Fladt, Hartmut (2010), »Dörte Schmidt (Hg.), Musiktheoretisches Denken und kultureller Kontext (= Forum Musikwissenschaft 1), Schliengen: Edition Argus 2005«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 7/3, 387–392. https://doi.org/10.31751/605
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 22/12/2010
zuletzt geändert / last updated: 30/06/2011

Dörte Schmidt (Hg.), Musiktheoretisches Denken und kultureller Kontext (= Forum Musikwissenschaft 1), Schliengen: Edition Argus 2005

Hartmut Fladt

Diese im doppelten Sinn ›große‹ Publikation (dass Größe auch zur Unhandlichkeit tendieren kann, zeigt das Buchformat) bündelt Beiträge einer Vortragsserie an der Staatlichen Hochschule für Musik Stuttgart 2000/2001, ergänzt um weitere Abhandlungen zum Thema. Hier soll nicht einfach das Faktum des Eingebundenseins musiktheoretischen Denkens in kulturelle Kontexte konstatiert werden, sondern dieses Denken soll in seiner vielfachen Bedingtheit bis hinein in die scheinbar nur fachspezifischen Verästelungen und Argumentations-Strukturen bestimmt werden. Die Herausgeberin Dörte Schmidt formuliert den sehr hohen Anspruch der Neubestimmung einer traditionell zwischen Theorie, Geschichte und Praxis angesiedelten Disziplin als das »aktuelle Nachdenken darüber, was Musiktheorie war, ist und sein kann, mit welchen methodischen Ansätzen die vielfältigen Erscheinungen, die unter dem Begriff Musiktheorie versammelt werden können, beschreibbar sind.« (Vorwort, 7)

Die Publikation ist sehr sorgfältig betreut und auch – trotz oder gerade wegen der monierten Unhandlichkeit – ›schön‹.

Der erste Beitrag der Herausgeberin (»Handlungsräume. Von der ›Universalgeschichte‹ zu einer ›Kulturgeschichte‹ der Musiktheorie«) stellt den bisherigen, im Resultat weitgehend immanent theoriegeschichtlich orientierten, letztlich eurozentrischen Gesamtdarstellungen die Konzeption einer vielfach grenzüberschreitenden Kulturgeschichte gegenüber. Ein solches ›Verorten‹ musiktheoretischer Problemstellungen, das gleichzeitig aber nicht auf die Fülle der Immanenz-Referenzen verzichten will, sieht sich der Frage konfrontiert, ob ›enzyklopädische‹ Vollständigkeit noch sinnvoll ist, innerhalb des ›Verorteten‹ selbst wie im Gesamt der ›Verortungen‹. Auch, wenn ein abstraktes ›Fortschritts‹-Kriterium problematisch geworden sei, so Schmidt, drohe aber die »Dynamik einer Entwicklungsgeschichte« sich »in die Statik eines […] immer kleinteiliger werdenden Rasters« neuer »Teilgeschichten« zu verlieren. (14) Wesentliches Movens in den unterschiedlichen Ausprägungen von ›Theorie‹ sei das Streben nach Sinnbildung, und man könne »die überlieferten Spuren solcher Sinnbildungsprozesse auch historisch verstehen.« (16) Will man, so folgert die Autorin, eine so wieder »mögliche historische Dynamik der Musiktheorie fassen, so könnte man als Resumé aus den in diesem Band vorgestellten Texten ziehen, gilt es aber den Schritt von den historischen Atlanten in die Konstitution von argumentativen Handlungsräumen zu tun.« (17) Bleibt, bei so eindrucksvollen Postulaten, die bange Brecht-Frage nach den ›Mühen der Ebenen‹ und (wenn ich etwa an meine eigenen Kontextualisierungs-Versuche denke) die sehr realistische Furcht vor – notwendigen – Dilettantismen bei dem Versuch, das Fachspezifische zu transzendieren.

Der Beitrag von Max Haas (»Zur Musiktheorie der drei Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam im Mittelalter«) ist sehr erfrischend zu lesen; er bleibt, bei aller ausgebreiteten Fülle des Wissens und Klarheit der Kategorienbildung, ein Vortragstext. Aristoteles’ ›Nikomachischer Ethik‹ folgend wird der einfachen Dichotomie von Theorie und Praxis die Einheit von Theorie, Praxis und Poietik gegenüber gestellt. Dabei komme dem »Herstellungwissen« und dem »Handlungswissen« (30ff.) ein Rang zu, der oft in Vergessenheit zu geraten drohe: Je nach kulturellem und geschichtlichem Kontext könne das Produzieren wichtiger sein als das Produkt. Die Akzentverlagerung von der »terminologische[n] Differenzierung« auf die »Verfahren« (42) ermögliche neue Perspektiven. Insbesondere dort, wo Haas sich auf die arabische Musiktheorie bezieht, sind – was bei einem Vortragstext nicht verwundern darf – die bereits erwähnten ›Mühen der Ebenen‹ nur angedeutet. Insgesamt zielt der Beitrag, explizit wie latent, auf eine differenzierte Kritik an der eurozentrisch-teleologischen, auf das ›deutsche‹ 19. Jahrhundert fixierten Konzeption von Hans Heinrich Eggebrechts Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart.

In ihrem Text »Musik und Gesang im Denken des rabbinischen Judentums« zeigt Heidy Zimmermann, wie unendlich mühsam die Versuche der Rekonstruktion des mündlich-usuell Überlieferten bei den Tora-Kantillationen sind. Als Problem wird entfaltet, welches Verhältnis zueinander diese Überlieferungs-Traditionen haben (besser: haben konnten bzw. haben könnten) und welche Rolle die unterschiedlichen kulturellen Kontexte innerhalb des Judentums dabei spielten (und noch spielen). Wenn aber bei der Legende zu Abbildung 3 schlicht gesagt wird »Übertragung einer Kantillation von Genesis 1, 1–5: aschkenasische Tradition« (52), dann bleibt absolut unklar, wohin diese Tradition zurückverweist, hinsichtlich des Tonsystems, des Modus’, der Intonation etc., durch welche Einflüsse sich diese Tradition wann wie gewandelt hat, wo speziell diese Version historisch angesiedelt ist, wie intentional diese Aufzeichnung ist, und wie die Intentionalität des Aufzeichnenden – oder das Ungenügen des Aufzeichnungs-Systems – ursprüngliche Strukturen verändert hat. Die Strukturanalysen melodischer Formelbildung haben zwar abstrakte Plausibilität, tragen aber zur Klärung der Grundprobleme fast nichts bei. Und auch bei der Formelbildung müsste untersucht werden, ob, wann und wie vergleichbare Strukturen in den Gesängen anderer, auch nicht-jüdischer Kulturen zu konstatieren, und wie mögliche wechelseitige Abhängigkeiten zu fassen sind. Erhellend ist der Vergleich der aschkenasischen mit einer sefardischen Kantillation von Genesis 1, 1–5; deutlich wird, dass ein anderer kultureller Kontext vorhanden ist; wie aber musikalisch exakt und aus welchen Voraussetzungen resultierend – die Klärung dieser Frage bedarf noch erheblicher Forschungsleistungen.

Rainer Bayreuther (»Theorie der musikalischen Affektivität in der Frühen Neuzeit«) untersucht, über die Verortung der Musik als Teil des Quadriviums und – durch die Rhetorik – des Triviums hinaus gehend, die Rolle der philosophischen Naturlehre für die allmähliche Herausbildung einer Affektenlehre bereits im 15. und 16. Jahrhundert. (Ergänzen ließe sich noch die aristotelisch begründete Definition der Musik als ›scientia media‹ zwischen Mathematik und Physik bei den Aristotelikern seit Grocheo, die ebenfalls den Rahmen der artes liberales sprengt). Aristoteles (primär in De anima) und, im 2. nachchristlichen Jahrhundert, der Arzt Galen sind die entscheidenden Quellen der musiktheoretischen Überlegungen in der frühen Neuzeit. Die ›Humoralpathologie‹ der Temperamentenlehre Galens wird auf den Grad ihrer Verbreitung in der universitären Lehre und – spezifisch – in den musiktheoretischen Schriften untersucht. Dass dabei (bis Werckmeister und noch weit ins 18. Jahrhundert) auch mathematische Korrelationen als affektprägend angesehen wurden, wird plausibel dargelegt. Sei noch Burmeister mit seinen musikalisch-rhetorischen Figuren grundsätzlich in das System des Ausgleichs, der Temperierung der Affekte eingebunden gewesen, so habe sich der italienische Affektbegriff (bei Girolamo Mei, Vincenco Galilei und den Brüdern Monteverdi) zunehmend von dieser Bindung gelöst. Den Abschluss des Beitrags bildet eine Darlegung der Mattheson-Mizler-Kontroverse über die Bedeutung des Zahlhaften und des Mathematischen für die Musik und die Affekttheorie; deutlich werden hier die unterschiedlichen Reaktionsweisen auf John Lockes empirisch-sensualistische Philosophie.

»Musiktheorie im Kontext. Rameau und die Philosophie der Französischen Aufklärung« – Thomas Christensen gibt einen knappen Aufriss, getragen von der Maxime der Vermittlung »zwischen den Forderungen des Historikers und des Theoretikers.« (94) Plausibel werden drei Schwerpunkte gesetzt: die Anbindung an Descartes’ rationalistisch-mechanistische Naturauffassung, an Newtons Gravitationslehre und an Lockes empirischen Sensualismus. Christensens Feststellung, dass Rameau im Traité von 1722 »eine Analogie herstellt zwischen dem physikalischen Verhalten aufeinandertreffender Körper und dem Verhalten von vorbereiteter und unvorbereiteter Dissonanzen [sic] in der Musik« (97), ist einerseits nachvollziehbar, muss aber ebenso noch in der ja viel älteren – und für Rameau weiterhin gültigen – Lehre von agens- und patiens-Stimmen verortet werden. Neu aber, und da ist Christensen zuzustimmen, ist die Bestimmung der Septimen-Auflösung als Movens der tonalen Bewegung, speziell des Quintfalls. Die Entdeckung der konstitutiven Rolle der Subdominante in der Génération harmonique von 1737 bringt Christensen mit Newtons Gravitations-Theorie in Zusammenhang: Die ›Sonne‹ Tonika fungiere als Gravitations-Zentrum des Tonsystems (99). John Lockes Sensualismus schließlich sei dem späten Rameau durch d’Alembert und besonders Diderot nahe gebracht worden; hierdurch sei Rameau zu einer Sichtweise gelangt, derzufolge Musik »als ›empfindungserzeugte‹ Erfahrung bezeichnet werden« könne. (102) In Rameaus Démonstration du principe de l’harmonie von 1750 wird die Partialtonstruktur des ›corps sonore‹ als empirisch Gegebenes zum Gegenstand des Prinzips der sinnlichen Wahrnehmung und damit zur Grundlage aller daraus entfalteten Differenzierungen.

Hier knüpft Dörte Schmidts zweiter Beitrag »Übersetzung als kulturelle Transformation. D’Alemberts Elémens de Musique in Deutschland und England« an. Hatte Thomas Christensen noch d’Alemberts Versuch einer Zusammenfassung der Theorien Rameaus vorgeworfen, diese auf seinen eigenen Wissenschaftsbegriff hin verkürzt zu haben, so wird nun von Dörte Schmidt der immense Einfluss gerade dieser spezifischen Rameau-Adaption in den deutsch- und englischsprachigen Kontexten untersucht (die Übersetzungen ins Italienische und Spanische werden selbstverständlich auch erwähnt). Dass und warum Marpurg 1757 einige Teile und auch Notenbeispiele eliminiert, wird einleuchtend dargelegt (112ff.). Die Kontextualisierung innerhalb der deutschen Musiktheorie und – spezifisch – der Rameau- und d’Alembert-Rezeption erfolgt knapp und präzise. Wirkliche Entdeckungen bietet dann die Darlegung der verschiedenen Stadien der englischen Rezeption. Im Zentrum stehen mehrere Auflagen der Encyclopaedia Britannica (erstmals in der 2. Auflage 1781, Teil der Artikels ›Music‹). Musik wird hier sowohl als art als auch als science aufgefasst, und d’Alemberts ›eléments‹ bieten sowohl grundlegende Komponenten als auch die axiomatischen Fundierungen dieser Bestimmung. Erst in der 7. Auflage (1842) wird der Artikel – ohne Rekurs auf den d’Alembert-Text – neu geschrieben: ein erstaunliches Faktum.

Werner Breig (»Richard Wagner als Musiktheoretiker«) verweist auf die von Carl Dahlhaus angeregte Unterscheidung zwischen impliziter Musiktheorie (musikalische ›Logik‹ in den Kompositionen und im Kompositionsprozess) und expliziter Musiktheorie (Aufdeckung und Bestimmung dieses Impliziten). »Schon die hypertrophierende Literatur über den Tristan-Akkord kennzeichnet Wagner als einen der originellsten Repräsentanten einer impliziten Musiktheorie.« (133) (Hier muss allerdings ergänzend auf die oft vernachlässigte Tatsache verwiesen werden, dass selbstverständlich die Komponierenden umfassend ›theoretisch informiert‹ waren und auf diese Weise Explizites immer auch im Impliziten repräsentiert ist, und zwar mit erheblicher Deutungsrelevanz.) Dennoch wird auch auf Wagners verbale Äußerungen rekurriert. Entfaltet werden drei Theoreme: 1.) von der Tonart zur Tongattung (Oper und Drama); 2.) Instrumentation als Teil der Harmonik (im Sinne einer Koppelung spezifischer Instrumenten-Farben an charakteristische Tonarten, aber auch an bestimmte Klänge und Klangfortschreitungen); 3.) Zweischichtigkeit der Harmonik, die etwa darin bestehen könne, dass eine »verletzende« harmonische Härte (Wagner an Bülow, Brief vom 26.10.1854) als »schmeichelnde Lockung« inszeniert wird. (142f.) Werner Breig exemplifiziert dies am Schicksalskunde-Motiv (II. Aufzug Walküre): »Die Klangfolge wird als fremdartig wahrgenommen, ohne daß eine harte, verletzende Tonkombination in die akustische Realität tritt.« (144) (Ernst Kurths Begriff der ›Klangtäuschung‹ wäre hier sicherlich angemessen; Breig rekurriert auf den Terminus des ›vagierenden Akkords‹ aus Schönbergs Harmonielehre mit seiner Tendenz zur enharmonischen Vergleichgültigung.)

Gab es, gibt es eine selbstständige türkische Musiktheorie? Martin Greve (»Hybrides Musikdenken im türkischen Nationalstaat«) untersucht den Weg von der ›osmanischen Musiktheorie‹ – aus verschiedensten Einflüssen im 16. und 17. Jahrhundert konstituiert – über die Adaption ›westlicher‹ Einflüsse im 19. zur spezifischen Situation im 20. Jahrhundert: »Die Türkei befindet sich heute offenbar nicht in einer historischen Übergangsphase. Ihre überaus reichhaltige, dynamische und keinesfalls widerspruchsfreie kulturelle Hybridität scheint sich als dauerhafter Charakter verfestigt zu haben.« (149) Die Suche nach ›nationaler Identität‹ hatte sowohl auf die ethnomusikologische Forschung als auch auf den Umgang mit der osmanischen Kunstmusik und ihrer Theorie ideologiebedingt starke Auswirkungen, die bis heute nachwirken. Nach dem Vorbild der ›westlichen‹ Alte-Musik-Bewegung sei, so Greve, gegenwärtig ein Trend zur Personalunion von Musikwissenschaftler und Musiker zu konstatieren, sowie das Bemühen, sich von solchen Ideologisierungen zu verabschieden.

Der, bedingt durch die Tabellen von Appendix 1–3, umfangreichste Beitrag des Bandes ist Allyn Miners »Indian Music in 1907: The Minqar-i Musiqar Of Hazrat Inayat Khan«. Er wirkt mit seiner etwas betulich-redseligen Erzählweise im Kontext der anderen Beiträge fremd. Welche unterschiedlichen kulturellen Einflüsse im Hyderabad dieser Epoche die Musik und das musiktheoretische Denken bestimmten, hätte prägnanter und konzentrierter fokussiert werden können, gerade mit Blick auf solche Rezipienten, die mit den hier vereinigten persischen, hinduistischen und islamischen Musik-Traditionen nicht vertraut sind. Fragen des Tonsystems, von Raga und Tala in der spezifischen Darstellung von Inayat Khan zu begegnen, erhellt aber dennoch eine wesentliche Station des – durch lokale Traditionen sehr divergierenden – indischen musiktheoretischen Denkens.

Vertrautere Problemstellungen begegnen in Neil Boyntons Beitrag »›And two times two equals four in every climate‹. Die Formenlehre der Wiener Schule als internationales Projekt«. Nicht allein die Bedeutung Schönbergs für das Form-Denken und sein Einfluss auf die entsprechenden Publikationen seiner Schüler und ›Enkelschüler‹ werden verdeutlicht; auch die Probleme der spezifisch englischsprachigen Rezeption dieses Denkens und seiner Termini werden diskutiert. Zahlreiche, mir bisher unbekannte Dokumente – u.a. von Webern – veranschaulichen drastisch, wie selbstverständlich, ja wie unhinterfragt Schönbergs theoretische Kategorien adaptiert und weitergegeben wurden (das gilt auch für die von Boyton nicht erwähnten Beiträge des doch sonst so kritischen Hanns Eisler zur Formtheorie). Dass die Einführung in die musikalische Formenlehre von Erwin Ratz »in dem behandelten Repertoire deutlich von den anderen Schriften aus der Wiener Schule abweicht« (209), ist einerseits korrekt, gibt aber andererseits keine Auskunft darüber, ob und wie dieses Repertoire dennoch Gegenstand des Unterrichts bei Schönberg war. An zentralen Kategorien in Schönbergs Formdenken wie ›fest gefügt‹, ›locker gefügt‹ und ›entwickelnde Variation‹ sowie dem umfassenden Begriff des ›Gedankens‹ zeigt Neil Boynton, dass Übersetzung (hier ins Englische) immer auch das Problem des Transfers in einen anderen kulturellen Kontext impliziert.

Stephen Hinton (»Amerikanische Musiktheorie: Disziplin ohne Geschichte?«) konstatiert den auch historisch festzumachenden Unterschied zwischen normativ-nomothetisch-präskriptiver und analytisch-idiographisch-deskriptiver Musiktheorie, macht aber klar, dass nicht einfach von einem Paradigmenwechsel ausgegangen werden darf, sondern dass beide Möglichkeiten in einem komplexen oft verwirrenden Wechselverhältnis weiter existieren. Exemplifiziert wird dies an der amerikanischen Schenker-Rezeption; hier handele es sich »nicht nur um die Schenkerisierung von Amerika, sondern auch um die Amerikanisierung Schenkers.« (234) Etabliert habe sich eine Schenker-Rezeption ohne Schenker-Lektüre und ohne den Versuch, zentrale Begriffe wie ›Ursatz‹ und ›Urlinie‹ wirklich zu verstehen und zu ›übersetzen‹, mit ihrem ja auch metaphysischen Sinn. »Die bevorzugte Metaphorik, die Schenkers Denken in und über Musik überhaupt ermöglichte, war biologistisch beziehungsweise organizistisch.« (236) (Anzumerken wäre hier, dass eine abstrakt vergleichbare biologistisch-organizistische Metaphorik bzw. die ihr zugrunde liegende Denkweise z.B. bei Schönberg extrem andere Resultate hatte.) Beschrieben wird Schenkers Werdegang hin zu diesem Punkt, ausgehend von einem frühen Beitrag von 1895, »Der Geist der musikalischen Technik«. Dessen erstaunlicher Skeptizismus, so Hinton, sei durchaus von Kants Kritik der Urteilskraft beeinflusst. (Zu ergänzen wäre der kulturelle Kontext des ja in dieser Zeit philosophisch von Empiriokritizismus und Neukantianismus geprägten Wien, man denke etwa an Ernst Mach und Rudolf Eisler, den Vater Hanns Eislers.) Den verschiedenen Ansätzen zu einer abstrahierenden Ent-Kontextualisierung Schenkers in der amerikanischen Musiktheorie wird – ganz in der Tradition Carl Dahlhaus’ – ein umfassender Begriff von ›Geschichtlichkeit‹ als Einheit unterschiedlichster Bestimmungsmomente entgegen gesetzt. Schade, dass Martin Eybls grundlegende Dissertation Ideologie und Methode. Zum ideengeschichtlichen Kontext von Schenkers Musiktheorie nicht in den Diskurs einbezogen wurde.

Wie beeinflussen sich kompositorisches und musiktheoretisches Denken wechselseitig? Das untersucht Gianmario Borio in »Komponisten als Theoretiker. Zum Stand der Musiktheorie im Umfeld des seriellen Komponierens«. Er beschreibt, wie »historische Kontinuität« – exemplarische Analysen früherer Werke als Legitimations-Strategie fürs eigene Werk – durch »systematische Grundlegung« abgelöst wird: »Die neue Praxis braucht eine neue Theorie.« (248) Auffällig in der (ja erstaunlich kurzen) seriellen Phase ist der fast vollständige Verzicht auf eine Anbindung an frühere musiktheoretische Denkkulturen und der Versuch, in Physik, Mathematik, Informationstheorie, Phonetik neue Paradigmen zu finden. Damit verbunden (besonders bei Boulez) ist die Tendenz zu formalisierten Deduktionstheorien, die einzig auf ›logische‹ Stimmigkeit zielen. Nach einem Blick auf vergleichbare Tendenzen in der amerikanischen Musiktheorie (u.a. bei Babbitt, Forte und Rahn) werden die Einflüsse serialistischer Theorien auf die nachfolgende Informationstheorie und den Strukturalismus untersucht. Schön, hier auch Henri Pousseurs klugem Diagramm der Beziehung von Ordnung und Nicht-Ordnung wieder zu begegnen (263). Ein kleiner Satz gegen Ende des Beitrags hätte, wäre er früher gefallen – auch bezogen auf viele der vorausgegangenen komplex-abstrakten Erörterungen – klärend wirken können: »Möglicherweise ist die Nicht-Korrespondenz zwischen konzipierten und wahrgenommenen Strukturen nicht nur auf das Hören serieller Musik beschränkt, sondern ein Dauerzustand der Musik, dessen Diskussion zur Grundlegung einer musikalischen Semiotik beitragen soll.« (273f.)

Hermann Danusers Beitrag »Musikalische Lyrik. Perspektiven einer transnationalen Gattungshistoriographie« beschließt den Band. »Innerhalb der musikalischen Gattungshistorie weisen die meisten transnationalen Gattungen nationale Ursprünge auf, die bereits an der Etymologie ablesbar sind.« (276) Das wird am ›Lied‹-Begriff und, als Alternative, am Begriff ›Musikalische Lyrik‹ entfaltet. So drastisch die Verengungen des ›Lied‹-Begriffs und sein partieller nationalistischer Missbrauch auch dargestellt sind, so einleuchtend die Vorzüge der Alternative ›Musikalische Lyrik‹ historisch wie systematisch entwickelt werden: An der Notwendigkeit, sich immer wieder mit dem in sich so widersprüchlichen ›Lied‹-Begriff auseinander zu setzen, wird das wohl nichts ändern. Das Eruieren und Benennen gerade des umwegig Widersprüchlichen in einem – weiterhin ja fest etablierten – Gattungsbegriff wie ›Lied‹ ist für das Erkennen des Gattungs-Substantiellen unverzichtbar. Alle fünf Kategorien, mit denen Hermann Danuser die Konzeption von ›Musikalischer Lyrik‹ expliziert, sind von hoher Plausibilität; zugleich aber sind sie – implizit – eine permanente Auseinandersetzung mit dem ›Lied‹-Begriff.

Die in diesem Band versammelte imposante Fülle der Gegenstände und der Methoden repräsentiert durchaus den Ansatz zu einer – vorsichtig formuliert – »Geschichte der Musiktheorien in ihren kulturellen Kontexten«. In der Tat erscheint nach den oft eindimensionalen Konstruktionen immanenter Logizitäten eine umfassende kulturgeschichtliche Kontextualisierung der Musiktheorie überaus notwendig. Dabei aber droht die Gefahr, in allzu großzügigen Generalisierungen die Einheit von – ungeheuer ›detailgesättigtem‹ – Immanentem und bestimmendem Transzendierendem zu vernachlässigen. Auch Metatheorien haben sich strikt am Einzelnen zu bewähren. Die ›Mühen der Ebenen‹ sind programmiert.

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