Söllner, Johannes (2011), »Improvising Music in the 15th and 16th Century: Contrapunto alla Mente – Chant sur le Livre – Madrigale Passagiato. International Orpheus Academy for Music & Theory 2008, Orpheus-Institut, Gent, 4. bis 9. April 2009«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/1, 195–196. https://doi.org/10.31751/611
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 14/06/2011
zuletzt geändert / last updated: 23/07/2012

Improvising Music in the 15th and 16th Century: Contrapunto alla Mente – Chant sur le Livre – Madrigale Passagiato

International Orpheus Academy for Music & Theory 2008, Orpheus-Institut, Gent, 4. bis 9. April 2009

Johannes Söllner

Das Orpheus Institute for Advanced Studies & Research in Music im belgischen Gent veranstaltet regelmäßig hochkarätig besetzte internationale Foren für Musiker, Musiktheoretiker, Musikwissenschaftler und Studenten aus ganz Europa – so auch die jährlich stattfindende Orpheus Academy for Theory and Music. Nach Themen wie »Music Theoretical Dimensions of 18th Century Opera with a Focus on Mozart’s Don Giovanni« (2008), »Tempo, Meter, Rhythm. Time in Music after 1950« (2007) oder »Music & Theory: Thoroughbass in Practice, Theory and Improvisation« (2006) wurde bei der Academy des Jahres 2009 erstmals ein Blick auf die Zeit vor 1600 geworfen: »Improvising Music in the 15th and 16th Century: Contrapunto alla Mente – Chant sur le Livre – Madrigale Passagiato«. Edoardo Bellotti (Musikhochschule Trossingen), Jean-Yves Haymoz (Hochschulen Genf und Lyon), Johannes Menke (Schola Cantorum Basiliensis), Peter Schubert (McGill University) und Rob C. Wegman (Princeton University) als Mitglieder der Guest Faculty beleuchteten dieses Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln.

»What is counterpoint?« fragte Rob C. Wegman in der ersten einführenden Lecture und warf dabei Fragen auf, die während der gesamten Academy immer wieder eine Rolle spielen sollten. Wegmans zentrale These war, dass sich die Rückführung polyphoner Strukturen auf den Note-gegen-Note-Satz keiner didaktischen Ursachen verdanke. Vielmehr habe die Darstellung der bewegteren Sätze als Diminution von Note-gegen-Note-Sätzen es ermöglicht, die von Papst Johannes XXII geforderte »Gravität und Würde« in der Musik der Zeit nachzuweisen. Dieser hatte in der Bulle Docta Sanctorum Patrum von 1324/25 unter Androhung von Kirchenstrafen die Wiederherstellung des einstimmigen Gesanges verlangt. Zumindest sollten in der mehrstimmigen Kirchenmusik Gregorianische Melodien den Gang der Komposition bestimmen. Den Zusammenhang von durch Lehrbücher überlieferten Improvisationen (den ›cantus plani‹) und der tatsächlichen Stegreif-Praxis untersuchte Wegman in seiner zweiten Lecture.

Wie die Intabulation von Vokalmusik das Tastenspiel im Italien des 16. Jahrhunderts beeinflusste, zeigte Edoardo Bellotti auf. Dabei stellte er das aus Girolamo Dirutas Il Transilvano (1593/1609) und Adriano Banchieris L’Organo Suonarino (1605) gewonnene Wissen auf eindrucksvolle Weise am Cembalo dar. An der Orgel demonstrierte Bellotti in seiner zweiten Lecture das vom 15. bis zum 18. Jahrhundert übliche Konzept, das Erlernen eines Tasteninstrumentes nicht nur als Schulung in spieltechnischer Hinsicht, sondern zugleich auch als Unterweisung in Kontrapunkt und Musiktheorie zu sehen. Anschaulich legte er hierbei dar, wie die vielgestaltigen Diminutionstabellen aus Marcello Spiridionis’ Nova Instructio pro pulsandis Organis, Spinettis et Manuchordis (1670) in diesem Kontext Anwendung finden können.

Die Improvisation der Contenance Angloise des 15. Jahrhunderts stand im Mittelpunkt der ersten Lecture von Johannes Menke. De Praeceptis Artis Musicae (ca. 1480–1490) von Guilielmus Monachus folgend, stellte Menke anhand von typischen Kompositionen der Epoche die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten von Bewegung in gleichbleibenden und alternierenden Intervallabständen dar. Das improvisatorische Potential dieser Satztechniken zeigte sich in den immer wieder eingeschobenen kurzen Improvisationsübungen der Teilnehmer. Dabei wurde deutlich, dass aus diesen Satzmodellen durch Hinzufügung typischer Kadenzwendungen und Diminutionen schnell stiltypische Sätze entstehen können. In seiner zweiten Lecture beschäftigte sich Menke mit Klangverbindungen in Komposition und Improvisation um 1600. Durch Zusammenführung von Skalen-Harmonisationsmodellen, Intervallsatz, typischen Bass-Ostinati und kombinatorischen Sequenz- und Diminutionstabellen gelang es ihm auch hier, ein schlüssiges Bild vom Stil jener Zeit zu entwerfen.

Praxisorientiert stellte Peter Schubert seine Überlegungen zur Kanon-Improvisation vor, der seine Ausführungen mit eigenen Improvisationen begleitete. Hierbei bediente er sich sowohl der in zeitgenössischen Traktaten (wie bei Francisco di Montanos, Vicente Lusitano oder Gioseffo Zarlino) verbreiteten Tabellen, als auch eigener Systematisierungen. Durch Betrachtung des Zusammenhangs von Improvisation und Komposition konnte Schubert zum einen darlegen, wie das melodische Material die Art und Weise der Imitation vorgibt, zum anderen, wie Komponisten vorgingen, um aus der Improvisationspraxis stammende Satztechniken in notierter Musik zu verschleiern.

Einen Höhepunkt der Academy bildete sicherlich das Konzert des Ensembles Le chant sur le livre unter Leitung von Jean-Yves Haymoz. In eindrucksvoller Weise gelang den sechs Sängern die künstlerisch-praktische Umsetzung des Academy-Themas. Sie improvisierten in allen Besetzungen vom Duo bis zum Sextett: Organum, Faux Bourdon, Chanson, Motette, Doppelkanon oder ein sechsstimmiges Kyrie über einen aus dem Publikum vorgegebenen cantus firmus. Sichtbar motivierte dieses Konzert sämtliche Kongressteilnehmer, selbst improvisatorische Versuche zu unternehmen, so dass in einem eigentlich für Diskussion vorgesehenen Zeitraum kurzfristig ein Improvisationsworkshop mit Haymoz und Ensemble-Mitglied Pierre Funck anberaumt wurde. Und selbst nachdem die in Gruppen erarbeiteten Vokalsätze im Plenum vorgetragen worden waren, konnte man immer wieder verschiedene Grüppchen beobachten, die in den Pausen zwischen den Lectures das zuvor theoretisch Diskutierte auf die improvisatorische Praxis hin prüften.

Nicht zuletzt die beispielhafte Organisation der Academy durch das Orpheus Institute und die zuvorkommende Hilfsbereitschaft des gesamten Teams unter seinem Direktor Peter Dejans ließen diese Tage zu einem musiktheoretischen und -praktischen Erlebnis werden. Und jeder der Teilnehmenden konnte neue Gedanken und Ideen mit nach Hause nehmen, die er in den Lectures, den Plenums-Diskussionen oder den vielfältigen und angeregten Gesprächen im kleineren Kreis gesammelt hatte.

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