Schröder, Gesine (2003/05), »Instrumentation«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 1–2/2/2–3, 239–242. https://doi.org/10.31751/531
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/04/2005
zuletzt geändert / last updated: 15/01/2010

Instrumentation

Gesine Schröder

Ich skizziere, was deutschsprachige Autoren zur Instrumentationslehre schwerpunktmäßig in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beitrugen. Bis in die 50er Jahre war die Disziplin geprägt durch Richard Strauss’ Ergänzung von Hector Berlioz’ Lehre, weniger durch Egon Wellesz’ kluge und innovative Neue Instrumentation, die es bald nach ihrem ersten Erscheinen aus politischen Gründen schwer hatte und nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich und Deutschland gewissermaßen nicht wieder eingebürgert wurde. Hier war der Weg fort von Anweisungen und Empfehlungen zu einer deskriptiven Lehre und zu einer Theorie beschritten worden, während Instrumentationslehren älteren Zuschnitts mehr den praktischen und technischen als den analytischen und ästhetischen Aspekt hervorgekehrt hatten. Das galt etwa für Hugo Riemanns bis in die 20er Jahre wiederaufgelegtes Handbuch der Orchestrierung, welches ein an musikalischen Ausbildungsstätten noch heute verbreitetes Vorgehen zeigt: Den methodischen Ausgangspunkt bilden Klaviersätze, die dann zu instrumentieren sind. Damit sind das formale Moment einer Komposition, das dem Apparat anzumessende Format und der Aspekt der idiomatischen Erfindung vernachlässigt. Ein Gang durch die Historie (von der Klassik bis zur späten Romantik) wird mit rudimentärer Systematik der Besetzungen kombiniert. Noch neueste Ideen zum Instrumentationsunterricht (Redmann) greifen dieses Verfahren auf, dessen Grenzen nicht erst Wellesz benannt hatte, dem er ausgewichen war und dessen Verzerrungen des zu lehrenden Phänomens – wenn überhaupt – pädagogisch begründet wurden. Im übrigen entspricht es einer verbreiteten Unterrichtspraxis.

In Deutschland spaltete sich die Disziplin um 1960 in Abhängigkeit von der politischen Verfaßtheit des Landes. Während man in Ostdeutschland im Kompositionsunterricht mit dem vielbändigen Werk von Hans Kunitz zu arbeiten begann, war es im Westen die schulmäßige Instrumentationslehre von Hermann Erpf, die vielerorts vor allem für weniger professionelle Zwecke benutzt wurde. Beide sind aus totalitären Staaten hervorgegangen. (Die erste Fassung von Erpfs Buch war 1935 erschienen. Eigentlich brauche ich nicht zu fragen, ob Erpf zu Bemerkungen wie denen zur neuen Festmusik sowie zur fast kompletten Auslassung von Beispielen nicht deutscher bzw. österreichischer sowie aller jüdischen Komponisten gezwungen war. Die 24 Jahre danach ohne Hinweis auf ihre Herkunft erschienene neue Fassung revidiert diese Haltung keineswegs grundlegend: Zu einer deutschen Disziplin war die Instrumentation gemacht worden, und sie war deutsch geblieben.) Aus anderen kulturpolitischen Gründen begrenzt Kunitz sein Repertoire. Er meidet, was stilistisch über Strauss hinausgeht. Außerdem kann man bei ihm kaum jenes Areal erkunden, welches ausgehend von der Instrumentation, im Sinne der französischen Lehre als monographische Behandlung der einzelnen Instrumente verstanden, ins Gebiet der Orchestrierung hineinreicht.

Den Versuch, mit einem Schlag etwas gegen das fast völlige Fehlen des neueren Repertoires – neue Spieltechniken und neuere Gepflogenheiten der orchestralen (partiturmäßigen) Notation inbegriffen – zu unternehmen, wagte erst Mitte der 80er Jahre das Autorenkollektiv Gieseler / Lombardi / Weyer. Ihr Buch verläßt das Gebiet der traditionellen Instrumentationslehre und macht die Disziplin nutzbar für solche kompositorischen Verfahren des 20. Jahrhunderts, die Versuche insbesondere französischer Musik des 19. Jahrhunderts radikalisiert fortsetzen: Instrumentation als Schreiben für Instrumente, als Komponieren mit Klangfarben und Timbres, als Erfinden von Geräuschen, deren Rang im Werk keinesfalls mehr generell als peripher eingeschätzt werden konnte. Das Tabellarische des Buchs und die mangelnde Intensität, mit der Notenbeispiele behandelt werden, die zudem schlecht reproduziert und daher kaum entzifferbar waren, haben wohl dafür gesorgt, daß das Buch in der Praxis wenig beachtet wurde. Zum Lernen, Üben und Überprüfen der Lernerfolge war das Buch kaum geeignet, denn eine Methode offeriert es nicht. Eher war es als Nachschlagewerk nützlich. Die Informationen über Technisches, den Gebrauch der Instrumente und Intentionen der Instrumentatoren liefen neben der Unterrichtspraxis her und wurden in ihr nicht aufgegriffen. Hinzu kommt, daß an deutschen Ausbildungsinstituten bis heute kaum die Chance besteht, Instrumentationsstudien für größere Besetzungen mit einem Orchester auszuprobieren. Die Simulation durch den Computer gleicht dies bisher nicht aus.

Seit einigen Jahren stößt das Instrumentieren seitens der Lehre und – weniger – in der Forschung auf erhöhtes Interesse. Das Fachgebiet wird nicht mehr stets als primär der Kunst des 19. Jahrhunderts zugehörig betrachtet. Instrumentieren – verstanden als Schreiben für Instrumente einschließlich des Computers – verlangt exakteste Kenntnisse der instrumentalen Hervorbringungsarten, die sich insbesondere in den letzten fünf Jahrzehnten rigoros zu einem zentralen Aspekt des Komponierens entwickelt haben.

Dennoch knüpfen die jüngsten instrumentationspädagogischen Versuche hier nicht an. Sie sind in ihrer Ästhetik wieder sehr traditionell und praktisch (Kaiser / Gerlitz, Sevsay), konzentrieren sich auf die Musik des späten 18. und des 19. Jahrhunderts und gegebenenfalls – in einem weiteren Schwerpunkt – auf eine Lehre des Arrangierens.

Kaisers und Gerlitz’ didaktisch äußerst klug konzipierte Lehre, der – erstmalig in einem deutschsprachigen Lehrbuch zur Instrumentation – eine CD mit der Präsentation von Arbeitsergebnissen auch in Einzelschritten beigegeben sein wird, kommt den hypostasierten pragmatischen Bedürfnissen von Schulmusikern entgegen, so daß es das klassische und das romantische Orchester als große Abstrakta gibt. Sehr Typisches wird behandelt. Und das Verfahren, von Klaviersätzen auszugehen, wird geschickt mit historischen Mustern untermauert. Schreiben für Instrumente im 20. Jahrhundert kommt vor allem als Big-Band-Arrangement vor. Instrumentationsunterricht ist weitgehend als Unterricht im Kopieren historischer Klangstile angelegt.

Sevsay weist jegliche theoretische Reflexion von sich. Unter Theorie versteht er Elementarlehre. Der Lehrgang ist detailliert und zielt auf professionelles Schreiben fürs Orchester. Die Technik der Instrumentation hält Sevsay für zeitlos und unabhängig von Stilen und Perioden der Musikgeschichte. Er versammelt gediegene Techniken, pflegt das Ideal des brillanten, durchhörbaren Klangs. Vor Wertungen scheut er nicht zurück. Er empfiehlt (!) – ein Verhalten, mit dem man in den anderen musiktheoretischen Teildisziplinen vor etwa hundert Jahren aufgehört hat, um eher deskriptiv vorzugehen und die Angemessenheit einer Technik an das imaginierte Resultat zu erreichen. Mag sein, daß dieser Anachronismus der Tatsache geschuldet ist, daß es sich um die jüngste der Disziplinen handelt. Die Übungen hören mit der Musik um 1900 auf. Für Späteres gibt es nur noch Beschreibungen (anders als bei Samuel Adler, demjenigen Autor, dessen Lehrwerk Musikstudenten hierzulande in Ermangelung eines deutschsprachigen seit etlichen Jahren immer mehr benutzen). Die Kapitel zu den monographisch behandelten Einzelinstrumenten zeigen dagegen oft Techniken, die in neuerer Musik einen Platz haben. Als Kompendium sind diese Teile vor allem für Komponisten brauchbar, falls sie vor so viel Pragmatismus nicht zurückscheuen und sie nicht Unschärfe erreichen möchten.

Theorie der Instrumentation in einem emphatischen Sinne gibt es in Dahlhaus’ gleichnamigem Aufsatz (1985), der weder von Praktikern (Instrumentationslehrern) noch von musiktheoretisch ambitionierten Musikwissenschaftlern in seiner Tragweite beachtet worden ist. So gewährt Peter Josts Überblick kaum Einblick in Technisches und bleibt jenseits jeglicher Reflexion über die wechselseitige Balancierung der Tonsatzeigenschaften. Jost wendet sich mehr an Rezipierende als an Produzierende, und es beschämt zu sehen, wie eng die Weisen, wie auch in diesem Exempel wissenschaftlicher Literatur analysiert wird, an den verbreiteten handwerklichen Lehrbüchern hängen. Diese bestimmen die Erkenntnis mehr, als ihnen lieb sein kann. Bemerkungen zur Instrumentation werden in analytischer Literatur zumeist als Beiwerk verstanden, in der an mathematisierten oder historistischen Analysemethoden orientierten wohl noch ausgeprägter als in dem mehr unsystematisch verfahrenden hermeneutischen Kommentar. Die Beziehungen zwischen instrumentenspezifischer Lage, zugeschriebenen Charakteren, Dynamik, Oktavlagen, Tonqualität und Timbre im weitesten Sinne bedürfen der Introspektion. Es scheint, als habe die Instrumentation unter den Theoretikern erst eine Chance, wenn man von der weichen Art der Analyse zu einer Methode übergeht, die experimenteller Überprüfung standhält. Wege dorthin eröffnete jüngst das interdisziplinäre Colloquium Timbre in Montreal[1]: Eine Kooperation mit anderen Teilbereichen der systematischen Musikwissenschaften scheint – auch für die künstlerische Lehre – aussichtsreich.

Anmerkungen

1

Das Tagungsprogramm des Colloque interdisciplinaire de musicologie Montréal unter www.oicm.umontreal.ca/cim05/actes.html

Literatur

Berlioz, Hector (1950), Instrumentationslehre, ergänzt und revidiert von Richard Strauss, Leipzig.

Dahlhaus, Carl (1985), »Zur Theorie der Instrumentation«, Musikforschung 38, 161–169.

Erpf, Hermann (1935), »Die Lehre von den Instrumenten und der Instrumentation«, in: Hohe Schule der Musik. Handbuch der gesamten Musikpraxis, hg. von Joseph Müller-Blattau, Bd. 2, Potsdam.

––– (1959), Lehrbuch der Instrumentation und Instrumentenkunde, Mainz.

Gerlitz, Carsten und Ulrich Kaiser (2005), Arrangieren und Instrumentieren, Kassel u. a.

Gieseler, Walter / Luca Lombardi / Rolf-Dieter Weyer 1985, Instrumentation in der Musik des 20. Jahrhunderts. Akustik – Instrumente – Zusammenwirken, Celle.

Jost, Peter (2004), Instrumentation. Geschichte und Wandel des Orchesterklangs, Kassel u. a.

Kunitz, Hans (1955–68), Die Instrumentation. Ein Hand- und Lehrbuch, 13 Bde., Leipzig.

Redmann, Bernd (2003), »Schule musikalischer Sinnlichkeit. Ideen zum Instrumentationsunterricht«, Musiktheorie 18, 351–356.

Riemann, Hugo (1921/24), Handbuch der Orchestrierung (Anleitung zum Instrumentieren), Berlin.

Sevsay, Ertugrul (2005), Handbuch der Instrumentationspraxis, Kassel u. a.

Wellesz, Egon (1928/29), Die neue Instrumentation, 2 Bde., Berlin.

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