Krämer, Oliver (2011), »Mit der Muße des Beschauens der Beschaffenheit von Musik nachgehen. Musiktheorie im Lehramtsstudium und im Schulfach Musik«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/1, 19–22. https://doi.org/10.31751/610
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 14/06/2011
zuletzt geändert / last updated: 04/06/2013

Mit der Muße des Beschauens der Beschaffenheit von Musik nachgehen

Musiktheorie im Lehramtsstudium und im Schulfach Musik

Oliver Krämer

Musiktheorie ist eine besondere Form der Zuwendung zur Musik. Anders als das unmittelbare Klangerleben ist die musiktheoretische Betrachtung dem »Zwangskontinuum der nicht zu arretierenden Realzeit« enthoben.[1] Sie vollzieht sich in einem geistigen Anschauungsraum, in dem sich die Musik, dinghaften Objekten gleich, zur Werkgestalt manifestiert. Gestützt durch Notentexte, grafische Skizzen o.ä. geraten ihre Materialien und Bestandteile, ihre Mechanismen und Funktionsprinzipien, ihre inneren Strukturen und Gesamtproportionen in den Blick. Nicht nur das unmittelbare Klangerleben, sondern auch die musiktheoretische Betrachtung beschert ästhetischen Genuss. Der ästhetische Genuss musiktheoretischer Betrachtung liegt in der Muße des Beschauens und im zweckfreien Interesse daran, möglichst genau die Beschaffenheit der Musik zu verstehen, Bezüge zu anderen Musikwerken herzustellen und dabei sowohl Gesetzmäßigkeiten als auch Abweichungen festzustellen. Der ästhetische Genuss musiktheoretischer Betrachtung liegt im Gelingen des gemeinsamen Gesprächs, des inneren Monologs oder der schriftlichen Erörterung, die dem strukturellen Wesen der Musik auf den Grund zu gehen versuchen. Die Unmittelbarkeit des Klangerlebens beim Musikhören und die Mittelbarkeit der Rückvergewisserung in der ästhetischen Reflexion sind zwei komplementäre Zugänge, die erst in der wechselseitigen Ergänzung die Musik im Ganzen, unsere Möglichkeiten des Umgangs mit ihr deutlich machen.[2]

Meinen eigenen Unterricht in Musiktheorie habe ich sehr verschieden erlebt. In der Schule und der Musikschule wurde mit musiktheoretischen Lerninhalten eher fantasielos umgegangen. Die basalen Regeln der Elementarlehre blieben weit hinter meinem musikalischen Erleben zurück: Die Intuition beim Improvisieren am Klavier und beim Schreiben eigener Stücke war ihnen stets voraus. Etwas anderes waren dagegen die privaten Kontrapunktstunden zur Studienvorbereitung: Hier faszinierte mich bereits als Jugendlicher das hohe Anspruchsniveau und die gesamte Atmosphäre der Gelehrsamkeit als Gegenwelt zur Pragmatik des rein performativ ausgerichteten Instrumentalunterrichts. Die Auseinandersetzung mit dem kontrapunktischen Regelwerk bei der Analyse und bei eigenen Schreibversuchen führte mitten hinein in eine polyphone Klangwelt, die sich mir als Klavierschüler sonst wohl kaum erschlossen hätten. Über den konkreten Gegenstand der Musik von Josquin und Palestrina hinaus hat dieser Unterricht grundlegend zu meinem Musikdenken beigetragen: zu einer Sichtweise von Musik als komplexes Zusammenspiel verschiedener Stimmen. Im betriebsamen Studienalltag an der Hochschule waren die Theoriestunden ganz besondere Inseln. Das gemeinsame Versinken in der Musik im geschützten Rahmen der kleinen Gruppe schätze ich auch heute im Rückblick noch sehr. Hinzu kamen die vielen Anregungen: Musiktheorieunterricht, so wie ich ihn im Studium erlebt habe, kann wesentlich zur Erweiterung des Hörrepertoires beitragen.

Was die Struktur des Lehramtsstudiums betrifft, so definiert die Musiktheorie gemeinsam mit der Musikwissenschaft ein wichtiges Studienfeld, in dem es um die Herausbildung theoretisch reflexiver, wissenschaftlich fundierter Berufsidentität geht. Die Abgrenzung zur Musikwissenschaft ist wegen dieser gemeinsamen Zielstellung sicher nicht leicht. Hier dennoch ein Versuch: Für mich verkörpert Musiktheorie den sezierenden Innenblick, die genaue Untersuchung einzelner Stücke (Werkanalyse) bzw. die Beschäftigung mit konkreten musikalischen Phänomenen (Harmonielehre, Satztechnik, Kontrapunkt). Musikwissenschaft hingegen (egal ob historisch, systematisch oder ethnologisch ausgerichtet) wendet den Blick eher nach außen auf biografische, geschichtliche und gesellschaftliche Begleitumstände sowie auf kulturanthropologische, physiologische und psychologische Rahmenbedingungen. Musikwissenschaft klärt gewissermaßen über den »Sitz im Leben« auf und versucht von daher, die Bedeutung der Musik zu erschließen, während Musiktheorie sich mit strukturellen Binnenphänomenen beschäftigt, um von dieser Perspektive aus ebenfalls zu musikalischen Bedeutungsfragen vorzustoßen.[3]

Wenn es wie beim Schulfach um Musik als Ganzes geht, wenn in umfassendem Sinne das gesamte Sachgebiet zum Gegenstandsbereich des Lernens werden soll, dann also darf Musiktheorie mit ihren spezifischen Fragestellungen, Methoden und Erkenntnissen auf keinen Fall fehlen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des allgemein bildenden Anspruchs der Schule. Um diesen Anspruch einzulösen, haben wir für Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ein gemeinsames Kerncurriculum für die gymnasiale Oberstufe formuliert und darin den Musikunterricht entlang sechs verschiedener Betrachtungsweisen und Themenfelder ausgerichtet. Eins davon versteht sich explizit als musiktheoretisches und ist mit dem Titel »Musik als gestaltete Ordnung«[4] überschrieben. Als Lerninhalte werden dazu aufgeführt:

Methoden der Analyse und Interpretation, Anwendung grundlegender Gestaltungsprinzipien, Techniken motivisch-thematischer Arbeit, Formmodelle und ihre individuelle Ausprägung, Serialismus und Aleatorik als Extrempositionen musikalischer Gestaltung, Experimentelle Musik.[5]

Neben diesem gewissermaßen das Kerngeschäft der Musiktheorie abbildenden Themenfeld gibt es allerdings noch ein anderes, das mit musiktheoretischem Denken in Zusammenhang steht, das zusätzlich jedoch in physikalische, physiologische und psychologische Bereiche hineinragt und mit dem Titel »Grundlagen von Musik« recht weitläufig überschrieben ist. Ausgewiesene Lerninhalte sind hier:

Grundprinzipien der Klangerzeugung und Akustik, Grundlagen des Instrumentenbaus, Funktionsweisen elektronischer Musikinstrumente und Medien, Tonsysteme und Stimmungen, Funktionsweise von Stimme und Gehör, Neurobiologische Grundlagen der Musikwahrnehmung und des Musizierens, Fragestellungen der Musikpsychologie (Begabungsforschung und Lerntheorie), Ansätze der Musiktherapie.[6]

Das Fach Musiktheorie bereits im Studium für derartige Fragen der Akustik, der Rezeption und Kommunikation sowie der Ästhetik zu öffnen, scheint mir eine ebenso lohnende Entwicklungsaufgabe wie die theoretische Untersuchung und Systematisierung der Rollen und Bedeutungsmöglichkeiten von Musik im Kontext multimedialer Artefakte.[7]

In welcher Weise Musiktheorie in der Schulpraxis vorkommt, ist stark abhängig davon, welches Bild die Lehrerinnen und Lehrer aufgrund der eigenen Bildungsbiografie haben: Definiert sich Musiktheorie in ihrem Unterrichtskonzept bloß ex negativo als Gegenpol zur Musikpraxis, oder wird sie für die Schülerinnen und Schüler tatsächlich als Fachdisziplin mit eigener Frageperspektive und zugehörigem Erkenntnishorizont erkennbar? Fungiert sie bloß als schlechtes Gewissen (»jetzt haben wir mehrere Stunden Praxis gemacht, jetzt ist auch mal wieder Theorie dran, damit wir etwas haben für den Test«), oder wird sie als durchgängiger Reflexionsansatz ernst genommen?

Ähnlich wie für die Grammatik im Deutschunterricht stellt sich auch für die Musiktheorie die Frage, welcher Organisationsform der Vorzug gegeben wird: der lehrgangsmäßigen Vermittlung in geschlossenen Lerneinheiten oder der integrierten Vermittlung durch akzidentielle Exkurse? Damit verbunden sind Entscheidungen hinsichtlich des didaktischen Vorgehens: Sollte Musiktheorie deduktiv gelehrt und der Unterricht abbilddidaktisch von der Sachlogik her aufgebaut werden, oder sollte Musiktheoretisches induktiv erschlossen werden und sich aus der Erfahrungswirklichkeit herleiten? Die erste Haltung findet sich aktuell wieder im vielerorts zu hörenden Ruf nach Rückkehr zu aufbauenden Unterrichtskonzepten. Die zweite Haltung steht dagegen der konstruktivistischen Didaktik nahe. Deren Kernthese lautet, dass jedes Subjekt sich seine Welt selbst konstruieren muss. Und dabei nimmt es oft andere Wege als jene der fachwissenschaftlichen Systematik. Ein wichtiger Unterschied liegt darüber hinaus in der höheren Aktivität des Vollzugs: Anders als bei der rezeptiv-registrierenden Aufnahme vorgeordneten Fachwissens geht es hier um die kognitive Durchdringung des zunächst Ungeordneten, d.h. um eine eigene Herleitung von Gesetzmäßigkeiten und Erkenntnissen, die dann erst verglichen werden mit den historisch gewachsenen, kollektiv zusammengetragenen Angeboten der Fachwissenschaft. Eine solche phänomenologisch orientierte Musiktheorie von unten, müsste stärker noch von den kognitiven Operationen ausgehen, die das musiktheoretische Denken an sich konstituieren. Sie müsste die Jugendlichen stärker als bisher anleiten,

  • musikalischen Erfahrungen Gestalt zu geben, Gehörtes zu visualisieren und zu benennen,

  • musikalische Details wahrzunehmen wiederzuerkennen und zu vergleichen,

  • Musik in ihrem Verlauf zu rekonstruieren und zu gliedern,

  • musikalische Gestaltungs- und Ordnungsprinzipien abzuleiten und zu systematisieren.

Wenn Unterricht in diesem Sinne geschieht, lässt sich mit Fug und Recht von Kompetenzorientierung sprechen und der Stellenwert musiktheoretischen Denkens in der Schule plausibel begründen.

Anmerkungen

1

Antholz 1970, 109.

2

Dankmar Venus hat diese komplementären Zugänge einst als »Ergriffenwerden« und »Begreifen« charakterisiert (1984, 61f.).

3

Musiktheorie, so wie sich gegenwärtig darstellt, fokussiert gewissermaßen auf Wie-Fragen: Sie nimmt die Form, die Binnenstruktur und die einzelnen Bausteine der Musik in den Blick und fragt danach, wie diese beschaffen sind (phänomenologische Perspektive). Eine »Theorie der Musik«, ganz in naivem Wortsinne, dürfte dagegen Was- und Warum-Fragen nicht ausklammern: Sie müsste Aussagen darüber treffen, was Musik ist bzw. was Musik sein kann (ontologische Perspektive), und sie hätte zu klären, warum Musik überhaupt existiert und welche Bedeutungen sie für den Menschen haben kann (anthropologische Perspektive).

4

Kerncurriculum, 15.

5

Ebd.

6

Ebd.

7

Aus musikpädagogischer Sicht ist bedauerlich, wie sehr sich der Zuwendungsbereich der deutschsprachigen Musiktheorie nach wie vor auf den Sonderfall abendländischer Kunstmusik mit ihrem Absolutheitsanspruch verengt. Die Erweiterung auf Musik anderer Kulturen, auf funktionale Musik (im Zusammenhang mit Tanz, Film, Werbung) und auf den Bereich multimedialer Kunstproduktion (Videokunst, Klanginstallation etc.) ist mit Blick auf die fachliche Fundierung von Musikunterricht dringend wünschenswert.

Literatur

Antholz, Heinz (1970), Unterricht in Musik. Ein historischer und systematischer Aufriß seiner Didaktik, Düsseldorf: Schwann.

Kerncurriculum für die Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe: Musik. Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern (2006), hg. vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern.

Venus, Dankmar (1984), Unterweisung im Musikhören, Wilhelmshaven: Heinrichshofen’s.

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