sondern der Weg.« (Schönberg 1911, 188)

27

Ebd., 146, 430ff. Wie sehr Schönberg »schwebende Tonalität« favorisiert, erweist die folgende Passage: »[…] selbst wenn die Beziehung auf den Grundton erwiesenermaßen in der Natur begründet wäre, ist es noch nicht unbedingt nötig, auf diese Beziehung immer hinzuweisen. Es bliebe immer noch die Möglichkeit, sie sozusagen schwebend zu erhalten. […] Der Vergleich mit der Unendlichkeit könnte kaum näher gerückt werden, als durch eine derartige, sozusagen unendliche Harmonie, […] die nicht Heimatschein und Reisepaß beständig mit sich führt, Ausgangsland und Reiseziel sorgfältig nachweisend.« (1911, 146)

28

Schönberg 1911, 18ff.

29

Die später begrifflich zur »Monotonalität« geronnene Idee einer werkeinheitlichen Grundtonbezogenheit lässt sich in dieser Hinsicht mit Schenkers »Ursatz« vergleichen, der ebenfalls ein – allerdings primär linear definiertes – »monotonales Konzept« darstellt (vgl. Jacob 2000, 14; Jacob 2005, 436). Hingegen stellt die Harmonielehre den einheitlichen Grundton als ästhetisches Ideal in Frage: Schönberg bezweifelt, dass sich ein Grundton immer durchsetzt (1911, 29, 145f.) und empfiehlt später gar, zur Herstellung »schwebender Tonalität« ein Stück zwischen zwei Tonarten schwanken zu lassen (ebd., 145, 430f.).

30

Schönberg 1911, 19. Schönberg bezeichnet Dissonanzen als »ferner liegende Konsonanzen« (ebd., 20) und erklärt ihre Entstehung aus Durchgängen mit dem Bedürfnis nach weicheren Intervallübergängen, welches »sich deckt […] mit dem Bedürfnis, sich auch die entfernter liegenden Obertöne dienstbar zu machen« (ebd., 52). Vgl. auch Anm. 35.

31

»Ich für meine Person könnte ruhig einem Schüler sagen: jeder Zusammenklang, jede Fortschreitung ist möglich« (Schönberg 1911, 81). In der späteren Auflage wird Schönberg einschränken: »aber nur weil und solange ich es noch nicht besser weiß.« (Schönberg 1922, 79)

32

Schönberg 1911, 148. Schönberg vermittelt hier ein sehr einfaches Bild der Entstehung von Tonalität, nämlich das der Verunklarung einer klaren Ausgangssituation, die zur Wiederherstellung des Urzustands zwingt. Musik, die sogleich mehrdeutig beginnt (Mozart, Dissonanzenquartett, Beethoven, Beginn 1. Sinfonie), oder solche, die mehrdeutig bleibt, wird von seiner Definition nicht so recht erfasst.

33

Die Beschleunigung des menschlichen Denkens, der Fortschritt im Aufnahmevermögen von bereits Bekanntem, welcher umgekehrt eine verkürzte Darstellung geradezu fordert (siehe dazu die folgende Anmerkung), gehört zu den wiederkehrenden Ideen in Schönbergs Schriften. »Rascheres Denken« ist für Schönberg der Hauptantrieb des Fortschritts (1911, 412).

34

Schönberg äußert sich in diesem Sinne über die »Kürzung von Wendungen durch Weglassung des Wegs« zur Ellipse: (Der Abschnitt wird hier, weil sinngleich, aber bündiger formuliert, in der Fassung von 1922 wiedergegeben.) »[…] daß Wendungen, die häufig vorkommen, zu festen Gebilden von ausgesprochen eindeutigem Sinn werden. So eindeutig, daß der einmal angeschlagene Anfang sofort und automatisch die Einstellung der Erwartung auf die bestimmte Fortsetzung bewirkt […] Dies vorausgesetzt, können nun die Zwischenglieder auch weggelassen, Anfang und Ende hart nebeneinandergestellt, die ganze Wendung sozusagen ›gekürzt‹, bloß als Voraussetzung und Schluß hingesetzt werden.« (1922, 432)

35

Der erst später von Schönberg eingeführte Begriff »Emanzipation der Dissonanz« (in »Gesinnung oder Erkenntnis?« von 1925 [1976c]; vgl. Jacob 2005, 432ff.) trifft auf die Harmonielehre nur bedingt – nämlich auf ›subakkordische‹ Phänomene – zu. Schönberg kritisiert das Prinzip der »harmoniefremden Töne« und wünscht sich die ›Eigenständigkeit‹ dissonanter Klänge (1911, 344ff.). Es geht demnach zunächst nur um eine Emanzipation ›dissonanter Akkordtöne‹. Von einer ›Gleichberechtigung dissonanter Klänge‹ kann in der Harmonielehre (noch) keine Rede sein, auch wenn Schönberg am Ende des Buches schließlich andeutet, »daß die zusammenklangbildende Fähigkeit der Dissonanzen nicht von Auflösungsmöglichkeiten oder -bedürfnissen abhängt« (ebd., 468). Im Unterschied zur Idee des emanzipierten, für sich allein verständlichen Klangs basiert das Tonalitätskonzept der Harmonielehre essentiell auf Akkordrelationen.

36

Schönberg 1911, 450ff.

37

Schönberg überschreitet nicht die Grenze des Halbtons bzw. zum Geräusch. Webern, der der Vierteltonmusik prinzipiell Verständnis entgegenbrachte, sah noch 1933 die Zeit als nicht reif dafür an (Webern 1960, 16).

38

Schönberg 1911, 172 (Hervorhebung original).

39

Siehe Anm. 22.

40

Punkt 2 des Zitats nimmt das vorweg, was Schönberg später in den Structural Functions of Harmony zur »Monotonalität« systematisieren sollte (vgl. Anm. 29).

41

Schönberg spricht an anderer Stelle zwar von »schwebender Tonart« (1911, 430), empfiehlt dort aber, diesen Effekt mit zwei Tonarten zu erzielen.

42

Schönberg 1911, 430f. In diesem Begriff bleibt das Zustandekommen von Tonalität als Norm nach wie vor erkennbar. Schönberg spricht dann gelegentlich sinngemäß von »innerer« Tonalität (ebd., z.B. 440, Anm.). Auch die Frage der Tonalität unterliegt für ihn einem Erkenntnisfortschritt. So spekuliert er in zwei Ergänzungen von 1921, dass in gegenwärtig ›atonal‹ erscheinender Musik die Tonalität vielleicht nur noch nicht nachweisbar sei, sie in der Zukunft aber möglicherweise als tonal erkannt werden könne (1922, 151, 487f.). – Nachdem in den Essays der 1920er Jahre die Tonalität eher als abgeschlossene Technik behandelt wird, nimmt interessanterweise der späte Aufsatz »Rückblick« (1949) wieder ausdrücklich Bezug auf solche Äußerungen: Schönberg bestätigt hier, dass die Harmonielehre eine grundsätzlich wirkende Zentralkraft annahm, deren Entschlüsselung eine Frage des musikalischen Fortschritts sein würde (1976i, 403).

43

Schönberg 1911, z.B. 298. An anderer Stelle spricht Schönberg vom »Stufenreichtum« (ebd., u.a. 416). Weiter unten (ebd., 426, Beispiel 313), bringt Schönberg ein längeres Sätzchen mit einer Modulation von C nach Des, welches seine Wünsche gut illustriert. Vgl. Bergs Analyse des Anfangs von Schönbergs op. 7, die genau diese Beziehung aufdeckt (Berg 1924).

44

Siehe Anm. 27.

45

Schönberg 1911, 140, 313ff. – Selbstkritisch äußerte sich Schönberg später gegenüber Zemlinsky über Pelleas und Melisande op. 5, das zu viele Sequenzen enthalte (vgl. 1958, 52f.).

46

Schönberg 1911, 142ff. Später formuliert Schönberg hier bündig mit Hilfe des Fasslichkeitsbegriffs: »Die umständliche Art, mit der die Alten den Schluß eines Stückes verschnürt, verriegelt, vernagelt und zugesiegelt haben, wäre dem heutigen Formgefühl zu schwerfällig […] Das Formgefühl der Gegenwart fordert nicht diese übertriebene Faßlichkeit durch Herausarbeitung der Tonalität; ihm bleibt ein Stück auch faßlich, ohne daß die Beziehung auf den Grundton fundamental behandelt, es kann auch folgen, wenn die Tonalität sozusagen schwebend erhalten wird.« (1922, 150f.)

47

Schönberg 1911, 27.

48

Vgl. Anm. 52. – Kurze Zeit später formuliert Schönberg Entsprechendes in seinem unvollendeten Artikel »Neue Musik« (29.9.1923), den Sinn seiner Harmonielehre auf den Kopf stellend: »Nicht Harmonien sind zu suchen, denn für die gibt’s keine Regeln, keine Wertung, keine Konstruktionsgesetze, keine Waage. Sondern Stimmen sind zu schreiben. Aus deren Zusammenklängen wird man später Harmonien abstrahieren.« (Zit. nach Blumröder 1982, 97)

49

Schönberg 1911, 114. Es handelt sich um die Regel, dass in Moll die natürliche VI. und VII. Stufe abwärts, die jeweils erhöhten jedoch Stufen aufwärts zu führen sind, was im Einzelfall zu Umwegen der Stimmführung zwingt. Von »Wendepunktgesetzen« spricht Schönberg explizit erst in der Neuauflage (1922, 113). Später werden sich diese Gesetze unter dem Oberbegriff der »Neutralisation« in den Structural Functions of Harmony wieder finden (1957, 10). Ihre Bedeutung in Schönbergs Unterrichtspraxis hat wiederum John Cage bezeugt (Schnebel 1974, 152).

50

Schönberg 1911, 273.

51

In dieser Vorherrschaft chromatischer Verbindungen berührt sich die Harmonielehre mit Ernst Kurths Tristan-Buch (Kurth 1923).

52

»Demnach dürfte man eher durch einen ähnlichen Vorgang, wie es die Generalbaßbezifferung war, zu einem Urteil über die Zusammensetzung der Akkorde kommen, als zur Klarheit über ihre Funktion durch die Methoden der Rückführung auf Stufen. Denn anscheinend […] wenden wir uns einer neuen Epoche des polyphonen Stils zu, und wie in den früheren Epochen werden die Zusammenklänge Ergebnis der Stimmführung sein: Rechtfertigung durchs Melodische allein!« (Schönberg 1922, 466)

53

Schönberg 1911, 199ff.

54

Siehe Anm. 27. Dem entspricht die vergleichsweise wenig festgelegte Begrifflichkeit der Harmonielehre.

55

So sträubt Schönberg sich dagegen, zur Herstellung tonaler Klarheit in eine ›Trickkiste‹ zu greifen, um Langerprobtes – etwa die modulatorische Wirkung von vagierenden Akkorden – als schematisches Verfahren anzuwenden (1911, u.a. 312f., hier mit einer Spitze gegen ein »bekanntes Harmonielehrebuch«, vermutlich Louis-Thuille 1908). In den Structural Functions of Harmony wird Schönberg jedoch die formbildende Kraft solcher allgemeinen Muster untersuchen.

56

Vgl. Jacob 2005, 418ff.

57

Zum Vergleich: Das Tonalitätsdenken Max Regers – dessen Kompositionen Schönberg außerordentlich schätzte – scheint genau andersherum zu funktionieren: Die Akkordik ist verhältnismäßig übersichtlich; die Progressionen verschleiern jedoch die tonartliche Konvergenz häufig bis zur grauen Unkenntlichkeit. Vgl. Adorno 1934, 21, Brinkmann 1974, 89ff., Stephan 1985, 125f.

58

Vgl. hierzu Luchterhandt 2008, 189ff.

59

»La tonalité se forme de la collection des rapports nécessaires, successifs ou simultanés, des sons de la gamme.« (Fétis 1844, 22) Vgl. dazu Jacob 2005, 381.

60

Dahlhaus 1967, 10.

61

Ausdrücklich wendet Schönberg sich z.B. gegen Materialbeschränkungen durch Auswahl bestimmter Leitern (1911, 439ff.).

62

Titel der Untersuchung von Sointu Scharenberg (2002) über »Arnold Schönbergs unkonventionelle Lehrtätigkeit«.

63

Siehe Anm. 23.

64

Schönberg 1911, 461.

65

Diesen Ansatz – freilich primär auf Bach bezogen – vertrat erst Ernst Kurth mit seinem Linearen Kontrapunkt (1917), während Schönberg ein derart ausgerichtetes Theoriewerk vielleicht konzipiert, aber nie fertiggestellt hat. Erhalten ist der zehnteilige Entwurf zu einer Kontrapunktlehre aus dem Jahr 1917 (abgedruckt und kommentiert bei Stephan 1972), der laut Stephan offenbar als Teil einer Kompositionslehre gedacht war, deren ersten Abschnitt die Harmonielehre bilden sollte. Dieser Entwurf geht indes über einen reinen Kontrapunktlehrgang weit hinaus; insofern besteht wenig Überschneidung zwischen diesem frühen Plan und den ein Vierteljahrhundert später entstandenen Preliminary Exercises in Counterpoint.

66

Dieses Bedürfnis nach Rechtfertigung durch Rückbindung erstreckt sich bis zur Klangfarbe: Schönberg gesteht zwar, dass mit Klangfarben »bloß nach dem Gefühl« komponiert werde (1911, 470), und er stellt letztlich auch keine konkrete Verbindung zwischen Tonalität und Klangfarbe her. Andererseits erwartet er aber, dass es bald möglich sein werde, Klangfarben systematisch zu ordnen und zu Folgen zu verbinden, in denen eine Logik wirke, »ganz äquivalent jener Logik, die uns bei der Melodie der Klanghöhen genügt« (ebd., 471).

67

Vor allem: »Tonalität und Gliederung«, »Gesinnung oder Erkenntnis« (beide 1925), »Probleme der Harmonie« (1927), aber auch »Nationale Musik« (1931), »Komposition mit zwölf Tönen« (als Vortrag erstmals 1935 gehalten) sowie »Faschismus ist kein Exportartikel« (undatiert), alle abgedruckt in Schönberg 1976.

68

Schönberg, »Gesinnung oder Erkenntnis«, 209. Laut Falck (1982, 109) hat Schönberg diesen engen Konnex zwischen »Emanzipation der Dissonanz« und »Auflösung der Tonalität« später aufgegeben.

69

Dahlhaus 1978c, 148f. Vgl. Jacob 2005, 429. – Der Begriff entstammt Louis 1893. Hierzu Falck 1982, 106 und 108f.

70

Manuskript Nr. 3 (1925b) vom 12.11.1925 (Mödling), abgedruckt in: Schönberg 1995, 395 und 416, weitere Angaben zum Manuskript ebd., 404 (Hervorhebungen original).

71

Schönberg 1976g, 232. Interessant ist, dass Schönberg hier auf den Unterschied zwischen tonaler und auf Tonalität verzichtender Kompositionsweise so explizit hinweist, obwohl er doch gerade in der Zwölftontechnik auf die traditionellen Formen zurückgreift.

72

»Selbst in den relativ einfachen, dem Grundton nahe stehenden Gebilden, in welchen der Tonart nahestehende Akkorde und Akkordfolgen verwendet werden, kommt also die Tonalität nicht ohne weiteres, nicht von selbst, zum Ausdruck, sondern es bedarf erst der Anwendung vieler Kunstmittel, um das unzweideutig und zwingend zu erzielen.« (Schönberg 1976j, 223, Hervorhebungen original)

73

Andreas Jacob spricht von »gegensätzlichen Argumentationssträngen«, die einander beeinträchtigten (2005, u.a. 448). Es ist aber nicht einzusehen, warum sich das »natürliche Angelegtsein von Tonalität« und ihre Herausarbeitung als »Kunstgriff« gegenseitig behindern sollen. Von einem tonalen »Naturgesetz«, wie es Jacob nennt (ebd.), das sich quasi automatisch durchsetzt, ist bei Schönberg nirgends die Rede. Nur ein solches aber würde der ängstlich gehüteten Entscheidungsfreiheit des Komponisten, die im »Kunstgriff« zum Ausdruck kommt, tatsächlich widersprechen (vgl. die vorige Anmerkung).

74

Schönberg 1974, 88. Vgl. hierzu Schmidt 1987, 74.

75

Schönberg 1911, u.a. 314 sowie Schönberg 1922, 24. In Schönberg 1911, 349 klingt allerdings schon eine darüber hinaus weisende Definition an. Jakob stellt fest, dass Schönberg den ›Gedanke‹-Begriff zwar auch später gelegentlich noch für musikalische Substanz benutzt, sein Gebrauch sich bis 1934 aber im wesentlichen von der Bezeichnung für »Zusammenhang« hin zur »Logik« verschoben habe (Jacob 2001, 188).

76

Carpenter 1983, 15. Vgl. Jacob 2001. Carl Dahlhaus ging weiter und bezeichnete den ›Gedanken‹ als zentrale Instanz der Schönbergschen Poetik, die ein Werk – in ungleich buchstäblicherer und abstrakterer Form als die Hanslick-Generation – als »tönenden Denkvorgang« auffasse (1978b, 120).

77

Zumeist handelt es sich dabei um die glossarartige Erörterung einzelner Termini aus Formenlehre, Harmonik und Kontrapunkt, wie etwa ›Motiv‹, ›Phrase‹, ›Periode‹; daneben finden sich auch abstraktere Begriffe wie ›Grundgestalt‹, ›Entfaltung‹, ›Gegenüberstellung‹, ›Ausarbeitung‹, ›Liquidierung‹. Einen roten Faden bilden neben dem ›Gedanken‹ die Begriffe Zusammenhang, Gestalt und Form.

78

Schönberg 1976f., 33.

79

Es ist kaum einzusehen, warum primär die Rückkehr in einen Ausgangszustand das Essential einer Komposition ausmachen, die Art, wie die »Unruhe« überhaupt zustande kommt, demgegenüber aber von nachgeordneter Bedeutung sein soll. Ersetzt man im letzten Satz jedoch ›Gedanke‹ durch ›Tonalität‹, so merkt man, dass Schönberg diese auf ›tonale Konvergenz‹ reduziert hat.

80

Schönberg spricht vom »gegliederten Organismus, dessen Glieder bestimmte Funktionen hinsichtlich ihrer äußeren Wirkung sowohl als hinsichtlich ihres gegenseitigen Verhaltens ausüben« (1995, 118). Aufschlussreich ist seine Feststellung, es sei charakteristisch für ein Glied, »daß es zu einer selbständigen Bewegung fähig ist, an welcher kein Teil des Gesamtorganismus Anteil nehmen muß« (ebd.).

81

Laut Rudolf Stephan hat Schönberg sich allmählich von seiner ursprünglichen Auffassung des Kunstwerks als Organismus gelöst (1985, 136). Man könnte aber auch an ein gewandeltes Konzept des Organischen im Sinne eines gegliederten Organismus nach dem Vorbild der Goetheschen Urpflanze denken.

82

Schönberg 1976d, 77.

83

Schönbergs Darstellung beruht auf der Tonalität – neuere Entwicklungen wie die Zwölftontechnik werden nicht einmal erwähnt – und einem traditionellen Formenkanon.

84

Schönberg 1957, 19. Neben der Idee vom Raum sieht Jacob in Schönbergs monotonalem Konzept das Bemühen um die »Akzentuierung eines organischen Formbegriffs« (Jacob 2005, 437), hat dabei aber wohl weniger ein prozesshaftes als ein gegliedertes Organismusmodell im Blick (vgl. Anm. 81).

85

Die Structural Functions of Harmony enthalten praktisch keine Beispiele zur Modulation (einzige Ausnahme: Seite 54, Bsp. 6, das von C-Dur nach Es-Dur moduliert).

86

Schönberg 1957, 20. – Der Begriff der »Region« wird zwar bereits in der Harmonielehre – zu Beginn des Kapitels über Modulation (1911, 169) – erwähnt, doch entwickelt Schönberg das differenzierte und erheblich statischere Konzept eines vollständig in Regionen unterteilten Raumes erst im Zusammenhang mit seinem ›Gedanke‹-Projekt (1995, 330, 334). Insofern kann man die Structural Functions of Harmony als ein Nebenprodukt dieses unausgeführten Riesenwerkes ansehen.

87

Im ›Gedanke‹-Manuskript stellt Schönberg selbst eine Nähe seines Regionen-Modells zur Riemannschen Funktionsharmonik fest (1995, 330).

88

Schönberg 1977, 80ff., 136ff., 213ff.

89

Erstaunlich ist, dass die zahllosen Begriffe, welche sich in den ›Gedanke‹-Manuskripten auf Struktur, Zusammenhang, Logik und Form bezogen und damit Elemente beschrieben hatten, die für Schönberg die innere Folgerichtigkeit des musikalischen Geschehens ausmachen, sich in den Fundamentals of Musical Composition kaum irgendwo wiederfinden.

90

Am deutlichsten noch in den Preliminary Exercises of Counterpoint. Doch auch hier fehlt das Moment des Infragestellens musikalischer Gesetze, welches in der Harmonielehre immer wieder für eine didaktisch motivierte Verwirrung sorgt, die den Schüler zur Meinungsbildung zwingt.

91

Abgesehen von der Tatsache, dass man schon in der Zwölftontechnik selbst eine konservative Verfestigung kompositorischer Ideale zur methodischen Verfügbarkeit sehen kann, zeigt sich konservatives Denken noch in anderer Weise: Mit den Streichquartetten op. 30 und op. 37, den Orchestervariationen op. 31 und den Solokonzerten op. 36 und op. 42 entstehen seit 1926 eine Reihe zwölftöniger Werke, die sich jeweils großen Gattungstraditionen stellen. Dem ›atonalen‹ Schönberg nach 1908 war der klassische Kanon traditioneller Gattungen keinesfalls derart wichtig gewesen.

92

Vor allem in »Brahms, der Fortschrittliche« (1947, Urfassung 1933; vgl. 1976b). Vgl. Jacob 2000, 17.

93

Im Kontrast zu seinen Lehrbüchern scheint sich Schönbergs Unterrichtsstil, was das Infragestellen jeglicher ›Absicherung‹ betrifft, in Amerika jedoch nicht wesentlich verändert zu haben. Vgl. Scharenberg 2002, 51.

94

Aus Interviews mit Calvin Tomkins und David Shapiro, in: Kostelanetz 1991, 14 und 143.

95

»Tonality is the establishment of one tone as center of reference and relation for all the forthcoming tones in a piece. This can be achieved in balancing the centrifugal powers of some of the tones by centripetal tendencies.« (Schönberg 1992, 1)

96

Schönberg bezieht sich hier auf die »höher entwickelte« Musik: »There is one decisive difference: music does not repeat without variation, at least not in its higher kind, and will never renounce development, that is growth and production of new formulation – what is not given to architecture.« (Ebd., 2)

97

Die kompositorische Rolle der Tonalität bei Schönberg nach 1920 wurde von Luchterhandt ausführlich untersucht. Da eine exemplarische Darstellung der wesentlichen Entwicklungen anhand von Notenbeispielen den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, werden hier lediglich einige Ergebnisse zusammengefasst.

98

So Boulez 1974.

99

Hierzu ausführlich Luchterhandt 2008, 124–188; vgl. insbesondere die Zusammenfassung, 172ff.

100

Zur Tonalität dieser Werke siehe ebd., 276ff., 439ff., 536ff. Die späteren Variationen für Blasorchester op. 43 lassen sich nicht ohne weiteres mit diesen innovativen neotonalen Werken in eine Reihe stellen. Sie muten eher klassizistisch an, und ihre Harmonik beruht im Vergleich zu jenen wesentlich stärker auf herkömmlichen Funktionsbeziehungen (ebd., 559f).

101

Ebd., 276ff. Besonders eindrücklich dokumentieren die vorbereitenden Skizzen zur Quartenharmonik der Variations diese Rückkehr, denn sie ähneln auf frappierende Weise den entsprechenden Fortschreitungsstudien der Harmonielehre (ebd., 453f).

102

Ebd., 570ff.

103

Wie sehr dies dem Zeitgeist entsprach, zeigen Versuche, etwa die Drei Klavierstücke op. 11 für eine tonale Auffassung zu retten – so Hugo Leichtentritt (1927, 436ff.) in der 3. Auflage seiner Formenlehre –, die sich in diesem Sinne durchaus auf Schönbergs Harmonielehre berufen konnten.

104

In den Drei Satiren für gemischten Chor op. 28, deren zweite heftig gegen Strawinsky (»der kleine Modernsky«) polemisiert, passiert diese Auseinandersetzung auch kompositorisch.

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