Moraitis, Andreas (2011), »Konvention, Intention und Konstruktion. Die Stimmführungsparallelen in den Choralsätzen Johann Sebastian Bachs und Georg Philipp Telemanns«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/3, 427–464. https://doi.org/10.31751/652
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 29/03/2012
zuletzt geändert / last updated: 02/07/2013

Konvention, Intention und Konstruktion

Die Stimmführungsparallelen in den Choralsätzen Johann Sebastian Bachs und Georg Philipp Telemanns

Andreas Moraitis

Musikalische Satzregeln reflektieren Erkenntnisse über die ästhetische Tragfähigkeit kompositorischer Stilmittel in spezifischen Kontexten. Die maßgebliche Quelle solcher Einsichten war ursprünglich der künstlerische Schaffensprozess mit seiner engen Beziehung zur konkreten, individuellen Situation. Allgemeine Regeln, die diese Bindung per definitionem ausblenden, bringen den Vorteil mit sich, dass über die Brauchbarkeit einer bestimmten Lösung nicht in jedem Fall aufs Neue entschieden werden muss; doch werden ihre Grenzen schnell deutlich, sobald die im Satz vorliegenden Bedingungen den üblichen Rahmen verlassen. Komponisten haben deshalb seit jeher Regelverletzungen in Kauf genommen, die teils zum Gegenstand neuer Systematiken geworden sind. Damit stellt sich zunächst die Frage, inwieweit etablierte Regelsysteme tatsächlich mit den überlieferten Werken in Einklang stehen. Die computergestützte Analyse eröffnet hier wegen ihrer im Vergleich zu herkömmlichen Verfahren deutlich höheren Effizienz neue Möglichkeiten. Für den vorliegenden Beitrag wurden fast 1000 spätbarocke Choralsätze im Hinblick auf verschiedene Arten von Stimmführungsparallelen untersucht; dabei konnten zahlreiche in der Literatur bislang nicht erwähnte Ausnahmen dokumentiert werden. Darüber hinaus zeigte sich, dass bestimmte innerhalb des Repertoires auftretende ›Regelmäßigkeiten‹ in einem weiteren Zusammenhang gesehen werden müssen als bislang angenommen, sodass die Begründung der betreffenden Lehrsätze hinterfragbar erscheint. Ähnliches gilt für Sachverhalte, die sich aus konstruktiven Prinzipien notwendig ergeben und daher dem intentionalen Einfluss entzogen sind.

Schlagworte/Keywords: Antiparallelen; antiparallels; Carl Philipp Emanuel Bach; Choral; Choralsatz; Georg Christian Schemelli; Georg Philipp Telemann; hidden parallels; indirect parallels; indirekte Parallelen; J. S. Bach; Johann Ludwig Dietel; parallel fifths and octaves; Quint- und Oktavparallelen; Thomas Daniel; verdeckte Parallelen

Kaum eine satztechnische Regel hat in der Geschichte der abendländischen Musiktheorie einen längeren Zeitraum überdauert als das so genannte Parallelenverbot. Zwischen seinen ersten Manifestationen im späten Mittelalter und seiner faktischen Aufhebung gegen Ende des 19. Jahrhunderts liegt eine Spanne von rund einem halben Jahrtausend[1]; darüber hinaus ist es bis zum heutigen Tag für den Tonsatzunterricht von Bedeutung geblieben – zunächst wohl infolge eines gewissen ›Beharrungsvermögens‹ der Curricula, später im Rahmen der historisch informierten Satzlehre. Deren Anspruch, Erkenntnisse über die Musik eines bestimmten stilgeschichtlichen Milieus durch das Studium der erhaltenen Quellen (und zwar nicht nur der musiktheoretischen Traktate, sondern auch und vor allem der überlieferten Werke) zu gewinnen bzw. zu überprüfen, beinhaltete zugleich eine veränderte Einstellung gegenüber dem satztechnischen Reglement: Zum einen wurde dessen Abhängigkeit vom jeweiligen stilistischen Kontext nunmehr voll anerkannt, zum anderen war über die Validität einer akademischen Lehrmeinung nach wissenschaftlichen Kriterien, in erster Linie also anhand von Fakten, zu entscheiden.

Ein beeindruckendes Beispiel für die konsequente Durchführung eines solchen ›historisch-empirischen‹ Ansatzes hat in jüngerer Zeit Thomas Daniel mit seinem Lehrbuch zum spätbarocken Choralsatz vorgelegt.[2] Neben einer Vielzahl weiterer Themen behandelt Daniel auch die Frage der Stimmführungsparallelen mit einer bis dato kaum erreichten Differenziertheit[3], wobei er sich kritisch mit den Auffassungen anderer Autoren auseinandersetzt und ihnen eine Reihe eigener, im musiktheoretischen Schrifttum erstmals formulierter Thesen entgegenstellt. Der vorliegende Beitrag versucht diese und andere in der Literatur vertretene Positionen anhand aktueller analytischer Befunde zu evaluieren.[4] Als Basis der Untersuchung diente eine Datenbank, die neben den Choralsätzen aus Originalwerken Johann Sebastian Bachs und Georg Philipp Telemanns unter anderem die Sätze der Sammlungen von Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Ludwig Dietel und Georg Christian Schemelli enthält (Tabelle 1 im Anhang). Die Erfassung und Analyse der Daten erfolgte mit Hilfe einer im Rahmen eines umfangreicheren Projekts entwickelten Software.[5] Abgesehen von der Zeitersparnis, die sich auch bei Berücksichtigung der Vorarbeiten ergab, erlaubte das automatisierte Verfahren eine größere Genauigkeit, da Flüchtigkeitsfehler, wie sie bei der ›visuellen‹ Analyse von einigen hundert Sätzen nahezu unvermeidbar sind, praktisch außer Betracht kommen.[6]

Offene Parallelen

Tabelle 2 enthält eine Liste sämtlicher offener Parallelen in vollkommenen Konsonanzen, die sich in den 996 untersuchten Sätzen nachweisen ließen. Bei insgesamt 183 relevanten Stellen ergibt sich eine relative Häufigkeit von 0.184 Parallelen pro Satz. Im Mittel ist also etwa in jedem fünften Choral eine offene Quinte oder Oktave zu finden; jedoch handelt es sich dabei, wie noch zu konkretisieren sein wird, nicht generell um ›Fehler‹. Die Choräle der Gruppe CPHE weisen die mit Abstand niedrigste Quote auf (0.108), während die Sätze aus Bachs und Telemanns Originalwerken dem Durchschnitt entsprechen (0.187 bzw. 0.19). Der niedrige Wert für die Sammlung Carl Philipp Emanuel Bachs dürfte durch den hinlänglich bekannten Umstand zu erklären sein, dass bei der redaktionellen Bearbeitung des Repertoires ein Teil der Parallelen eliminiert wurde:[7] In den Chorälen, für die ein originales Pendant überliefert ist, sind nicht weniger als 16 Stellen betroffen, sechs weitere blieben dagegen unverändert.[8]

Zu den Primen und Oktaven heißt es bei Daniel: »Offene Parallelen von Primen und Oktaven scheiden generell aus. Tatsächlich gibt es in den Choralsätzen Bachs und seiner Zeitgenossen keine einzige Ausnahme, nicht einmal in Form der verschwindend wenigen Parallelen, die großen Komponisten passierten«.[9] Offene Primen wurden in der Tat in keinem der ›Bach-Choräle‹ gefunden. Die beiden folgenden Stellen[10] stammen aus Werken Telemanns, deren Originalquellen verloren gegangen sind; insbesondere im zweiten Fall kommt ein Kopierfehler (Stimmverwechslung) als wahrscheinlichste Erklärung in Betracht:[11]

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Beispiel 1a: TMW 36, 17–22, »Jesu, deine Passion«, T. 20–23

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Beispiel 1b: TMW 40, 22f., »Sei Lob und Ehr mit hohem Preis«, T. 243–28

Allerdings führt Daniel – seine oben zitierte Aussage relativierend – zwei Oktaven in Bach-Chorälen an, die sich aufgrund von Stollenwiederholungen ergeben.[12] Ergänzend sei auf die folgende Stelle verwiesen, die (bei allerdings unsicherer Quellenlage) in den beiden Fassungen von BWV 80.8 erscheint:[13]

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Beispiel 2: BWV 80.8, »Das Wort sie sollen lassen stahn«, T. 04–43

Hier wird der komplette Schlussklang inklusive der Quinte um eine Oktave nach oben versetzt, was indessen eher als Registerwechsel denn als Parallelführung zu interpretieren ist. Demgegenüber sind im nächsten Beispiel nur zwei Stimmen betroffen, und die fragliche Intervallfolge liegt innerhalb der Phrase, sodass die Oktave deutlicher zutage tritt:

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Beispiel 3: BWV 120a.8, »Lobe den Herren, der deinen Stand«, T. 1–5

Bach verwendet die gleiche Stimmführung bei der Wiederholung des Chorals (ab T. 19) sowie in der (vermutlich älteren) Fassung BWV 137.5[14]; ein Versehen dürfte also ausgeschlossen sein. Die Texte, von denen noch am ehesten Aufschlüsse über diese ungewöhnliche Schreibweise zu erwarten wären, weisen keinerlei Besonderheiten auf.[15]

An einigen Stellen finden sich Oktavparallelen, die durch Pausen unterbrochen sind, wobei die Zäsur durch eine der übrigen Chorstimmen überbrückt wird (Beispiel 4a) oder die Instrumentalstimmen fortlaufen (Beispiel 4b, mit Quint-Oktav-Parallele):

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Beispiel 4a: BWV 8(2).6, »Herrscher über Tod und Leben«, T. 3–43

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Beispiel 4b: BWV 147.6, »Wohl mir, daß ich Jesum habe«, T. 11–14

Solche Übergänge bereiten dann Probleme, wenn die Pausen im Zuge der Bearbeitung entfernt werden. So übernimmt Dietel in seiner Kopie des Satzes BWV 248.64 (DIETEL 122) eine Oktave am Phrasenübergang, obwohl im Original fünf Takte zwischen den Choralzeilen liegen. Dieses Vorgehen mag philologisch korrekt sein, wäre aber – falls man davon ausgehen kann, dass Bach eine unmittelbare Parallelführung nicht geduldet hätte[16] – als inadäquat zu betrachten.[17]

Die folgende Stelle (Beispiel 5a) kann insofern als ein Kuriosum gelten, als hier zwischen Bass und Alt gleich zwei Oktavparallelen hintereinander auftreten; Beispiel 5b zeigt Bachs Korrektur:

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Beispiel 5a: BWV 91(2).6, »Das hat er alles uns getan«, T. 64–92

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Beispiel 5b: BWV 91.6 (= spätere Fassung)

Zwar ist die ältere Fassung nicht im Autograph überliefert, doch liegt mit dem von Bach revidierten Originalstimmensatz der Thomasschule eine fast gleichwertige Quelle vor.[18] Letzte Zweifel sind trotzdem nicht von der Hand zu weisen: So ist schwer vorstellbar, dass Bach neben der Parallele zunächst auch die Verdopplung des skalenfremden Leittons cis (*) übersehen haben sollte, um sie im Nachhinein zu beheben.[19]

Telemanns Choralsätze enthalten einige im Phrasenverlauf auftretende Oktavparallelen. Im nachstehend zitierten Fall scheint der Textbezug (»falscher Lehr«) auf der Hand zu liegen:[20]

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Beispiel 6: TMW 30, 53–57, »Des dank ihm alle Christenheit«, T. 113–15

In den übrigen Fällen ist eine Beziehung zum Text jedoch nicht nachzuweisen. Obwohl die durchschnittliche Häufigkeit der in Telemanns Chorälen auftretenden Parallelen ungefähr derjenigen der Bachschen Originale entspricht, findet sich hier eine deutlich größere Anzahl fragwürdiger Stellen; doch wäre es wohl übertrieben, die Echtheit sämtlicher betroffener Choräle in Zweifel zu ziehen.[21]

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Beispiel 7a: TMW 33, 27f. »Dein Blut, der edle Saft«, T. 1–4

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Beispiel 7b: TMW 35, 231–33 »Sei Lob und Preis mit Ehren«, T. 153–192

Offene Quinten sind etwas häufiger anzutreffen als Oktaven, was unter anderem auf die größere Bandbreite der hier in Frage kommenden musikalischen Situationen zurückzuführen ist. Daniel unterscheidet zwei Arten satztechnisch zulässiger Quintparallelen, welche im Folgenden als ›Transitus-anticipatio-Typ‹ bzw. ›Transitus-Typ‹ bezeichnet werden.[22] Der erste Typ beruht auf der Kombination eines Septdurchgangs im Tenor mit einer Vorausnahme der Tenorklausel-Ultima im Sopran, die auf leichter Achtelposition am Phrasenende erscheint:

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Beispiel 8: BWV 40.8, »Jesu, nimm dich deiner Glieder«, T. 1–2

Tatsächlich tritt dieses Stimmführungsmuster in den Chorälen aus Bachs Originalwerken nicht weniger als zehnmal auf, und zwar in fünf Sätzen[23] zu drei unterschiedlichen Melodien; hinzu kommen inklusive der Dubletten acht Stellen aus den Sammlungen, unter denen die folgenden Varianten zu finden sind:

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Beispiel 9a: CPHE 128 »Alles ist an Gottes Segen«, T. 5–6

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Beispiel 9b: DIETEL 104 »Jesu, meiner Seelen Wonne«, T. 11–12

Im ersten Fall steht das Ausgangsintervall bereits am Taktanfang, während der Septime eine zusätzliche Antizipation folgt. Fragwürdig wirkt indes die zweite Stelle: Hier erscheint der Septdurchgang nicht im Tenor, sondern im Alt, und zudem verlaufen beide Stimmen in synchronen Achtelnoten, sodass die Parallele visuell wie auch akustisch deutlich hervortritt.

Der andere Typ der ›legitimen‹ Quintparallele beruht auf einer Transitus-Figur, die als Durchgang oder Wechselnote auftreten kann:[24]

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Beispiel 10a: BWV 48.7, »Herr Jesu Christ, einiger Trost«, T. 14–15

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Beispiel 10b: BWV 33.6, »Ehre sei Gott in dem höchsten Thron«, T. 5–6

Neben den vier von Daniel zitierten Stellen sind zwei Fälle zu erwähnen, in denen die Quinte in Verbindung mit einer nachschlagenden Septime erscheint.[25] Die Quintparallele nach einer Wechselnote kommt in den Sätzen aus Originalwerken nur zweimal vor.[26] Immerhin kann auf die Verwandtschaft der auf Durchgangs- und Wechselnotenbildung beruhenden Formen verwiesen werden; auch findet sich eine ähnliche Stelle bei Telemann:[27]

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Beispiel 11: TMW 40, 264f., »Hierauf so sprech ich Amen«, T. 103–123

Ausgehend von diesen beiden Typen postuliert Daniel, dass »offene Quintparallelen« zum einen »die Beteiligung wenigstens eines dissonanten Tons« verlangten[28]; des Weiteren würden sie »nicht in Hauptzählzeiten […] und nicht zum Baß gesetzt«.[29] Solange sich die fraglichen Fortschreitungen innerhalb der Phrasengrenzen befinden, ist dem im Wesentlichen zuzustimmen. Daniels Argument, wonach die erste der in BWV 99.6 aufeinander folgenden Quinten als »Scheinkonsonanz« zu interpretieren sei[30], erscheint plausibel; entsprechendes gilt auch für den folgenden Satz, in dem das fis1 des Tenors als Vorhalt zum anschließenden e1 fungiert:

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Beispiel 12: BWV 107.7, »Herr, gib, daß ich dein Ehre«, T. 344–37

Für Quinten, die nach Pausen oder Fermaten auftreten, bleiben die genannten Einschränkungen bezüglich des Sonanzgrads und der metrischen Position ohne Konsequenzen; anders als bei Oktaven sind Interpolationen in anderen Stimmen nicht notwendig:

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Beispiel 13a: BWV 57.8, »Richte dich, Liebste, nach meinem Gefallen«, T. 14–16

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Beispiel 13b: BWV 190.7, »Laß uns das Jahr vollbringen«, T. 4–63

Allerdings gehören solche Quinten – gemessen an der Zahl der Choralphrasen – immer noch zu den Seltenheiten; in den Sätzen aus Bachs Originalwerken finden sie sich ungefähr so oft wie diejenigen des ›Transitus-Typs‹.[31]

Schließlich sei noch auf zwei Stellen aus autograph überlieferten Choralsätzen Telemanns hingewiesen:

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Beispiel 14a: TMW 15, 198, »Er ist aus der Angst und Qual«, T. 105–108

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Beispiel 14b: TMW 30, 97–99, [ohne Text], T. 103–14

Im ersten Fall könnte die von Sopran und Bass gebildete verminderte Septime als ›mildernder Umstand‹ angeführt werden. Der zweite Choral wurde von Telemann gestrichen – wohl deswegen, weil er irrtümlich eine Melodie gewählt hatte, die nicht dem vorgesehenen Text entsprach.[32]

Parallelführungen anderer, nicht perfekt konsonanter Intervalle scheinen – abgesehen von den durch sonstige satztechnische Erfordernisse vorgegebenen Einschränkungen – weitgehend unproblematisch zu sein. So treten etwa Folgen reiner Quarten[33] (3055, 722, 156) und großer Terzen (2907, 701, 193) in beträchtlicher Zahl auf. Sekunden (268, 65, 2) und Septimen (146, 39, 2) kommen naturgemäß seltener vor, sind aber zumindest für den Bach-Choral nicht generell auszuschließen. Dass sie bei Telemann fast gänzlich fehlen[34], erklärt sich aus der einfacheren Faktur der Sätze, die nur eine limitierte Verwendung von Dissonanzfiguren gestattet.

Verdeckte Parallelen

Angesichts der hohen Zahl von 15005 (3549, 1643) verdeckten Parallelen[35] erscheint Diether de la Mottes Einschätzung, entsprechende Fortschreitungen seien generell als unbedenklich zu betrachten, zunächst plausibel.[36] Allerdings nimmt bereits de la Motte Differenzierungen vor, denen Daniel eine Reihe eigener Thesen gegenüberstellt.[37] Bevor die Positionen de la Mottes und Daniels einer näheren Betrachtung unterzogen werden, sollen zunächst einige allgemeine Sachverhalte zur Sprache kommen. Die erhobenen Daten (Tabelle 3) lassen schon bei flüchtiger Betrachtung ein deutliches Übergewicht der Stimmkombinationen mit Bassbeteiligung erkennen: Diese sind für fast 70% der verdeckten Parallelen verantwortlich, obwohl der Bass als eine der Außenstimmen besonderen Anforderungen hinsichtlich der Stimmführung unterliegt. Dabei ist aber zu beachten, dass perfekte Konsonanzen mit Beteiligung des Basses fast doppelt so häufig auftreten wie zwischen den oberen Stimmen.[38] Auffällig ist einerseits ein höherer Anteil von Oktaven (19.3 : 7.2% mit/ohne Bass), andererseits die geringere Beteiligung von Quarten (1.9 : 18.2%), was jedoch im ersten Fall durch die Fundamentfunktion der Unterstimme, im zweiten durch die Behandlung der ›primären‹ Quarte als Dissonanz leicht zu erklären ist. Die Häufigkeit bestimmter Typen von Ereignissen lässt also nicht in jedem Fall bereits die Ableitung von Regeln zu.

Entsprechend ist die auch geringe Anzahl verdeckter Primen in Relation zur Gesamtzahl der simultan einsetzenden Intervalle zu bewerten; allerdings liegt die Quote der in Geradbewegung erreichten Primen mit 13% immer noch niedriger als die der Oktaven (17.7%) oder Quinten (18.7%). De la Motte wie auch Daniel verweisen auf den Umstand, dass verdeckte Primen besonders oft zwischen Tenor und Bass auftreten. Am häufigsten ist die Kombination eines Quartsprungs im Bass mit einem Sekundschritt im Tenor zu beobachten (ca. 60%), am zweithäufigsten (ca. 15%) eine Kombination von Oktav- und Quartsprung:

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Beispiel 15a: BWV 5.7, »Führ auch mein Herz und Sinn«, T. 04–23

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Beispiel 15b: BWV 31.9, »So fahr ich hin zu Jesu Christ«, T. 04–23

Die zweite, nach Daniel auf einer »Verwechselung der Dreiklangstöne«[39] beruhende Form findet sich bei Telemann nur einmal, und zwar am Phrasenübergang[40]; allerdings verwendet Telemann Oktavsprünge (insbesondere bei steigender Bewegung) generell sparsamer als Bach. Auffällig ist ferner, dass die verdeckte Prime zwischen Bass und Tenor im Bach-Choral nur sehr selten bei fallender Bewegung auftritt; in den Sätzen aus Bachs Originalwerken finden sich dafür lediglich zwei Beispiele.[41] Telemann hingegen gebraucht die fallende Folge achtmal (davon einmal in einem fünfstimmigen Satz), wobei er stets auf die gleiche Intervallkonstellation (Quarte und Sekunde) zurückgreift:[42]

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Beispiel 16: TMW 31, 132 »In meines Herzens Grunde«, T. 1–5

Zwischen Sopran und Alt ist im Unterschied zu allen anderen Stimmkombinationen häufiger die Abwärtsbewegung anzutreffen, und zwar fast immer in Verbindung mit einem Sprung des Soprans; die Aufwärtsbewegung erfolgt zumeist im Sekundschritt. Daniels Regel, wonach »Verdeckte Primen […] in den drei Oberstimmen ungebräuchlich«[43] seien, ist also am besten als Hinweis auf das bestehende Übergewicht von Bass und Tenor aufzufassen, zumal neben den vier von ihm angeführten Fällen acht weitere Stellen beim ›originalen‹ Bach zu vermerken sind.[44]

Das von de la Motte formulierte Prinzip, wonach bei Beteiligung der Oberstimme diese zumeist das kleinere Sukzessivintervall aufweist[45], trifft im statistischen Mittel auf alle drei Arten verdeckter Parallelen zu; unter dieser Voraussetzung lässt es sich auch auf die unteren Stimmen anwenden. Eine nach Intervallgröße, Bewegungsrichtung und Stimmkombination differenzierte Betrachtung ergibt jedoch ein uneinheitliches Bild. So werden etwa verdeckte Primen bei fallender Bewegung in keinem einzigen Fall gemäß der Regel behandelt[46], doch ist dies nicht etwa als Ausdruck einer stilistischen Präferenz anzusehen, sondern aus der »Logik der Konstruktion« zu begründen[47]: Weil die oben liegende Stimme einen weiteren Weg zur Prime zurückzulegen hat als die Unterstimme, muss sie zwangsläufig auch das größere Intervall ausführen; bei Aufwärtsbewegung verhält es sich umgekehrt. Abweichungen von diesem Schema sind prinzipiell unmöglich und dementsprechend nirgends nachzuweisen.[48] Bei der folgenden Stelle handelt es sich nur scheinbar um eine Ausnahme, da die normale Anordnung der Stimmen durch die Kreuzung aufgehoben wird:

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Beispiel 17: BWV 79.6, »Erhalt uns in der Wahrheit«, T. 03–42

Auch für in fallender Bewegung erreichte Quinten (ohne Oktaverweiterungen) ist die Gültigkeit von de la Mottes Regel zu verneinen; bei analogen Quarten hingegen (die nicht unter das Parallelenverbot fallen) liegt das kleinere Sukzessivintervall in den meisten Fällen oben. Ähnliches gilt für die Mehrzahl der imperfekten Konsonanzen[49], sodass sich das Prinzip – den Ausschluss der erwähnten Sonderfälle vorausgesetzt – durchaus verallgemeinern ließe; dann allerdings wäre es als Satzregel im Kontext des Parallelenverbots entbehrlich. Im Übrigen kann dasselbe mit geringerer Verbindlichkeit auch für andere Bewegungsarten reklamiert werden.[50] Dabei ist ein tendenzieller Anstieg des ›regelkonformen‹ Anteils mit zunehmender Größe des Zielintervalls festzustellen, wofür nicht zuletzt die kontinuierliche Abnahme der durchschnittlichen horizontalen Intervallgröße vom Bass bis zum Sopran verantwortlich sein dürfte. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Regel für fallende Fortschreitungen zu Doppel- und (seltenen) Tripeloktaven ohne Ausnahme gilt.[51] Konstruktive Notwendigkeiten scheinen hier nicht vorzuliegen; doch könnte die limitierte Verwendbarkeit der Sekunde im Bass (s.u.) in diesem Fall eine Rolle spielen.

Daniels Einschätzung, wonach »verdeckte Oktaven und Quinten der Außenstimmen […] bei springendem Sopran gewöhnlich nur mit ›Verwechselung‹«[52] auftreten, lässt sich wiederum nur tendenziell bestätigen. Zwar liegt der Anteil regelgerechter Fälle global (wie auch für die Sätze aus Bachs Originalwerken) bei ca. 75%, doch sind insgesamt fast hundert Ausnahmen zu verzeichnen.[53] Daniel versteht unter ›Verwechselung‹ den Austausch von Akkordtönen bei gleichbleibender Harmonie; als typisch kann die folgende, an zahlreichen Satzanfängen anzutreffende Situation gelten:

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Beispiel 18: BWV 69a.6, »Was Gott tut, das ist wohlgetan«, T. 04–23

An der Bildung der betreffenden Parallelen können neben harmonieeigenen Tönen auch Durchgänge beteiligt sein.[54] Legt man Daniels Definition großzügig aus, kann das Merkmal der ›Verwechselung‹ durch dasjenige der ›beibehaltenen Harmonie‹ ersetzt werden. (In diesem Fall bleiben akzidentelle Unterschiede zwischen den Harmonien, insbesondere fehlende bzw. hinzugefügte Töne, alterierte Terzen und Vorhaltsbildungen, ebenso unberücksichtigt wie einfache Diminutionen, etwa eine Wechselnote im Bass oder eine superjectio-Figur im Sopran.) Trotz der nicht unbeträchtlichen Zahl von Abweichungen scheint zunächst einiges dafür zu sprechen, Daniels oben zitierte Aussage als unverbindliche Empfehlung zu akzeptieren. So lässt sich für einige Intervallkonstellationen ein sehr hoher Anteil von Fortschreitungen des ›Verwechselungstyps‹ belegen[55], zudem ist bei Gegenbewegung und springendem Sopran keinerlei Tendenz zum Festhalten der Harmonie erkennbar: Die Quoten liegen hier lediglich bei 26.9% (für Oktaven) und 8.3% (für Quinten). Ganz anders verhält es sich bei Seitenbewegung, wo die Harmonie in jeweils rund 95% der Fälle erhalten bleibt – ein Befund, der kaum überrascht, da außer der 5-6-Vertauschung nicht allzu viele Möglichkeiten für einen Wechsel zur Verfügung stehen. Relevant ist dies indessen im Zusammenhang mit einer weiteren Beobachtung: Von den 376 (106, 27) verdeckten Parallelen der beschriebenen Art entstehen nicht weniger als 219 (63, 14) im Zusammenhang mit einem Oktavsprung des Basses. Weil dieser der Tonwiederholung in einem anderen Register entspricht, gelten hier ähnliche Bedingungen wie im Fall der Seitenbewegung. Dementsprechend werden, sofern der Bass um eine Oktave springt, 95.6% der verdeckten Oktaven und sogar 100% der Quinten im Zuge einer ›Verwechselung‹ erreicht; andernfalls liegen die Werte mit 33.3 bzw. 40.8% außerhalb des signifikanten Bereichs. Bei Gegenbewegung mit Sprung im Sopran und Oktavsprung im Bass bleibt die Harmonie sogar in sämtlichen beobachteten Fällen erhalten. Da aber das Parallelenverbot bei Gegen- wie auch schon bei Seitenbewegung keine Rolle spielt[56], liegt die Vermutung nahe, dass es auch für Daniels ›Verwechselungstyp‹ von untergeordneter Bedeutung ist. Immerhin kommt der Harmoniewechsel bei Geradbewegung selbst dann, wenn Oktavsprünge des Basses ausgeklammert werden, noch signifikant häufiger vor als bei entsprechender Gegenbewegung. Am deutlichsten zeigt sich dies bei fallenden Quartsprüngen des Soprans zur Quinte über dem Bass, die im ersten Fall stets mit konstanter, im zweiten ausnahmslos mit wechselnder Harmonie gesetzt werden. Maßgeblich ist wiederum das Zusammenspiel konstruktiver Notwendigkeiten mit allgemeinen stilistischen Normen. Bleiben Wechselnoten und dreiklangsfremde Akkordtöne außer Betracht, so ergeben sich für den Außenstimmensatz unter den genannten Bedingungen die folgenden Möglichkeiten:

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Beispiel 19: Geradbewegung (a–c) und Gegenbewegung (d–g) mit Quartfall des Soprans zur nachfolgenden Quinte

Die Varianten b) und e) scheiden wegen der im Verhältnis zum Bass gebildeten Quarte aus. Bei den unter a) und g) gezeigten Fortschreitungen stören die Sextsprünge, die im Bach-Choral zwar möglich sind, doch kaum ohne zwingenden Grund einer einfacheren Lösung vorzuziehen wären. Ebenfalls nur unter Vorbehalt verwendbar ist die bei f) dargestellte ›Antiquinte‹ (s.u.). Es verbleiben also als plausibelste Optionen die Varianten c) und d), auf die tatsächlich in der überwiegenden Zahl aller Fälle – meist in Verbindung mit einem Durchgang im Bass – zurückgegriffen wird. Ein Zusammenhang mit dem Parallelenverbot ist auch hier unwahrscheinlich.

Dass bei Geradbewegung der Außenstimmen »offenbar besonders solche [Quinten und Oktaven] gemieden [wurden], die mit einer (fundamentalen) Sekundbewegung im Baß verbunden sind, zumal dann, wenn sie zu einer Diskant- oder Tenorklausel gehören«[57], kann für den letzten Fall bestätigt werden: Tatsächlich finden sich an den 6159 Phrasenenden[58] lediglich zwei Ausnahmen, eine davon in einem originalen Choral Bachs:[59]

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Beispiel 20: BWV 225.2, »Wie sich ein Vater erbarmet«, T. 189–1912

Allerdings sind bei Bach insgesamt nur acht Fälle zu verzeichnen, in denen am Schluss der Phrase eine verdeckte Parallele zwischen springendem Sopran und Bass erscheint; Telemann macht von dieser Möglichkeit überhaupt keinen Gebrauch. Der folgenden Abbildung sind sämtliche nachgewiesenen Intervallkombinationen zu entnehmen:[60]

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Beispiel 21: Verdeckte Parallelen der Außenstimmen bei springendem Sopran (Phrasenende)

Insgesamt wurden 95 (27, 2) Sekundschritte gefunden, jedoch beruhen diese zu mehr als zwei Dritteln auf Durchgängen oder Wechselnoten, womit sie nicht den von Daniel genannten Kriterien entsprechen. Zwar dominiert unter den vom Bass ausgeführten Sukzessivintervallen die Oktave (59.2%), doch ist die Sekunde (außer bei Telemann) immer noch das zweithäufigste Intervall (22.1%). Bleiben Dissonanzfiguren unberücksichtigt, so liegt ihr Anteil mit 6.5% nur knapp unter demjenigen der Quinten (7.5%), alle anderen Intervalle sind noch seltener anzutreffen.

Schließlich formuliert Daniel eine Regel, der zufolge »verdeckte Oktaven der Außenstimmen, die nicht auf ›Verwechselung‹ beruhen, […] auf Zeilenschlüsse verwiesen« seien.[61] Hier ist zunächst zu beachten, dass verdeckte Oktavparallelen zwischen Sopran und Bass abseits der Schlüsse generell sparsam eingesetzt werden: Von den 1963 (446, 209) außerhalb von Phrasenübergängen nachgewiesenen Fortschreitungen enden nicht weniger als 1809 auf der Klauselultima, sodass lediglich 154 (42, 13) Stellen auf alternativen Positionen verbleiben.[62] Für diese Diskrepanz ist einerseits der Umstand verantwortlich, dass die am Zeilenschluss sehr oft anzutreffende Verbindung von Tenor- und (fallender) Bassklausel notwendig zu einer Oktave in Geradbewegung führt[63]; andererseits lässt der weitaus höhere Anteil abseits des Phrasenendes liegender Fortschreitungen bei allen weiteren Stimmkombinationen[64] vermuten, dass verdeckte Oktaven (nicht jedoch Quinten) der Außenstimmen hier bewusst mit einer gewissen Zurückhaltung verwendet worden sind. Von 135 (42, 13) Stellen in den vollständigen vier- und fünfstimmigen Sätzen erfolgen 84 (22, 10) mit Harmoniewechsel; eine generelle Bevorzugung des ›Verwechselungstyps‹ ist also nicht zu erkennen. Lediglich an den Phrasenanfängen zeichnet sich ein deutliches Übergewicht der harmoniekonstanten Fortschreitungen ab: Hier liegt in 26 von 35 Fällen die bekannte Kombination von Quart- und Oktavsprung im Sopran bzw. Bass vor; an den verbleibenden neun Stellen führt der Bass einen Quartsprung aus, während die Oberstimme die (zumeist kleine) aufsteigende Sekunde enthält. Die Kombination ›Tenor-/Bassklausel‹ des Außenstimmensatzes mit resultierender Oktave scheidet am Phrasenbeginn also aus; dies gilt im Übrigen auch bei Gegenbewegung, sodass wiederum keine unmittelbare Beziehung zum Parallelenverbot vorzuliegen scheint.

›Rein-verminderte‹ und ›vermindert-reine‹ Quinten

Parallelführungen mit Beteiligung einer verminderten Quinte stellen insofern Sonderfälle dar, als sie in der Regel in einem harmonischen Kontext stehen, der bestimmte Anforderungen an die Auflösung bzw. Einführung des verminderten Intervalls impliziert.[65] Bei der ›vermindert-reinen‹ Folge handelt es sich im Grunde um eine verdeckte Parallele, da die Intervalle nur bezüglich ihrer diatonischen Größe, nicht jedoch akustisch übereinstimmen; die ›rein-verminderte‹ Fortschreitung fällt insofern aus dem Rahmen des ›klassischen‹ Parallelenverbots, als das entscheidende zweite Intervall keine perfekte Konsonanz darstellt, weswegen die üblichen Begründungen für eine Reglementierung nicht in Betracht kommen. Dieser Erwägung mag sich auch der aus dem traditionellen Tonsatzunterricht bekannte Lehrsatz verdanken, wonach nur rein-verminderte Quintenfolgen, nicht jedoch solche in umgekehrter Abfolge als zulässig zu betrachten seien.[66] Insgesamt wurden 199 Fortschreitungen der ersten und 154 der zweiten Art gefunden. In der ›Bach-Gruppe‹ kommen beide Formen ungefähr gleich häufig vor: Hier stehen 138 rein-verminderte 143 vermindert-reinen Folgen gegenüber.[67] Bei Telemann hingegen ist das Verhältnis deutlich zugunsten der ersten Form verschoben (61 gegenüber 11 Stellen), womit der oben erwähnte Lehrsatz wenigstens tendenziell Bestätigung erfährt.[68]

Im Folgenden werden zunächst die vermindert-reinen Quintparallelen behandelt. Diese erfolgen fast immer bei enger Lage der Intervalle[69] und ausnahmslos mit Sekundanschluss, wobei zu rund 90% in der oberen Stimme die große Sekunde liegt, während die untere Stimme eine kleine Sekunde fortschreitet. Die Bewegung verläuft unter diesen Voraussetzungen aufwärts und somit im Sinne der von Daniel formulierten Regel:[70]

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Beispiel 22a: BWV 20.7, »Solang ein Gott im Himmel lebt«, T. 03–23

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Beispiel 22b: BWV 36(2).8, »Lob sei Gott dem Vater ton«, T. 3–4

In etwa einem Viertel der Fälle wird der Tiefton des Intervalls mit einer ›5-6-Progression‹ über dem Bass eingeführt (Beispiel 22b); allerdings ist diese Konstellation nicht alternativlos.[71] Nichtsdestoweniger kann die verminderte Quinte (mit vertauschter Position der Sekundschritte) auch abwärts aufgelöst werden, insbesondere wenn sie zwischen dem zweiten und vierten Ton eines verminderten Septakkords (bei ›hinzugedachtem‹ Grundton also zwischen Quinte und kleiner None) auftritt:[72]

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Beispiel 23: BWV 2.6, »Das wollst du, Gott, bewahren rein«, T. 24–43

Diese Stelle unterscheidet sich grundlegend von den oben angeführten Beispielen, da die im Verhältnis zum Bass gebildete verminderte Septime in Abwärtsbewegung weitergeführt werden muss[73]; eine Vermeidung der Parallele wäre also allenfalls durch eine Modifikation des Tenors zu erreichen[74], die im vorliegenden Fall jedoch das kontrapunktische Gesamtbild nachteilig beeinflussen würde.

Vermindert-reine Quintparallelen mit Beteiligung des Basses möchte Daniel generell für unzulässig erklären.[75] Die folgende Stelle aus einem autograph überlieferten Bach-Choral sei als eine der (seltenen) Ausnahmen zitiert:[76]

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Beispiel 24: BWV 29.8, »Sei Lob und Preis mit Ehren«, T. 383–412

Hier liegt ein ›verkürzter Dominantseptakkord‹ mit verdoppelter Septime vor; der Sopran übernimmt die reguläre Fortsetzung, sodass die Mittelstimme steigen kann (was sie aufgrund der sonst entstehenden Oktavparallele auch muss). Der Regel, wonach die verminderte Quinte »zum Baß […] eine Dissonanz dar[stellt], die der verengenden Auflösung zur Terz bedarf«, womit sich »die Parallelführung in die reine Quinte folglich verbietet«[77], kann in diesem Fall nicht entsprochen werden.[78] Festzuhalten bleibt, dass die vermindert-reine Quintenfolge zwischen den Außenstimmen nicht zu belegen ist[79], was der von Knipphals und Möller formulierten Regel entspricht.[80]

Im Unterschied zur vermindert-reinen Quintparallele tritt die rein-verminderte Form in rund einem Viertel der Fälle in weiter (Duodezim-)Lage auf. Nach Daniel verläuft die Fortschreitung regelmäßig in fallender Richtung[81], was für gut 80% der Fälle zu bestätigen ist. Oft dient sie der Einführung einer Dominantseptime (Beispiel 25a), doch ist auch die Form mit der None über dem ›virtuellen‹ Grundton (Beispiel 25b) zu belegen:

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Beispiel 25a: BWV 28.6, »All solch dein Güt wir preisen«, T. 104–123

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Beispiel 25b: BWV 185.6, »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ«, T. 104–122

Die von Daniel angeführten vier Ausnahmen aus Bachschen Originalwerken[82], von denen eine oben abgebildet ist (Beispiel 25b), ereignen sich sämtlich im Phrasenverlauf und (ebenso wie die ›regulären‹ Fälle) mit Sekundanschluss. Für Phrasenübergänge besteht zusätzlich die Möglichkeit eines Aufwärtssprungs, auf die Bach häufig in den Sätzen zu der Melodie »Herzlich tut mich verlangen« (Beispiel 26b) zurückgreift:[83]

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Beispiel 26a: BWV 13.6, »So sei nun, Seele, deine«, T. 104–12

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Beispiel 26b: BWV 244.62, »Wenn ich einmal soll scheiden«, T. 114–132

Telemann verwendet die aufsteigende Variante zehnmal, was etwa einem Sechstel der beobachteten Fälle entspricht.[84] Von den innerhalb der Phrase lokalisierten Stellen seien hier nur die auf sicheren Quellen beruhenden wiedergegeben:

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Beispiel 27a: TMW 15, 47, »Treib, Herr, von mir und verhüte«, T. 1–5

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Beispiel 27b: TMW 22, 93f., »Dein Nam’ ist zuckersüß Honig«, T. 13–16

Der harmonische Kontext – aus ›moderner‹ Perspektive ließen sich die Zielklänge als Subdominanten interpretieren – lässt die Frage nach der ›absoluten‹ Bewegungsrichtung sekundär erscheinen; auch bieten sich bei der vorgegebenen Ausgangssituation kaum Alternativen zu einer steigenden Einführung an.

Indirekte Parallelen

Daniel ersetzt den für Musik des stylus gravis fragwürdigen Begriff der ›Akzentparallele‹ durch den der »indirekten Parallele«[85], eine Neuerung, die hier übernommen wird. Auch wenn ein ›Akzent‹ nicht unbedingt als Klangverstärkung verstanden werden muss, sondern ebenso einen ›inneren‹ Schwerpunkt bezeichnen kann, ist doch das Argument, wonach »eine indirekte Parallele auch leichte Taktzeiten betreffen« könne, »ohne dadurch mehr oder weniger legitim zu sein«[86], nicht von der Hand zu weisen; jedenfalls spielt die metrische Qualität, auch wenn sie einen gewissen Einfluss zu besitzen scheint (s.u.), nicht die entscheidende Rolle. Über die Verwendbarkeit solcher nach Interpolation in mindestens einer Stimme erfolgenden Parallelführungen entscheiden nach Daniel die Art der verwendeten Intervalle, ihre Distanz im Satzverlauf und gegebenenfalls auch die Frage, ob die besagte Folge zwischen den Außenstimmen auftritt.[87]

Besondere Aufmerksamkeit erfordern naturgemäß Fortschreitungen von einer Taktzeit zur nächsten. Für Oktaven (bzw. Primen) betrachtet Daniel die Gegenbewegung generell als obligatorisch, für Quinten indes nur in Bezug auf die Außenstimmen. Demnach können Stellen wie die folgenden als unproblematisch gelten:

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Beispiel 28a: BWV 1.6, »Wie bin ich doch so herzlich froh«, T. 24–43

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Beispiel 28b: BWV 7.7, »Das Aug allein das Wasser sieht«, T. 164–18

Die Interpolation eines oder mehrerer Töne mit resultierender Gegenbewegung stellt zugleich ein probates Mittel zur Vermeidung offener Parallelen dar, das oft auch nachträglich angewendet werden kann, um ›verunglückte‹ Stellen zu reparieren; in welcher Stimme der Ausgleich erfolgt, ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Für Primen sowie für zwischen Bass und Sopran auftretende Oktaven und Quinten kann die Gültigkeit der von Daniel formulierten Regel bestätigt werden; allerdings ist die Zahl der nachweisbaren Stellen gering.[88] Von den 193 (47, 2) nicht von den beiden Außenstimmen gebildeten indirekten Oktaven weisen 28 (11, 0) keine Gegenbewegung auf; dabei liegt fast ausnahmslos ein Richtungswechsel in einer der betroffenen Stimmen vor:[89]

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Beispiel 29a: BWV 194.6, »Heilger Geist in Himmels Throne«, T. 11–12

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Beispiel 29b: BWV 52.6, »In dich hab ich gehoffet, Herr«, T. 62–82

Diese Option kommt außerhalb des Außenstimmensatzes ausnahmsweise in Betracht, wenn der Einsatz von Gegenbewegung nicht möglich ist oder zu einem weniger plausiblen Gesamtergebnis führen würde.[90]

Auch bei Quinten kann der Ausgleich auf diese Weise erfolgen, doch stellt die Vorausnahme eines der beiden Zieltöne (mit resultierender Seitenbewegung) die häufigere Variante dar:[91]

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Beispiel 30: BWV 78.7, »Herr, ich glaube, hilf mir Schwachen«, T. 1–2

Quinten, die nicht mit Hilfe einer der beschriebenen Methoden ausgeglichen werden, gehen entweder von einer leichten Taktzeit aus, oder das erste Intervall setzt asynchron (z.B. nach Überbindung) ein. Zumindest auf dieser Ebene scheint die ›Akzentuierung‹ im weitesten Sinn doch eine gewisse Rolle zu spielen.[92]

Indirekte Parallelen im Abstand einer halben Taktzeit treten nur als Quinten, nie zwischen den Außenstimmen und gewöhnlich im Zusammenhang mit einer diminuierten superjectio-Figur auf[93]; wegen der sehr kurzen Dauer des ersten Hochtons bei asynchronem Einsatz des Ausgangsintervalls sind über den Richtungswechsel hinaus gehende Maßnahmen entbehrlich:

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Beispiel 31: BWV 248.5, »Wie soll ich dich empfangen«, T. 23–33

Primen und Oktaven, die von einer halben Taktzeit (beispielsweise einer leichten Achtelposition) zur nächstfolgenden halben Taktzeit entstehen, werden durch Gegenbewegung ausgeglichen[94], bei Quinten gilt dies nur für die Außenstimmen[95], sodass Daniels oben erwähnter Regel hier vollständig entsprochen wird. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass Oktaven außerhalb des Außenstimmensatzes auch bei bloßem Richtungswechsel toleriert worden wären und lediglich wegen der auf Achtelposition eingeschränkten satztechnischen Möglichkeiten nicht zur Anwendung gekommen sind.

Indirekte Parallelen von einer Taktzeit zur übernächsten müssen nach Daniel entweder mit eingeschalteter Gegenbewegung oder mit Seitenbewegung zum Zielintervall erfolgen[96]; doch finden sich an den insgesamt 6972 (1779, 390) Stellen nicht weniger als 713 (176, 45) Abweichungen. Am ehesten noch ist die Regel auf Primen anwendbar[97], zumal zwei der bei Bach nachzuweisenden ›irregulären‹ Fortschreitungen durch Fermaten unterbrochen werden.[98] Im folgenden Beispiel wird die Phrasengrenze nicht überschritten; den Ausgleich gewährleistet die Seitenbewegung am Anfang der Folge in Verbindung mit einem Richtungswechsel in derselben Stimme:

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Beispiel 32: BWV 19.7, »Laß dein Engel mit mir fahren«, T. 273–31

Wenigstens in Bezug auf Quinten und Oktaven erscheint Daniels Forderung eindeutig zu streng: Selbst wenn man Fortschreitungen über Phrasengrenzen und Stellen mit asynchronem Einsatz des Ausgangsintervalls unberücksichtigt lässt, wären bei konsequenter Anwendung der Regel immer noch 296 der untersuchten Sätze – darunter 76 aus zuverlässig überlieferten Werken Bachs – als ›fehlerhaft‹ einzustufen. Auch im Außenstimmensatz sind gelegentlich Ausnahmen anzutreffen, wie die folgenden Beispiele zeigen:

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Beispiel 33a: BWV 9.7, »Ob sich’s anließ, als wollt er nicht«, T. 104–123

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Beispiel 33b: BWV 96.6, »Ertöt uns durch dein Güte«, T. 04–23

In beiden Fällen findet keine Gegenbewegung, wohl aber ein Richtungswechsel statt. Fehlt auch dieser, so reicht eine am Anfang der Stelle vorliegende Seitenbewegung aus, um den Ausgleich herzustellen; bei Quinten genügen bereits eingefügte Achteldurchgänge (Beispiel 34b):

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Beispiel 34a: BWV 12.7, »Was Gott tut, das ist wohlgetan«, T. 84–103

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Beispiel 34b: BWV 59.3, »Komm, Heiliger Geist, Herre Gott«, T. 123–14

Jedoch können Quinten in dieser Distanz auch ohne Gegenbewegung, finale bzw. initiale Seitenbewegung oder einen Richtungswechsel auftreten.[99] Von den insgesamt 4030 (990, 233) Stellen sind allerdings nur 22 (6, 4) betroffen, von denen keine im Außenstimmensatz liegt.

Werden auch auf leichter Zeit oder asynchron einsetzende Fortschreitungen ausgeklammert, verbleiben noch sieben Fälle, darunter zwei aus zuverlässig überlieferten Bach-Werken. In Beispiel 35a ist der Vorhaltscharakter des zweiten Hochtons zu beachten, der dem Quintintervall einen eigentümlichen Reiz verleiht:[100]

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Beispiel 35a: BWV 57.8, »Richte dich, Liebste, nach meinem Gefallen«, T. 6–7

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Beispiel 35b: BWV 122.6, »Es bringt das rechte Jubeljahr«, T. 9–12

Bei einem Abstand von anderthalb Taktzeiten sind derartige Quinten noch nicht nachzuweisen; dafür findet sich bei Primen und Oktaven vereinzelt der Ausgleich durch Seitenbewegung am Anfang.[101]

Indirekte Parallelen, die sich über mehr als zwei Taktzeiten erstrecken, können nach Daniel vernachlässigt werden.[102] Ob sie sich tatsächlich in jedem Fall »der Aufmerksamkeit entziehen«, ist insbesondere für Folgen fraglich, die von der ›Eins‹ eines Takts bis zur nächsten ›Eins‹ reichen, zumal auch hier kaum Fortschreitungen ohne Ausgleich durch Gegenbewegung, finale bzw. initiale Seitenbewegung oder einen Richtungswechsel vorkommen. Nachzuweisen sind lediglich drei Quintenfolgen bei Telemann, eine davon in der im autorisierten Erstdruck überlieferten Johannespassion (1745):

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Beispiel 36: TMW 29, 3f., »Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld«, T. 1–5

Wie auch an den beiden anderen Stellen[103] wird die von den Mittelstimmen gebildete Quintenfolge durch den zur Prime steigenden Bass ›verdeckt‹. Gleichwohl könnte eingewandt werden, dass sich beim Abstand eines ganzen Takts, insbesondere in stärker diminuierten Choralsätzen, fast zwangsläufig eines der oben genannten Bewegungsmuster ergeben muss. Dies ist in der Tat auch bei Intervallen, die nicht zu den perfekten Konsonanzen zählen, für gewöhnlich der Fall; doch waren hier immerhin noch 121 (23, 29) indirekte Parallelen (zumeist in Terzen oder Sexten, aber auch in Quarten) ohne jeglichen Ausgleich zu verzeichnen – ein Befund, der auch durch die vergleichsweise größere Anzahl der Fortschreitungen nicht aufgewogen wird.

Antiparallelen

Mit dem nicht sehr glücklich gewählten, jedoch kaum sinnvoll zu ersetzenden Begriff der ›Antiparallele‹ werden in Gegenbewegung verlaufende Folgen gleichartiger, jedoch hinsichtlich des Grades ihrer Oktaverweiterung verschiedener Intervalle bezeichnet.[104] Da die Größendifferenz der betroffenen Intervalle (z.B. Oktave-Prime, Duodezime-Quinte und umgekehrt) nach dieser Definition mindestens eine Oktave beträgt[105], muss auch die Summe der von den beiden Stimmen ausgeführten Sukzessivintervalle diesem Wert entsprechen. Somit bewirkt die Antiparallele eine Verengung oder Erweiterung des aktuellen Tonraums um eben diese Oktave, was Konsequenzen für die Führung der übrigen Stimmen nach sich zieht.

Daniels Feststellung, wonach Antiprimen »nirgends nachzuweisen«[106] seien, ist angesichts von 15 dokumentierten Fällen[107] (darunter fünf in ›gesicherten‹ Bach-Chorälen und drei bei Telemann) nicht aufrecht zu erhalten:

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Beispiel 37a: BWV 248.64 »Nun seid ihr wohl gerochen«, T. 124–143

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Beispiel 37b: BWV 251 »Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut«, T. 124–14

Auffällig ist an beiden Sätzen das Vorliegen von Stimmkreuzungen, die den mit der Oktavreduzierung verbundenen Raumverlust kompensieren. Doch sind Antiprimen auch ohne Kreuzung der Stimmen möglich, wie das folgende Beispiel von Telemann zeigt:[108]

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Beispiel 38: TMW 31, 132, »In meines Herzens Grunde«, T. 103–14

Lösungen wie die oben zitierten eignen sich, wie die meisten der in diesem Beitrag angeführten Ausnahmen, sicher nicht als Lehrbeispiele für den ›gewöhnlichen‹ vierstimmigen Satz. Dennoch erscheint es unzweckmäßig, sie gänzlich außer Betracht lassen: In dem Telemann-Choral etwa wäre eine akzeptable Fortsetzung unter den gegebenen Voraussetzungen kaum anders zu realisieren.

Antioktaven kommen in den untersuchten Sätzen insgesamt 60 (13, 8) Mal vor, wobei die Folgen 15-8 und 1-8 mit 30 bzw. 17 Stellen am häufigsten vertreten sind. Überproportional oft, nämlich 25 Mal, tritt die Antioktave in den Außenstimmen auf, allerdings ausschließlich an Phrasenübergängen. Innerhalb der Phrase verbleiben 18 (4, 3) Fälle, von denen 17 dem Muster 1-8 entsprechen:[109]

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Beispiel 39a: BWV 154.8, »Meinen Jesum laß ich nicht«, T. 1–2

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Beispiel 39b: BWV 244.32, »Mir hat die Welt trüglich gericht’«, T. 04–31

Von den 180 (54, 10) nachgewiesenen Antiquinten liegen 34 (7, 3) zwischen Sopran und Bass, doch ist Daniels Beobachtung, wonach die Antiquinte innerhalb der Phrase für die Außenstimmen nicht in Frage kommt[110], bezüglich der originalen Bach-Choräle zu bestätigen; in den anderen Gruppen finden sich fünf Ausnahmen.[111]

Demgegenüber stellen Konsekutiven zweier perfekter Konsonanzen in Gegenbewegung kein Problem dar, wie die beträchtliche Zahl von 4717 Fortschreitungen der Form 8-5 bzw. 5-8 (inklusive Oktaverweiterungen) belegt.[112] Dabei ist jedoch zu beachten, dass die konstruktiven Voraussetzungen bei perfekten Konsonanzen unterschiedlichen Typs von den für Antiparallelen beschriebenen abweichen: Da die Intervallgrößen nun im günstigsten Fall nicht mehr um eine Oktave, sondern (je nach Bewegungsrichtung und Reihenfolge der Intervalle) um eine Quarte oder Quinte differieren, verringert sich auch die Gesamtgröße der erforderlichen Sukzessivintervalle auf diesen Betrag. In der Tat überschreiten 99.4% der untersuchten Folgen die besagte Quart- bzw. Quintdifferenz nicht.[113] Dafür, dass die Größe der Sukzessivintervalle (zuzüglich der Konsequenzen, die sich daraus für die anderen Stimmen ergeben) eine gewisse Rolle spielt, scheint auch der Umstand zu sprechen, dass Antiquarten (28 Fälle, erwartungsgemäß ohne Beteiligung des Basses) und -sexten (83) ebenfalls nur selten auftreten. Jedoch ist die Zahl der Antiterzen (833) immer noch recht hoch, und Fortschreitungen der Außenstimmen im Phrasenverlauf (193) scheinen hier (wie auch schon bei den Sexten, wo mit 19 Fällen ein proportional vergleichbarer Anteil vorliegt) keinen besonderen Einschränkungen zu unterliegen.[114] Die konsequente bzw. weitgehende Vermeidung von Antioktaven und -quinten der Außenstimmen im Phrasenverlauf ist daher nicht allein mit dem Hinweis auf die Differenzen der Intervallgrößen zu erklären.

Wie bei fast jeder Satzregel sind gelegentliche Ausnahmen von den allgemein geltenden Prinzipien möglich. Im folgenden Beispiel wird die Wirkung einer Vorhaltsdissonanz durch die Antiquinte auf ›einleuchtende‹ Weise unterstrichen – ein Verfahren, welches für das gewöhnliche Choralrepertoire allerdings kaum Betracht kommt:[115]

Abbildung

Beispiel 40: DIETEL 38, »Denket doch, ihr Menschenkinder«, T. 3–4

Scheinparallelen

Folgen im mehrstimmigen Satz perfekte Konsonanzen gleicher Größe derart aufeinander, dass sich durch Umverteilung der Stimmen Parallelführungen ergeben würden, so gilt dies gemeinhin nicht als Regelverstoß; da solche Fortschreitungen meist erst bei der Ausführung auf einem Tasteninstrument auffallen, ist zuweilen auch von ›Klavierparallelen‹ die Rede. Im mehr als zweistimmigen Satz beruhen derartige, hier als ›Scheinparallelen‹ bezeichnete Klangbewegungen nicht zwangsläufig auf Stimmkreuzungen; vielmehr sind die so genannten ›Kreuzungsparallelen‹ als Spezialfälle in der Gruppe der ersteren enthalten. Echte Kreuzungsparallelen, die sich zwischen zwei Stimmen ereignen, finden sich nur sehr selten. Belegbar sind lediglich 6 (2, 0) zwischen Alt und Tenor auftretende Quinten, die jeweils in Verbindung mit einem Oktavsprung erfolgen:[116]

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Beispiel 41a: BWV 97.9, »So sei nun, Seele, deine«, T. 24–43

Abbildung

Beispiel 41b: BWV 121.6, »Lob, Ehr und Dank sei dir gesagt«, T. 104–131

Bei der Klärung der Frage, warum anders gestaltete zweistimmige Folgen nirgendwo anzutreffen sind, hilft wiederum ein Blick auf die konstruktiven Gegebenheiten. Kreuzungsprimen zwischen zwei Stimmen wären mit offenen Primen äquivalent und scheiden daher von vornherein aus (Beispiel 42a):

Abbildung

Beispiel 42: Kreuzungsprimen, -oktaven und -quinten zweier Stimmen

Oktaven erforderten wenigstens einen Sept- und einen Nonensprung, weshalb sie gleichfalls kaum in Betracht kommen (42b). Kreuzungsquinten ließen sich noch am ehesten bei Sekundabstand der Rahmenintervalle realisieren, da hier ein Sextsprung in einer der beiden Stimmen hinreichend wäre (42c). Ob dieses Stimmführungsmuster bewusst vermieden wurde oder nur ›mangels Gelegenheit‹ in keinem der untersuchten Sätze zur Anwendung gekommen ist, muss offen bleiben; doch erscheint die zweite Annahme nicht weniger plausibel als die erste. Die Zahl der Kreuzungsquarten (51, 13, 1)[117] liegt deutlich höher als die der -quinten; Kreuzungssexten kommen indessen nur zweimal vor[118], und größere Intervalle fehlen gänzlich.

Weitaus häufiger sind Scheinparallelen mit drei beteiligten Stimmen; Stimmkreuzungen auf der Ausgangs- oder Zielposition (vgl. Beispiel 43a) treten in rund 13% der insgesamt 27594 (6480, 3859) Fälle auf:

Abbildung

Beispiel 43a: BWV 245.11, »Wer hat dich so geschlagen«, T. 103–12

Abbildung

Beispiel 43b: BWV 94.8, »Was frag ich nach der Welt!«, T. 44–63

Die von Daniel zitierten Stellen entsprechen ausnahmslos dem ›dreistimmigen Kreuzungstyp‹[119]; dass die Parallelen durch die Stimmkreuzungen »verschleiert« werden[120], dürfte angesichts der statistischen Befunde jedoch als sekundär anzusehen sein. Gut ein Drittel der Fortschreitungen beruht auf Quintspiegelungen (wie z.B. d2-g1 / g1-c1); fallende Quinten kommen dabei etwa doppelt so oft vor wie steigende, was auf den Einfluss harmonischer Faktoren hindeutet.

Scheinparallelen unter Beteiligung von vier Stimmen sind mit 4909 (1134, 639) nachgewiesenen Stellen zwar deutlich seltener vertreten, doch liegt die Anzahl der möglichen Stimmkombinationen im vierstimmigen Satz (6) hier a priori niedriger als bei der dreistimmigen Form (24). Nicht selten ist eine Verbindung von Drei- und Vierstimmigkeit zu beobachten, wie im vorletzten Takt des folgenden Beispiels:

Abbildung

Beispiel 44: TMW 29, 226f., »Darum wir wollen loben«, T. 304–33

Besonderheiten bezüglich der Beteiligung des Außenstimmensatzes, der syntaktischen Position oder des Einsatzes von Geradbewegung zum Zielintervall[121] waren bei den mehr als zweistimmigen Scheinparallelen nicht festzustellen, sodass sie unter Beachtung der sonstigen satztechnischen Regeln ohne Einschränkungen verwendbar sein sollten.

* * *

Die vorliegende Studie mag zunächst als Beleg dafür dienen, dass die Anwendung computergestützter Analysemethoden auch für die ›konventionelle‹ Musiktheorie von signifikantem Nutzen sein kann. Im Verlauf der Untersuchung war nicht selten eine Modifikation der Fragestellung nötig, um übergreifende Zusammenhänge zu beleuchten oder Teilaspekte der behandelten Probleme sichtbar zu machen; die entsprechenden statistischen Erhebungen hätten auf herkömmlichem Wege zum Teil mehrere Monate in Anspruch genommen, während der Rechner sie in wenigen Sekunden bewältigte. Dieser Vorteil bringt aber auch Risiken mit sich – fällt es doch allzu leicht, die methodische Verantwortung den Zahlen selbst zu übertragen, statt deren Bedeutungen in den jeweiligen Kontexten kritisch nachzuspüren. Deshalb wurde auf den vorangegangenen Seiten so oft wie möglich ins Detail gegangen.

Die gewonnenen Erkenntnisse sind zum einen als Beitrag zur Stilanalyse zu verstehen, zum anderen fordern sie zur Diskussion einiger Paradigmen der traditionellen Satzlehren heraus. Allerdings dürfte nicht jeder dokumentierte Sonderfall die Neuformulierung etablierter Lehrsätze rechtfertigen: Regelsysteme müssen – soweit sie didaktischen Ansprüchen verpflichtet sind – überschaubar bleiben, wenn sie ihren ursprünglichen Zweck nicht verfehlen sollen. Die daraus resultierende, manchmal beträchtliche Differenz zur ›musikalischen Realität‹ bedarf indes eines Ausgleichs: Daher bildet die am individuellen Fall orientierte Sichtweise neben der Vermittlung von Regeln einen unverzichtbaren Bestandteil jedes anspruchsvollen Tonsatzlehrgangs. (Daniels Buch ist – trotz der vorgebrachten Einwände – hierfür ein Musterbeispiel.)

Anhang

Tabelle 1: Die untersuchten Satzgruppen

Signatur

Bedeutung

Nummerierung

Anzahl

JSB (BWV)[122]

Sätze aus Originalwerken von J.S. Bach (außer BWV 27.6 und 43.11)

BWV-Nr. (gem. NBA)

251

CPHE

Sammlung C.Ph.E. Bach (Breitkopf-Druck 1784–87)

gem. NBA 3,2.2, 2–212

371

CPHE_ADD

Addenda zur Gruppe CPHE

gem. NBA 3,2.2, Anhang, 214–218

9

DIETEL

Sammlung J.L. Dietel

gem. NBA 3,2.1, 9–101

149

PENZEL

30 Sätze aus der Sammlung Chr.Fr. Penzel

gem. NBA 3,3, 55–76

30

BECKER

11 Choräle und geistliche Lieder nach der Ausgabe von C.F. Becker

gem. NBA 3,3, 79–88

11

MISC

4 weitere Sätze aus der NBA III,3 sowie BWV 27.6 (= Anh. 170) und 43.11

BWV-Nr. (gem. NBA)

6

SCHEM

Geistliche Lieder und Arien aus dem Gesangbuch von G.Chr. Schemelli

gem. NBA 3,2.1, 104–237

69

TELE (TMW)

Choralsätze von G.Ph. Telemann

TMW Band, Seite

100

Tabelle 2: Offene Parallelen in vollkommenen Konsonanzen

Gruppe

Anzahl[123] (1, 8, 5)

Satz, Takt/Taktzeit des Zielklangs, Stimmen, Intervall, (Anm.[124])

JSB

47 (0, 16, 31)

8.6, 42, T-B, 8 (P) (b)

8(2).6, 42, T-B, 8 (P) (b)

24.6, 232, T-B, 8 (P+) (a)

26.6, 42.5, S-T, 5 (a)

33.6, 61, S-T, 5 (a)

40.8, 22.5, S-T, 5 (a)

40.8, 42.5, S-T, 5 (a)

40.8, 62.5, S-T, 5 (a)

40.8, 162.5, S-T, 5 (a)

48.7, 142, A-T, 5 (a)

57.8, 161, S-T, 5 (P) (a)

73.5, 84, S-B, 12 (F-, O) (b)

76.7, 294, T-B, 5 (P) (a)

76.14, 294, T-B, 5 (P) (a)

80.8(1), 0(4) 4, S-B, 8 (W, O)

80.8(1), 0(4) 4, A-B, 5 (W, O)

80.8(2), 0(4) 4, S-B, 8 (W, O)

80.8(2), 0(4) 4, A-B, 5 (W, O)

86.6, 141, S-T, 5 (a)

91(2).6, 83.5, A-B, 8 (b)

91(2).6, 84, A-B, 8 (b)

99.6, 114, S-T, 5 (a)

107.7, 364, S-T, 5 (b)

115.6, 111, A-T, 5 (F) (a)

120a.8, 32, T-B, 8 (O) (a)

120a.8, 212, T-B, 8 (O) (a)

137.5, 32, T-B, 8 (O) (b)

139.6, 0(4) 4, S-B, 15 (W) (b)

146.8, 102.5, S-T, 5

147.6, 141, A-B, 8 (P+) (a)

147.6, 141, T-B, 5 (P+) (a)

147.10, 141, A-B, 8 (P+) (a)

147.10, 141, T-B, 5 (P+) (a)

174.5, 234, A-T, 5 (F) (a)

175.7, 212, A-B, 5 (P) (a)

185.6, 143, A-T, 5 (b)

185(2).6, 143, A-T, 5

190.7, 184, A-B, 12 (F) (a)

225.2, 1834, A-B, 8 (P++) (a)

244.40, 42.5, S-T, 5 (a)

244.40, 82.5, S-T, 5 (a)

244b.29, 132, S-T, 8

244b.29(2), 132, S-T, 8

244b.40, 42.5, S-T, 5

244b.40, 82.5, S-T, 5

248.23, 114, A-B, 12 (P+) (a)

248.33, 22, S-A, 5 (a)

248.64, 554, T-B, 8 (P++) (a)

251, 0(4) 4, T-B, 8 (W) (a)

CPHE

40 (0, 19, 21)

2, 0(4) 4, S-B, 8 (W)

2, 0(4) 4, A-B, 5 (W)

4, 141, S-T, 5

8, 22.5, S-T, 5 (L)

13, 61, S-T, 5 (L)

20, 0(4) 4, S-B, 8 (W, O)

34, 91, T-B, 5 (F, O)

36, 63, T-B, 5 (F, O)

38, 111, A-T, 5 (F)

70, 0(6) 4, S-B, 15 (W)

70, 0(6) 4, A-B, 12 (W)

128, 62.5, S-T, 5

137, 33, T-B, 5 (F)

139, 22, S-A, 5 (L)

150, 134, S2-B, 12

150, 181, T-B, 8 (Df)

150, 211, A-T, 5 (Df)

163, 0(4) 4, A-B, 15 (W)

167, 83, A-B, 8 (F)

176, 141, S-T, 8

182, 0(4) 4, S-B, 15 (W)

182, 0(4) 4, A-B, 12 (W)

205, 84, T-B, 5 (W)

226, 124, A-B, 8 (F)

243, 11, S-B, 15 (W)

250, 0(4) 4, S-B, 8 (W, O)

250, 0(4) 4, A-B, 5 (W, O)

264, 124.5, S-T, 5

269, 11, S-A, 5 (W)

269, 11, S-B, 12 (W)

269, 11, A-B, 8 (W)

273, 0(4) 4, S-B, 8 (W, O)

273, 0(4) 4, A-B, 5 (W, O)

286, 11, S-B, 15 (W)

309, 0(4) 4, S-B, 15 (W)

309, 0(4) 4, A-B, 12 (W)

319, 8, 3., S-T, 5

326, 164, A-B, 12 (W)

328, 0(4) 4, T-B, 8 (W)

333, 83, A-B, 8 (F)

358, 0(7) 4, S-B, 15 (W)

367, 1(10) 1, S-T, 5 (W)

367, 1(10) 1, S-B, 12 (W)

367, 1(10) 1, T-B, 8 (W)

370, 33, S-T, 8

CPHE_ADD

6 (0, 5, 1)

2, 73, S-T, 8

2, 74, S-T, 8

2, 74, A-B, 5

2, 123, S-T, 8

9, 153, S-B, 15

9, 154, S-T, 8

DIETEL

40 (0, 13, 27)

3, 0(4) 4, S-B, 8 (W, O)

3, 0(4) 4, A-B, 5 (W, O)

7, 53, A-T, 5

23, 184.5, S-T, 5

27, 111, A-T, 5 (F)

29, 1(6) 1, S-A, 5 (W)

29, 1(6) 1, S-B, 12 (W)

29, 1(6) 1, A-B, 8 (W)

35, 0(4) 4, S-B, 8 (W, O)

35, 0(4) 4, A-B, 5 (W, O)

40, 142, A-T, 5

42, 124.5, S-T, 5

49, 84, A-B, 12 (F)

57, 52, S-T, 8

57, 122, S-B, 12

63, 1(6) 1, S-B, 15 (W)

64, 0(4) 4, S-B, 8 (W, O)

66, 93, S-T, 12

68, 143, A-T, 5

77, 32, T-B, 8 (O)

77, 131, A-B, 8 (F)

77, 131, T-B, 5 (F)

80, 61, S-T, 5

81, 383, S-T, 12

88, 42, T-B, 8 (P)

104, 122.5, S-A, 5

109, 63, T-B, 5 (F, O)

110, 212, A-B, 5 (P)

111, 191, A-B, 8

111, 234, A-T, 5 (F)

113, 154.5, S-T, 5

122, 144, T-B, 8 (F)

125, 22, S-A, 5

128, 0(4) 4, S-B, 15 (W)

128, 0(4) 4, A-B, 12 (W)

135, 34, S-T, 12

139, 42.5, S-T, 5

146, 1(10) 1, S-T, 5 (W)

146, 1(10) 1, S-B, 12 (W)

146, 1(10) 1, T-B, 8 (W)

148, 114, A-B, 12 (Pi)

148, 132, T-B, 8 (Pi)

PENZEL

13 (0, 5, 8)

2, 62, T-B, 5 (P)

3, 23, T-B, 5

3, 71, T-B, 5 (F)

6, 152.5, A-B, 8

12, 11, S-B, 15 (W)

14, 5b3, T-B, 8

17, 31, S-T, 5

20, 132, S-T, 5

22, 64, S-B, 15 (F)

25, 11, S-B, 15 (W)

25, 11, A-B, 12 (W)

26, 232, S-B, 12

27, 44, A-B, 12 (F)

BECKER

6 (0, 3, 3)

1, 71, T-B, 8

2, 182, A-T, 5

6, 11, S-B, 8 (W, F)

6, 11, A-B, 5 (W, F)

6, 53.5, S-A, 5

11, 142, A-B, 8 (F)

MISC

1 (0, 1, 0)

deest, 1, 3., A-T, 8

 

SCHEM

11 (0, 9, 2)

2, 0(4) 4, S-B, 12 (W)

4, 1(7) 1, S-B, 15 (W)

15, 1(9) 1, S-B, 8 (W)

17, 1(14) 1, S-B, 15 (W)

19, 0(6) 4, S-B, 15 (W)

20, 1(9) 1, S-B, 15 (W)

21, 1(5) 1, S-B, 15 (W)

24, 1(6) 1, S-B, 8 (W)

45, 1(9) 1, S-B, 15 (W)

56, 1(5) 1, S-B, 12 (W)

64, 0(5) 4, S-B, 15 (W)

TELE

19 (2, 7, 10)

15, 080, 1141, S-T, 8 (W) (a)

15, 198, 1081, S-A, 5 (a)

27, 034, 163, T-B, 5 (P) (a)

30, 053-57, 123, A-T, 8 (a)

30, 097-99, 123, S-T, 12 (a)

32, 098f., 131, S-T, 8 (a)

33, 027f., 32, A-B, 8 (b-)

33, 132f., 62, A-B, 8 (P) (b-)

35, 231-33, 183, S-B, 15

35, 317f., 121, T-B, 5 (F-, O)

36, 017-22, 301, S-T, 8 (P)

36, 017-22, 301, S2-T, 5 (P)

36, 017-22, 203, A-T, 1

39, 135f., 33, T-B, 5 (F-)

39, 170, 84, A-B, 12 (P) (c)

40, 022f., 272, S-A, 1 (c)

40, 169-76, 191, T-B, 8 (P++)

40, 169-76, 751.5, T-B, 5 (P++)

40, 225, T. 121, T-B, 5 (F-)

40, 264f., 113, S-T, 5 (c)

40, 297, 113, A-B, 12 (P)

Tabelle 3: Verdeckte Parallelen[125]

Richtung /

Intervall

Stimmkombination / Anzahl der Fortschreitungen, davon: kleineres Sukzessivintervall oben (in % – alle Gruppen, letzte Spalte zusätzlich: JSB*, TELE)

S-A

S-T

S-B

A-T

A-B

T-B

Alle

 

1r

26 (100)

30 (100)

5 (100)

467 (100)

528 (100)

5r

661 (48)

529 (98)

27 (100)

760 (51)

251 94)

551 (70)

2779 (67, 65, 73)

8r

53 (0)

550 (17)

67 (94)

23 (4)

1763 (93)

971 48)

3427 (66, 63, 77)

12/19r

39 (5)

500 (95)

23 (52)

15 (0)

577 (85, 90, 86)

15r

1 (0)

225 (96)

57 (33)

1 (0)

284 (83, 86, 85)

 

1r

38 (0)

7 (0)

11 (0)

56 (0)

5r

322 (45)

432 (19)

4 (50)

564 (63)

177 (47)

704 (58)

2203 (49, 50, 41)

8r

49 (100)

247 (95)

75 (91)

53 (100)

63 (94)

266 (98)

753 (96, 96, 90)

12/19r

44 (91)

1164 (95)

1187 (97)

65 (95)

2460 (96, 95, 99)

15/22r

1515 (100)

55 (100)

2 (100)

1572 (100)

Anmerkungen

1

Zur Geschichte des Verbots und seiner Begründungen sowie für weitere Literatur siehe z.B. Moraitis 1997. Als ›Kritik in eigener Sache‹ sei angemerkt, dass die Autorenschaft Johannes de Garlandias an der Optima introductio in contrapunctum de rudibus wie auch diejenige Johannes de Muris’ an Teilen der Ars discantus (vgl. ebd., 216) nicht aufrecht zu erhalten ist, sodass bezüglich der frühen Zeugnisse offene Fragen verbleiben.

2

Daniel 2000.

3

Ebd., 79–101 und 145–148.

4

Ein Teil der hier präsentierten Ergebnisse wurde vom Verfasser im Oktober 2008 auf dem VIII. Kongress der GMTH in Graz vorgestellt.

5

Vgl. dazu Moraitis 2010, 664f. Eine ebenfalls computergestützte Untersuchung zu Stimmführungsparallelen in den Bach-Chorälen haben George Fitsioris und Darrell Conklin vorgelegt (Fitsoris/Conklin 2008); leider stand der Beitrag bei Ausarbeitung dieser Studie noch nicht zur Verfügung. Die Autoren behandeln offene Quintparallelen im Hinblick auf ihr Erscheinen in verschiedenen Ausgaben und schlagen u.a. eine Erklärung mit Hilfe der ›Schenkerian Analysis‹ vor.

6

Fehler in den Datensätzen oder der Software selbst waren freilich nicht gänzlich auszuschließen; dem wurde durch sorgfältiges Korrekturlesen, wiederholtes Testen der Komponenten und eine konsequente Überprüfung der Ergebnisse Rechnung getragen.

7

Zur Diskussion derartiger Fälle vgl. Poos 1995, 18–20 und Daniel 2000, 340f.; siehe auch Smend 1966, 13–15 und Deppert 1987, 323.

8

Die NBA übernimmt in der Regel die Fassung des Breitkopf-Drucks von 1784–87, stellt allerdings in CPHE 8 (T. 2), 13 und 139 die originale Lesart wieder her.

9

Daniel 2000, 80. Zitat (kursiv) aus de la Motte 1976, 23. Weil Daniel nur die »in autographer Partitur und/oder in Originalstimmen« (ebd., 333) überlieferten Sätze als maßgeblich betrachtet – eine Haltung, die legitim, aber nicht alternativlos ist –, kommen die im Verlauf dieses Beitrags angeführten Beispiele nur insofern zur Begründung eventueller Gegenpositionen in Frage, als sie den besagten Kriterien genügen. Die Signatur JSB* bezeichnet die ›sicheren‹ Choräle von Bach; für eine größere Auswahl von Sätzen ermittelte statistische Werte sind (abzüglich geringfügiger Differenzen) auf diese Gruppe übertragbar, sofern nichts anderes vermerkt ist.

10

Alle Notenbeispiele werden ohne Legatobögen wiedergegeben.

11

Immerhin ist der überlieferte Stimmensatz unter Beteiligung von Johann Christoph Bodinus (Telemanns Nachfolger in Frankfurt) entstanden. Vgl. dazu den krit. Bericht zu TMW 40, XI; siehe auch TMW 39, XXII.

12

BWV 139.6 und 251. Vgl. Daniel 2000, 80f.

13

Vgl. auch CPHE 250, 273 und DIETEL 3, 35. In CPHE 20 und DIETEL 64 wird die Quinte vermieden.

14

Vgl. auch DIETEL 77.

15

Vgl. die Anmerkungen zu Beispiel 6.

16

Vgl. auch die Diskussion in Fitsioris/Conklin (2008), 5.

17

Vgl. des weiteren die von Carl Ferdinand Becker mitgeteilte Fassung von BWV 225.2 (BECKER 11). Eine Oktave nach Fermate und kurzer Pause findet sich in Telemanns Version von »O Haupt voll Blut und Wunden«, TMW 33, 132f. Leider fehlt in dem laut kritischem Bericht (26f.) originalen Stimmensatz ausgerechnet der betroffene Alt; doch wird der vorhandenen Partitur aus dem Besitz von Georg Michael Telemann ein »hoher Quellenwert« (ebd.) zugestanden.

18

Siehe den kritischen Bericht zu Bd. 1,2 der NBA, wo die Parallelführung erwähnt wird (151). Die Revision der Chorstimmen ist durch autographe Eintragungen (Textkorrekturen) belegt. Inwieweit vom Herausgeber dargelegte Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der älteren Fassung aus dem (korrigierten) Originalstimmensatz (vgl. ebd., 151f.) die Lesart der fraglichen Stelle tangieren, konnte nicht festgestellt werden.

19

Die Verdopplung von Leittönen ist allerdings auch dann nicht ganz ausgeschlossen, wenn diese durch Hochalteration entstehen; siehe z.B. BWV 183.5, T. 1(5)4.5 und 2(6)4.5, wo die Strebetendenz der im Alt erscheinenden Töne durch Sprünge in Achteln kompensiert wird.

20

Textausdeutungen mittels intendierter Stimmführungsfehler lassen sich bereits im 16. Jahrhundert nachweisen, etwa in Caspar Othmayrs Satz »Wer in dem Schutz des höchsten ist«, wo an der Textstelle »vons Teufels Stricken« eine Oktavparallele erscheint (vgl. Günter Fork, Schule des Partiturspiels, Wolfenbüttel: Möseler 1980/82, Bd. 2, 65). Im Rahmen der späteren musikalischen Figurenlehre wurden derartige Verfahren indes nicht thematisiert.

21

Beide Sätze sind mit unsicherer Quelle (im Folgenden: u.Q.) überliefert.

22

Vgl. Daniel 2000, 145–148. Fitsioris/Conklin (2008), die eine ähnliche Typologie wie Daniel entwickeln, führen zwar nicht alle, aber doch immerhin die meisten Quintparallelen an. Eine weitere Parallele wird für CPHE 169 (= BWV 355) vermerkt, die laut Auffassung der Autoren (ebd., 4; vgl. auch den krit. Bericht zu Bd. 3,2.2 der NBA, 233) jedoch auf einen Melodiefehler zurückgeht. Die vorliegende Untersuchung folgt der NBA-Fassung, wo die Stelle bereits korrigiert ist.

23

BWV 26.6, 40.8 und 244.40, dazu (mit u.Q.): 146.8 und 244b.40.

24

Zur Terminologie siehe Daniel 2000, 113.

25

BWV 185.6 bzw. 185(2).6.

26

Zusätzlich in BWV 99.6. Vgl. auch CPHE 13 und DIETEL 80; außerdem CPHE_ADD 2, PENZEL 6, 20. DIETEL 7 enthält eine Quinte nach oberer Wechselnote, die in der Dublette CPHE 252 fehlt. In einigen Sätzen aus den Sammlungen treten Quintparallelen bei Wechselnotenbewegung in Sechzehnteln auf (BECKER 6, T. 5, CPHE 370, MISC deest); vgl. auch BWV 244b.29, 29(2). Eine Quinte der Außenstimmen im Zusammenhang mit einer superjectio und einer nachfolgenden Vorschlagsnote findet sich in dem (nicht zum engeren Typ des Choralsatzes gehörenden) Satz »Ruht wohl, ruht wohl, ihr heiligen Gebeine«, BWV 245.39II, T. 643.75-65.

27

Die Quellenlage (Stimmensatz mit Chorstimmen von Bodinus) kann als halbwegs zuverlässig gelten. Ob die Quinten des zweiten Typs wirklich ausnahmslos intendiert waren oder nicht doch zum Teil auf Flüchtigkeitsfehler zurückzuführen sind, darf angesichts der geringen Zahl der nachweisbaren Fälle zumindest gefragt werden. Dass selbst Bach gegen solche Irrtümer nicht immun war, beweist seine Korrektur der Viola-Stimme im ersten Satz des fünften Brandenburgischen Konzerts (T. 11), mittels derer er vermutlich zwei Oktavparallelen mit der Solovioline zu eliminieren suchte, stattdessen aber eine Serie von sechs aufeinander folgenden reinen Quinten mit der rechten Hand des Cembalos produzierte (vgl. den krit. Bericht zu Bd. 7,2 der NBA, 111).

28

Daniel 2000, 146.

29

Ebd., 145.

30

Ebd., 147.

31

Ohne Fortschreitungen nach langen Pausen oder mit instrumentalen Einschüben verbleiben sechs Fälle, inklusive der im Oktavsprung erreichten Duodezime in BWV 73.5. Wolfgang Wiemer bemängelt zwei entsprechende Stellen in der Sammlung von Penzel (PENZEL 2 und 3, T. 71, vgl. Wiemer 1987, 44), wo die Quinten zwischen Bass und Tenor liegen. Analoge Folgen mit derselben Stimmkombination finden sich in der Gruppe JSB* nur nach Pausen von mindestens einem Takt Dauer und mit durchlaufenden Instrumentalstimmen (vgl. BWV 76.7/14 und 147.6/10). Fitsioris/Conklin versuchen die Quinte nach Fermate in BWV 73.5 mit der Annahme einer Mittelgrund-Prolongation des Tonikadreiklangs zu erklären (2008, 5f.).

32

Vgl. die Ausführungen im krit. Bericht, XII. Bei dem erwähnten Text handelt es sich um den des weiter oben zitierten Satzes »Es dank ihm alle Christenheit«; die dritte Zeile »von falscher Lehr und bösem Wahn« würde an der markierten Stelle mit der Quintparallele zusammenfallen. Ob hier ein weiteres Beispiel für die rhetorische Verwendung einer offenen Stimmführungsparallele vorliegt, muss gleichwohl als fraglich gelten, da sich der Text ansonsten kaum mit der von Telemann verwendeten Melodie in Übereinstimmung bringen lässt.

33

Alle Angaben inklusive Oktaverweiterungen. Die jeweils letzten beiden Zahlen in Klammern stehen hier und im Folgenden für die Gruppen JSB* und TELE.

34

Sekundparallelen finden sich lediglich in TELE 36, 113–18, T. 14 bzw. 273–4.5 (Zusammentreffen von Antizipation und Leitton der Diskantklausel), Septparallelen in TELE 33, 68f., T. 31.5–2 und 39, 55f., T. 202–3 (nach Vierteldurchgang), bei jeweils unsicherer Quellenlage.

35

In allen erfassten Sätzen. Sofern nicht anders vermerkt, werden im weiteren Verlauf dieses Abschnitts nur die vollständigen vierstimmigen Sätze behandelt.

36

De la Motte 1976, 24: »Im Gegensatz zur Lehrmeinung vieler Bücher sind verdeckte Quinten- und Oktavparallelen zwischen Unter-, Ober-, Mittel- und Außenstimmen gleichermaßen häufig in Meisterwerken komponiert worden und deshalb gut«.

37

De la Motte, ebd., Daniel 2000, 81–88.

38

Gezählt wurden Intervalle mit simultanem Einsatz beider Töne. Unterschiede im Diminutionsgrad spielen nur eine geringe Rolle.

39

Daniel 2000, 83.

40

TMW 35, 291f. (u.Q.), T. 261–271.

41

In den (weitgehend identischen) Sätzen BWW 059.3 und 175.7, T. 192 mit Oktavsprung abwärts im Tenor bei Wechselnotenbewegung des Basses. Vgl. auch DIETEL 110.

42

Das Werk ist u.a. in zwei vom Komponisten korrigierten Partiturabschriften überliefert. Bei den übrigen 7 Sätzen stellt sich die Quellenlage ungünstiger dar; für TMW 15, 57f. existiert immerhin ein als verlässlich anzusehender Frankfurter Stimmensatz.

43

Daniel 2000, 84.

44

JSB*: S-A: BWV 79.6, T. 21 und 23, 91.6, T. 83.5, 95.7, T. 14, 129.5, T. 153; A-T: BWV 46.6, T. 184, 105.6, T. 24 und 129.5, T. 152. Hinzu kommen 11 Primen an Phrasenübergängen.

45

De la Motte 1976, 24.

46

Vgl. Daniel 2000, 84.

47

Vgl. dazu Moraitis 1994, 147–158.

48

Für das diatonische System sind Gegenbeispiele mittels enharmonischer Notation zwar konstruierbar, wie z.B. die (musikalisch absurde) Folge cisis1/deses1h/h; in solchen Fällen ist jedoch die Logik des zwölfstufigen Systems anzuwenden, womit das größere Intervall (gemessen in Halbtönen) nach wie vor in der oberen Stimme zu lokalisieren wäre.

49

Ausgenommen sind insbesondere Terzen bei absteigender Bewegung, da hier als Ausgangsintervalle bei ›regulärer‹ Intervalldisposition nur Primen und Sekunden in Frage kommen. Werden Terzen auf der einen und Primen auf der anderen Seite (für alle Richtungen) ignoriert, ergibt sich für die imperfekten Konsonanzen sogar ein leichtes Übergewicht.

50

Gegenbewegung erfolgt zumeist in diatonisch gleich großen Intervallen. Für beliebige Intervalle unterschiedlicher Größe ergibt sich ein Anteil von 63.1% von Fortschreitungen im Sinne der Regel, bei Seitenbewegung sind es 62.4%. Diese Quoten liegen zwar deutlich niedriger als im Fall der Geradbewegung (71.5%), doch dürften sie noch als signifikant anzusehen sein.

51

Erwartungsgemäß dominiert dabei die Kombination von fallender Sekunde und Quinte (93.9%).

52

Daniel 2000, 87. Hans-Jürgen Knipphals und Dirk Möller möchten verdeckte Parallelen der Außenstimmen nur mit Sekundanschluss im Sopran zulassen (vgl. Knipphals/Möller 1995, 10). Für Oktaven ergibt sich mit 94.1% ›regelgerechter‹ Fortschreitungen (in allen Sätzen) zwar eine starke diesbezügliche Tendenz, doch sind immer noch 117 Ausnahmen zu konstatieren; bei Quinten beträgt die Quote 82.8% (312 Ausnahmen).

53

Die Zahlen beziehen sich auf vollständige vier- und fünfstimmige Sätze. Von der Untersuchung der Außenstimmensätze (Gruppe SCHEM sowie BWV 163.6) wurde wegen der zum Teil unvollständigen Bezifferung abgesehen.

54

Ebd., 86.

55

Vor allem für fallende kleine Terzen (bei verdeckten Oktaven) sowie für steigende Quinten, fallende Quarten und steigende große Terzen (bei Quinten).

56

Ausgenommen sind lediglich die weiter unten behandelten Antiparallelen.

57

Daniel 2000, 87. Hierbei ist ein Sprung im Sopran obligatorisch, da andernfalls das Prinzip der Geradbewegung verletzt würde; es besteht also eine Verbindung zu der oben erörterten Regel.

58

Die Bestimmung der Phrasenabgrenzungen durch den Computer stellt keine triviale Aufgabe dar, da das Phrasenende nicht in jedem Fall durch Fermaten, Wiederholungsdoppelstriche oder Generalpausen eindeutig gekennzeichnet ist. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurden auch innerhalb der Zeilen liegende, schlussartige Wendungen (wie sie gelegentlich im Zusammenhang mit exclamatio-Figuren auftreten) als selbständige Phrasen betrachtet. Eine Tonwiederholung am Melodieende wurde nicht als »Altklausel« interpretiert, sofern kein Harmoniewechsel vorlag; die ultima war dann beim vorletzten Ton anzusetzen. In zweifelhaften Fällen musste das Phrasenende manuell markiert werden. Aufgrund dieser und anderer Probleme können die ermittelten Zahlen je nach Betrachtungsweise geringfügig voneinander abweichen.

59

Analog in BECKER 11, 17.1–3. Außenstimmensätze wurden einbezogen.

60

Oben: Anzahl der gefundenen Stellen, in Klammern: Gruppe JSB*.

61

Daniel 2000, 88.

62

In allen Sätzen. Dagegen sind 1047 von 1489 Quinten betroffen. Dass diese auch am Phrasenübergang (389 Stellen) weitaus häufiger auftreten als Oktaven (35), ist wohl durch die vorherrschende Oktavlage der Ultimaklänge zu erklären.

63

Vgl. Daniel 2000, 88.

64

79.7% gegenüber 7.9%. Phrasenübergänge sind wiederum ausgeschlossen.

65

Vgl. Daniel 2000, 88.

66

Vgl. den von Daniel zitierten (und zu Recht angezweifelten) Merkspruch »Rein-vermindert ungehindert, vermindert-rein, das laß sein!« (ebd.). Sinngemäß (wenn auch in abgeschwächter Form) ist diese Auffassung bei Carl Philipp Emanuel Bach zu belegen (1762, 35); vgl. Daniel 2000, 89.

67

JSB*: 42/39.

68

Dies ist nicht zwangsläufig als Hinweis auf abweichende kompositorische Prämissen zu interpretieren; vielmehr könnte dabei wiederum der zumeist niedrige, dem Typus des einfachen Kantionalsatzes entsprechende Diminutionsgrad der Telemann-Choräle eine Rolle spielen.

69

Duodezimen erscheinen lediglich in SCHEM 18, T. 251.5–2 (s.u.) und TMW 35, 332–34 (u.Q.), T. 173–181.

70

Daniel 2000, 91: »Die Quintparallele vermindert-rein erfolgt aufwärts, gewöhnlich zwischen Sopran und Alt, keinesfalls aber mit Baßbeteiligung«.

71

So erfolgt die Einführung in BWV 55.5, T. 12.5–3 mit Hilfe eines 8-9-Durchgangs.

72

Die Stelle wird in Daniel 2000 (91, Fußnote 40) erwähnt. Neben den Dubletten CPHE 262 und DIETEL 26 sind in diesem Zusammenhang zu nennen: BWV 95.1, T. 262–271 (Phrasenübergang) und 244b.10 (Partiturabschrift von Altnikol), T. 74– 81, TMW 40, 220f. (u.Q.) T. 182–191, CPHE 114, T. 123–131, 339, 142.5–3, PENZEL 15, T. 44.5–51 (in Umkehrung). Die übrigen fünf Stellen, darunter BWV 65.7, T. 182–2.5 (vgl. Daniel, ebd.) bleiben hier außer Betracht.

73

Vereinzelt auftretende Ton- oder Klangwiederholungen vor dem absteigenden Sekundschritt (wie in BWV 169.7, T. 134.5 bzw. 245.37, T. 74) stellen keine Regelverletzungen dar. Ausnahmsweise kann die Fortsetzung auch in einem abwärts gerichteten Sprung bestehen, siehe z.B. BWV 248.46, T. 43–4 (Terzsprung) und 80b.1, T.232–2.5 (Quartsprung). In SCHEM 23, T. 11 (letztes Achtel) sowie vierstimmig in PENZEL 24, T. 7 erfolgt die Auflösung mit Verzögerung nach eingeschalteter superjectio, wodurch eine vermindert-reine Quintparallele vermieden wird. Die Stelle muss allerdings schon wegen der dabei entstehenden verminderten Oktave als fragwürdig angesehen werden. Bei den Stimmkombinationen ohne Bassbeteiligung ist eine Aufwärtsbewegung des Hochtons nur in CPHE 133, T. 184.5–191.5 und 339, T. 31–2 (jeweils chromatisch) nachzuweisen.

74

Am häufigsten geschieht dies durch Quintabsprung, siehe z.B. BWV 20.7/11, T. 134–141.

75

Daniel 2000, 90.

76

Vgl. des weiteren CPHE_ADD 2, T. 122.5–3 (Wechselnote), PENZEL 8, T. 62.5–3, 15, T. 44.5–51 (s.o.), TMW 35, 332–34 (u.Q.), T. 173–181 (Vorrang der Oberstimme). Die vermindert-reine Parallele in TMW 32, 098f. (autograph), T. 173–22 dürfte auf einem Irrtum beruhen: Telemann setzt in den beiden Dubletten des Chorals (TMW 32, 027f. und 114–16) im Tenor den Grundton statt der Dominantseptime.

77

Daniel 2000, 90.

78

Darüber hinaus gilt das Auflösungsgebot für »primäre« verminderte Quinten nicht ganz so streng wie für verminderte Septimen: Vgl. z. B. BWV 20.7 (20.11), T. 131–2 (Chromatik), 40.3, T. 21–2 und 119.9, T. 73–81 (›Heterolepsis‹ mit Registerwechsel), 140.7, T. 452–2.5 (7 : 8) oder 245.5(2), T. 64–71 (Leittonabsprung im Bass).

79

Die Fortschreitung in SCHEM 18, T. 251.5–2 dürfte zu vernachlässigen sein, da das zweite Intervall nach einer Pause im Sopran und mit interpolierender Achtelbewegung des Basses einsetzt.

80

Vgl. Knipphals/Möller 1995, 11. In instrumentalen Sätzen ist die Parallele, namentlich bei Figurationen, auch in den Außenstimmen möglich, siehe z.B. Bachs Wohltemperiertes Klavier, Bd. I, Präludium VI, T. 51.83–2, Fuga VII, T. 153.25–3.5 oder Fuga X, T. 113.5–3.75 (analog in den T. 22 und 32).

81

Daniel 2000, 91: »Die Quintparallele rein-vermindert erfolgt abwärts und gewöhnlich in den drei Oberstimmen«.

82

Ebd., Fußnote 41.

83

In BECKER 9, T. 51–2 liegt ein Terzsprung am Phrasenanfang vor. Ansonsten finden sich 5 Terzen bei Übergängen, z. B. in CPHE 16, T. 31–4.

84

Allerdings möchte Daniel seine Regel auf den »spätbarocken Choralsatz namentlich J.S. Bachs« (2000, 91) bezogen wissen.

85

Daniel 2000, 92.

86

Ebd.

87

Vgl. ebd., 92ff.

88

13 (6, 0), 12 (4, 0) bzw. 18 (6, 1). Die in SCHEM 42, T. 142–151 vorliegende indirekte Oktave ohne eingeschaltete Gegenbewegung kommt als Gegenbeispiel nicht in Betracht, da das Metrum trotz der Alla-breve-Signatur als vierzeitig zu interpretieren ist. (Dies ergibt sich u.a. aus der Position der Zeilenschlüsse).

89

Vgl. auch Kaiser 2002, 152 (zweites Beispiel). Ohne Richtungswechsel, jedoch mit Seitenbewegung verläuft die Fortschreitung in CPHE 205, T. 252–3.

90

Dass entsprechende Stellen bei Telemann fehlen, mag erneut auf die oben genannten Gründe zurückzuführen sein.

91

Vgl. Daniel 2000, 93. Ohne Gegenbewegung oder Richtungswechsel: 164 (44, 2) Fälle, mit Richtungswechsel ohne Gegen- oder finale Seitenbewegung: 41 (9, 0).

92

Betroffen sind 21 (3, 0) Stellen. Die einzige Ausnahme findet sich in PENZEL 7, T. 51–2, wo die erste Quinte durch eine Antizipation vorbereitet wird.

93

SCHEM 10, T. 61–1.5 (Außenstimmen) scheidet wiederum wegen einer missverständlichen Alla-breve-Signatur aus; ansonsten weicht nur PENZEL 18, T. 74–4.5 (ohne Richtungswechsel) von der Standardform ab. Die Stelle wird auch von Wiemer erwähnt (1987, 45); die an gleicher Stelle angeführte ›Akzentoktave‹ ist zum einen aufgrund der vorliegenden Gegenbewegung, zum anderen wegen des asynchronen einsetzenden zweiten Intervalls nicht zu beanstanden.

94

In BWV 227.7 (u.Q.), T. 2742.5–3.5 findet sich eine Oktave am Phrasenübergang nach Achtelpausen in beiden Stimmen; der Ausgleich erfolgt durch Seitenbewegung am Ende. Vgl. auch die Dubletten CPHE 283 und Dietel 21 (jeweils T. 17).

95

Fünf in der Schemelli-Sammlung nachzuweisende Quinten ohne Gegenbewegung sind aus dem bereits genannten Grund zu vernachlässigen.

96

Daniel 2000, 93.

97

Stellen/Ausnahmen: 196/11 (65/3, 12/0).

98

BWV 40.3, T.7.2–7.4 und 248.28, T.6.2–6.4.

99

Bei Oktaven geschieht dies nur einmal am Phrasenübergang, und zwar in DIETEL 122, T. 2.3–3.1.

100

Vgl. auch TMW 39, 67 (u.Q.), T. 17.1–17.3 (steigend in Bass und Tenor). Ansonsten sind nur Dubletten der oben zitierten Sätze betroffen.

101

Beim ›originalen‹ Bach ist dies nur für die Oktave zu belegen; als einzige Stelle innerhalb einer Phrase verbleibt hier BWV 126.6, T. 94–101.5.

102

Daniel 2000, 92: »Größere Abstände entziehen sich der Aufmerksamkeit und sind damit satztechnisch irrelevant«.

103

TMW 35, 304–06, T. 21–31 und 332-34, T. 181–191 (u.Q.).

104

Hugo Riemann erhebt im Vorwort zur dritten Auflage (1897) seiner Harmonielehre (1880, IX) den Anspruch, das Verbot entsprechender Intervallfolgen (vgl. ebd., 31) erstmals formuliert zu haben, wobei er sich des Begriffs der ›Antiparallele‹ noch nicht bedient. Riemann hatte indessen Vorläufer; so schreibt Johann Georg Albrechtsberger schon 1790: »Auch muß man sich sogar in der Gegenbewegung vor zwoen Quinten, und Octaven hüten; besonders, wenn eine Orgel, die mit einem Pedal versehen ist, die Begleitung mit macht; weil die Organisten die meisten Grundtöne mit dem linken Fuße treten, und sehr oft aus einem Quarten-Sprunge aufwärts, einen Quinten-Sprung abwärts, und umgekehrt machen, folglich gerade Quinten, oder Octaven gehört werden« (1790, 20f.). Dies wird für den »strengen« zweistimmigen Satz reklamiert, sollte aber bei Beteiligung des Basses auch für mehr als zweistimmige Sätze gelten. Riemann begründet sein Verbot hingegen mit dem Hinweis auf den ähnlichen Verschmelzungsgrad der oktavidentischen Konsonanzen. Heinrich Schenker (1910, 175; siehe auch 212–217) verweist auf den »Umkehrungscharakter« bestimmter im Kontext von Antiparallelen auftretender Intervalle, womit er implizit die harmonische Komponente ins Spiel bringt.

105

Die Doppeloktave ist als Differenzintervall nur viermal nachzuweisen, und zwar in BWV 162.6 und 162(2).6 (Intervallfolge 22–8), CPHE 209 und DIETEL 6 (19–5) jeweils bei der Stollenwiederholung sowie in CPHE 229, T.153–4 (5–19) am Phrasenübergang.

106

Daniel 2000, 98.

107

Ohne Fortschreitungen nach sehr langen Pausen, inklusive Dubletten. 9 Stellen entfallen auf Phrasenübergänge.

108

Zur Quellenlage s.o.; vgl. auch TMW 33, 16f., T. 201–211 und 40, 302, T. 161–171 (u.Q.). Ohne Stimmkreuzung (ein Zusammentreffen der Stimmen in der Prime bleibt hier unberücksichtigt) verläuft auch die von Alt und Tenor gebildete Folge in CPHE 272, T. 63–4; in BWV 48.3, T. 63–4 (am Phrasenübergang) liegt die Stimmkreuzung bereits beim Ausgangsklang vor.

109

Nur in TMW 35, 231–33 (u.Q.) wird die Folge 8–15 verwendet.

110

Vgl. Daniel 2000, 97. Wie bereits deutlich wurde, lässt sich diese Regel auch für Oktaven formulieren.

111

CPHE 114, T. 34–41, DIETEL 38/CPHE_ADD 7, T. 31-2 und TMW 36, 113–18 (u.Q.), T. 102-3 und 232-3.

112

Fortschreitungen, die Oktavsprünge enthalten, bleiben hier unberücksichtigt. Selbst die Folge 5–1 ist mit 455 Stellen häufig vertreten.

113

Undezimen erscheinen lediglich an 18, Duodezimen an 8 Stellen, wobei jeweils eines der beiden Intervalle eine zusätzliche Oktaverweiterung aufweist. Innerhalb der Phrase und zwischen den Außenstimmen geschieht dies nur in CPHE 9, T. 42-3 (19–8 zur Fermate, mit Undezimsprung im Bass) sowie SCHEM 46, T. 22.5–31 und 142.5–151 (22–12 am Phrasenanfang, mit fallender Septime im Sopran).

114

Dass Antiterzen etwa zehnmal so häufig auftreten wie Antisexten könnte damit zusammenhängen, dass zwar beide Terzen, nicht aber beide Sexten eines Dreiklangs ohne weiteres zwischen dem Bass und einer der oberen Stimmen einsetzbar sind. Für diese Annahme spricht indirekt der Umstand, dass 809 der beobachteten Terzen (also über 97%) unter Beteiligung des Basses entstehen. Begünstigt wird dies nicht zuletzt durch die damit zur Verfügung stehende größere Bewegungsfreiheit. Im Fall der Quarten ist eine ähnliche Argumentation möglich.

115

Die Melodie stammt nach Ansicht von Frieder Rempp »möglicherweise von Bach« (NBA 3,2.1, krit. Bericht, 56). Vgl. auch CPHE_ADD 7.

116

Vgl. auch die Dubletten DIETEL 66 bzw. CPHE 55, dazu CPHE 355 = DIETEL 115, T. 32-3.

117

Die Zahlen beziehen sich auf reine Intervalle.

118

In CPHE 18, T. 124–4.5 und 346, T. 124.5–131 (jeweils zwischen Alt und Tenor).

119

Vgl. Daniel 2000, 99ff.

120

Ebd., 99 und 100.

121

Deren Anteil entspricht mit knapp 20% dem Durchschnittswert für perfekte Konsonanzen.

122

JSB* = nur Sätze mit sicherer Quelle (215), ohne die nach (sicheren) Quellen anderer Bach-Werke edierten Sätze BWV 162(2).6, 172.6 und 185(2).6. Dubletten wurden im Rahmen der Statistiken als eigenständige Sätze behandelt, nicht ausgeschriebene Wiederholungen (mit Ausnahme der Anschlussstellen) blieben unberücksichtigt. Für weitere Informationen, insbesondere hinsichtlich abweichender Lesarten, vgl. Moraitis 2010.

123

Ohne die mit Df, L, P++ und Pi gekennzeichneten Einträge; siehe die folgende Fußnote.

124

Df = nachgewiesener Druckfehler, F = nach Fermate (- = nicht notiert), sofern keine Pause oder Wiederholung vorliegt, L = abweichende Lesart (siehe krit. Bericht), O = Oktavsprünge, P = nach Pause (+ = mehr als ein Takt, ++ = mehr als zwei Takte, i = Interpolationen in der zweiten Stimme), W = nach Wiederholung. Zur Quellenlage (Gruppe JSB: nach NBA und Göttinger Bach-Katalog, Gruppe TELE: nach TMW): a = alle Stimmen autograph (i.d.R. in Partitur) überliefert, b = Originalstimmensatz (- = Vokalstimmen unvollständig), c (Gruppe TELE) = zeitnaher, unter Beteiligung von Bodinus entstandener Stimmensatz (s.o.), andernfalls kein Eintrag.

125

Nur für vollständige vierstimmige Sätze. Ca. 1/3 der Primen, 1/4 der Quinten und 1/5 der Oktaven entfallen auf Phrasenübergänge. Maßgeblich für den Vergleich der Sukzessivintervalle war die auf der Ausgangsposition oben liegende Stimme.

Notenausgaben

NBA = Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Kassel u.a. 1954ff.

TMW = Georg Philipp Telemann, Musikalische Werke, hg. von Martin Ruhnke und Wolf Hobohm, Kassel u.a. 1953ff.

Literatur

Albrechtsberger, Johann Georg (1790), Gründliche Anweisung zur Komposition, Leipzig: Breitkopf.

Bach, Carl Philipp Emanuel (1753–62), Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen, 2 Teile, Berlin: Henning/Winter 1753 und 1762, Reprint hg. von Lothar Hoffmann-Erbrecht, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1981.

Daniel, Thomas (2000), Der Choralsatz bei Bach und seinen Zeitgenossen. Eine historische Satzlehre, 2. Aufl., Köln: Dohr 2004.

Deppert, Heinrich (1987), »Einige Anmerkungen zu Johann Sebastian Bachs vierstimmigen Choralgesängen«, in: Alte Musik als ästhetische Gegenwart: Bach, Händel, Schütz. Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress Stuttgart 1985, 2 Bde., hg. von Dietrich Berke und Dorothee Hanemann, Kassel u.a.: Bärenreiter, Bd. 1, 320–329.

Fitsioris, George and Darrell Conklin (2008), »Parallel successions of perfect fifths in the Bach chorales«, in: Proceedings of the fourth Conference on Interdisciplinary Musicology (CIM08) Thessaloniki, Greece, 3–6 July 2008. http://cim08.web.auth.gr/cim08_papers/Fitsioris-Conklin/Fitsioris-Conklin.pdf

Kaiser, Ulrich (2002), Der vierstimmige Satz. Kantionalsatz und Choralsatz, Kassel u.a.: Bärenreiter.

Knipphals, Hans-Jürgen und Dirk Möller (1995), Johann Sebastian Bach – Der Choralsatz. Ein Lehrwerk, Wolfenbüttel: Möseler.

Louis, Rudolf und Ludwig Thuille (1907), Harmonielehre, 7. Aufl. Stuttgart: Carl Grüninger o.J.

Moraitis, Andreas (1994), Zur Theorie der musikalischen Analyse, Frankfurt a.M.: Peter Lang.

––– (1997), »Das Parallelenverbot und die Beziehungen zwischen Klang und Stimmführung«, in: Semantische Inseln – musikalisches Festland. Für Tibor Kneif zum 65. Geburtstag, hg. von Hanns-Werner Heister u.a., Hamburg: von Bockel, 215–234.

––– (2010), »Eine Untersuchung zum ›Bach-Choral‹«, in: Musiktheorie als interdisziplinäres Fach. Bericht über den 8. Kongress der GMTH, Graz, hg. von Christian Utz, Saarbrücken: Pfau, 663–672.

de la Motte, Diether (1976), Harmonielehre, 3. Aufl. Kassel u.a.: Bärenreiter 1980.

Poos, Heinrich (1995), Johann Sebastian Bach. Der Choralsatz als musikalisches Kunstwerk (= Musik-Konzepte 87), München: Text + Kritik.

Riemann, Hugo (1880), Handbuch der Harmonielehre, 10. Aufl. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1929.

Schenker, Heinrich (1910), Kontrapunkt, 2 Bde., (= Neue musikalische Theorien und Phantasien 2), Reprint der Ausgaben Stuttgart 1910 und Wien/Leipzig 1922, Hildesheim u.a.: Olms 1991.

Smend, Friedrich (1966), »Zu den ältesten Sammlungen der vierstimmigen Choräle J.S. Bachs«, Bach-Jahrbuch 52, 5–40.

Wiemer, Wolfgang (1987), »Ein Bach-Doppelfund: Verschollene Gerber-Abschrift (BWV 914 und 996) und unbekannte Choralsammlung Christian Friedrich Penzels«, Bach-Jahrbuch 73, 29–73.

Online-Ressource

Staehelin, Martin u.a. (1999ff.): »Göttinger Bach-Katalog«, http://www.bach.gwdg.de

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