Popović, Tihomir (2003/05), »Zwei ›Wege‹ in Beethovens drittem Klavierkonzert. Aus Anlaß des zweihundertjährigen Jubiläums der Uraufführung am 5. April 1803 in Wien«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 1–2/1/1, 47–74. https://doi.org/10.31751/483
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2003
zuletzt geändert / last updated: 21/12/2009

Zwei ›Wege‹ in Beethovens drittem Klavierkonzert

Aus Anlaß des zweihundertjährigen Jubiläums der Uraufführung am 5. April 1803 in Wien

Tihomir Popović

Beethovens drittes Klavierkonzert op. 37 ist in einem für die Entwicklung des Komponisten entscheidenden Zeitraum um das Jahr 1800 entstanden. In der vorliegenden Untersuchung werden einige Aspekte dieses Momentes im kompositorischen Entwicklungsprozeß Beethovens und seine Manifestationen in der Gattung Klavierkonzert anhand einer vergleichenden Stilanalyse des ersten Satzes von op. 37 erfaßt. Die Analyse versucht nicht, das Konzert dem überlieferten Schema der stilistischen Periodisierung des Schaffens Beethovens (›Drei-Stil-Lehre‹) anzupassen, sondern durch Untersuchung und Vergleich von Charakteristika konkreter Werke einer Gattung gerade zur Verfeinerung dieser Periodisierung, zumindest in Bezug auf die Klavierkonzerte, einen Beitrag zu leisten. Nicht nur der endgültige Notentext des Konzertes, sondern auch die für eine Stilanalyse relevanten Eingriffe Beethovens im Autograph werden dabei in Betracht gezogen. Die Untersuchungsergebnisse werden mit den Ergebnissen anderer Analysen verglichen, u.a. mit denen Leon Plantingas und Carl Dahlhaus’, dessen Schlußfolgerungen über Beethovens ›Neuen Weg‹ besonders berücksichtigt werden.

Schlagworte/Keywords: comparative style analysis; compositional periods; Klavierkonzert c-Moll op. 37; Ludwig van Beethoven; Piano Concerto in C minor op. 37; Schaffensperioden; vergleichende Stilanalyse

Die Stellung und Bedeutung des dritten Klavierkonzertes innerhalb des Beethovenschen Schaffens wurde in der musikwissenschaftlichen Literatur wiederholt angesprochen. Während für Wolfgang Osthoff, den Autor der einzigen Monographie über das c-Moll-Konzert, dieses Werk a priori in die »sogenannte zweite Schaffensperiode fällt« (Osthoff 1965, 3), sind die anderen Analytiker in dieser Hinsicht vorsichtiger. Schon Donald Francis Tovey zeigte in seiner Analyse des Hauptthemas von op. 37 einen höheren Empfindlichkeitsgrad gegenüber dieser Frage (Tovey 1936/1978, 70). In den letzten zehn Jahren erschienen Darstellungen und Analysen des dritten Klavierkonzertes von Konrad Küster (Küster 1994, 118–124), William Kinderman (Kinderman 1995, 64–72), Christian Martin Schmidt (Schmidt 1994), Robert Forster (Forster 1992) und Hartmut Hein (Hein 2001), in denen die komplexe Frage des ›Stils‹ in op. 37 angesprochen und – besonders in den beiden letzten Analysen – auch konkreter untersucht wird, obgleich sie dort nicht das Hauptuntersuchungsobjekt darstellt. Leon Plantinga hat in seinem Buch über Beethovens Konzerte ein Kapitel der Stilanalyse von op. 37 gewidmet, mit dem Ziel, die Position dieses Werkes innerhalb des Beethovenschen Schaffens, insbesondere angesichts der Problematik des ›Neuen Weges‹, präziser zu determinieren (Plantinga 1999, 150ff.). Obwohl sie sich auch mit einzelnen Stellen im ersten Satz befassen, beziehen sich Plantingas Untersuchungen doch vorwiegend auf die beiden letzten Sätze, deren komplexe harmonische Verbindungen er als Merkmal des ›Neuen Weges‹ bezeichnet (ebd., 154f.).

Stellt sich angesichts all dieser analytischen Studien nicht die Frage, ob eine weitere Analyse von op. 37 noch eine Berechtigung findet? Wohl nicht, denn die genannten Untersuchungen betonen auf ihrer komparativ-stilanalytischen Ebene (die ja nicht die zentrale Rolle in diesen Analysen spielt) vorwiegend das ›Neue‹, das zum ›mittleren Beethoven‹ Gehörende oder diesen Stil in op. 37 Ankündigende, berücksichtigen aber dabei nicht detaillierter die Verflechtung von Charakteristika des ›frühen Wiener Stils‹ mit den Merkmalen der ›mittleren Periode‹. Das sei daher die Aufgabe dieser Untersuchung, die dadurch auch einen kleinen Beitrag zu jenem refining leisten möchte, von dem Joseph Kerman und Alan Tyson in Bezug auf die Drei-Stil-Lehre in der Periodisierung des Beethovenschen Schaffens sprechen.

Jede Analyse des dritten Klavierkonzertes Beethovens ist auch für die Frage der Datierung des Werkes von Bedeutung. Während Leon Plantinga (Plantinga 1999, 113–135; Plantinga 1989, 281ff.) die These vertritt, daß das Konzert zum größten Teil im Jahr 1803 entstanden ist, bleiben Küthen (Küthen 1984, 43ff.) und Kinderman (Kinderman 1995, 65) bei der Meinung, das Werk sei vorwiegend um das Jahr 1800 geschrieben. Obwohl eine Stilanalyse nicht unmittelbar zu Spekulationen über die Entstehungsgeschichte des Konzertes führen muß, erscheint sie vor dem Hintergrund der Debatte über die Datierung des Werkes interessanter – oder mindestens gerechtfertigter.

Die berühmte Wende Beethovens zum ›Neuen Weg‹ geschah in den Jahren 1802–1803. Wenn man der bekannten, uns von Czerny überlieferten Geschichte Glauben schenkt, war sich der Komponist dieser Wende bewußt. Dafür spricht auch seine nicht weniger bekannte Aussage über »eine ganz neue Manier« (auch wenn man nicht bereit ist, diesen Begriff mit dem ›Neuen Weg‹ unmittelbar gleichzusetzen), die in einem Brief Beethovens an Breitkopf und Härtel vom 18. Oktober 1802 zu finden ist (Beethoven/Brandenburg 1996, 126). Die vorliegende vergleichende Analyse stellt in diesem Zusammenhang einen Versuch dar, die Ideen des ›Neuen‹ und des ›Alten Weges‹ Beethovens am Beispiel des ersten Satzes von op. 37 mit musikalischer Wirklichkeit zu verbinden, um somit den kompositorischen Entwicklungsprozeß Beethovens am Anfang des 19. Jahrhunderts besser zu beleuchten. Darin knüpfen diese Untersuchungen nicht nur an jene von Leon Plantinga, sondern auch an die bekannten Analysen von Carl Dahlaus an (Dahlhaus 1987, 206–222). Dies bedeutet aber nicht gleichzeitig, daß es ihre Absicht ist, auch auf der Ebene der Ästhetik an Dahlhaus anzuknüpfen oder sich in die bekannte auf dieser Ebene geführte Polemik über den Beethovenschen ›Neuen Weg‹ (s. z.B. Geck/Schleuning 1989, 188f.) einzumischen. Ebenso wird hier der von Beethoven selbst geprägte Begriff ›der Neue Weg‹ nicht ausschließlich durch die von Dahlhaus gegebene Interpretation verstanden, was selbstverständlich nicht den Vergleich mit den Ergebnissen Dahlhaus’ ausschließt, im Gegenteil.

In seinen Betrachtungen der exemplarischen Werke des ›Neuen Weges‹, aufgrund welcher er einige der wichtigsten Merkmale des neuen kompositorischen Weges Beethovens definiert (»die rudimentären Satzanfänge, der radikale Prozeßcharakter der musikalischen Form, die Aufhebung des traditionellen Themabegriffs und die funktionale Ambiguität der Formteile«, Dahlhaus 1987, 217), analysiert Dahlhaus Klaviersonaten, die dritte Symphonie, Streichquartette, Variationen, aber nicht das dritte Klavierkonzert – vielleicht weil er die (für die vorliegende Analyse gerade interessante) Zwischenposition des Werkes und die Schwierigkeit der eindeutigen stilperiodischen Einordnung von op. 37 klar erkannt hatte. Trotzdem wird, wie Christian Martin Schmidt schreibt, das dritte Konzert »hinsichtlich des kompositorischen Standes oder Niveaus […] mit dem G- und Es-Dur-Konzert zusammengedacht: Wie bei den Symphonien in der Eroica, so hat Beethoven bei der Konzertkomposition erst im c-Moll-Konzert seine spezifische Ausdrucksform gefunden« (Schmidt 1994, 300f.). Inwiefern dieses ›Zusammendenken‹ berechtigt ist und inwiefern das dritte Klavierkonzert als Teil eines kompositorischen Entwicklungsprozesses, als ein Gradus zum ›Neuen Weg‹ zu verstehen ist, das kann die vorliegende Arbeit zu beleuchten versuchen.

Trotz der Relevanz des zweiten und dritten Satzes von op. 37 für die vorliegende Analyse werden sie – vor allem um im Rahmen dieses Artikels einen höheren Grad der Detailanalyse zu gewährleisten – aus dieser Besprechung ausgeschlossen. Darüber hinaus scheinen eine komparative Stilanalyse und ihre Ergebnisse bei der Kopfsatz-Analyse weniger problematisch zu sein, da die Funktionen der formalen Konstituenten der Sonatenhauptsatzform bedeutend klarer und dadurch miteinander vergleichbarer sind als die der anderen Sätze. Konsequent werden im folgenden auch die Vergleiche auf unteren Dimensionsebenen, dem Grundsatz der context sensitivity folgend, systematisch zwischen möglichst verwandten Abschnitten verschiedener Konzerte Beethovens durchgeführt.

Tutti 1 – die Orchesterexposition

Die Orchesterexposition ist die proportional längste in den Konzerten Beethovens: Sie macht mehr als ein Viertel der Gesamtlänge des Satzes aus (s.u., Tabelle 1). Ihre bemerkenswerte Länge stellt gewissermaßen den Höhepunkt der in der frühen Wiener Periode erkennbaren Tendenz Beethovens dar, lange Orchesterexpositionen zu komponieren. Es ist wohl kaum notwendig, die Tatsache, daß der Solist aus der ersten Exposition ausgeschlossen ist, als ein Merkmal des ›frühen Stils‹ besonders hervorzuheben. Diese Tatsache betont aber, zusammen mit der Länge dieses Abschnitts, die ›klassische‹ Trennung der beiden Expositionen: Die Dimensionen der Orchesterexposition von op. 37 sind ideell mit dieser demonstrativen Getrenntheit von der Soloexposition verbunden, die auch durch eine apodiktische Kadenz auf der c-Moll-Tonika am Ende der ersten Exposition (T. 107ff.) harmonisch befestigt ist: Die erste Exposition bleibt, der frühen Praxis aus WoO 4, op. 19, op. 15 und aus zahlreichen früheren klassischen Konzerten folgend, eine harmonisch und formal geschlossene Einheit. Erst die Orchesterexpositionen der späteren Klavierkonzerte weisen in dieser Hinsicht eine neue Kompositionsweise auf: Sie sind proportional kürzer, beginnen bekanntlich mit Soloauftritten und bereiten den Weg für die Klavierkonzerte späterer Komponisten vor. An ihren Endungen ist, im Unterschied zu den früheren Konzerten, die harmonisch und dynamisch manifestierte Tendenz erkennbar, organisch in die Soloexposition überzugehen: Das Konzertant-Kontrastierende weicht dem Symphonisch-Einheitlichen (vgl. op. 58, T. 74; op. 73, T. 107; op. 61, T. 89). Das dritte Konzert bleibt in diesem Kontext aber noch dem ›Alten Weg‹ verpflichtet.

Werk

Kl.-

Kl.-

Kl.-

Kl.-

Kl.-

Kl.-

V.-

Tripelkonz.

 

Konz.

Konz.

Konz.

Konz.

Konz.

Konz.

Konz.

C-Dur,

 

Es-

Nr. 2,

Nr. 1,

Nr. 3,

Nr. 4,

Nr. 5,

D-Dur,

op. 56

 

Dur,

B-Dur,

C-Dur,

Moll,

G-Dur,

Es-Dur,

op. 61

 

 

WoO 4

op. 19

op. 15

op. 37

op. 58

op. 73

 

 

Tutti 1
(Orchesterexposition)

17,80 %

22,50 %

22,18 %

25,06 %

20,00 %

18,24 %

16,64 %

 

Tabelle 1: Anteil der Länge des Tutti 1 an der Gesamtlänge der Kopfsätze in Prozent

Über die ›Form‹ des Hauptthemas von op. 37 läßt sich kaum streiten. Schon Tovey erkannte ihren frühbeethovenschen Charakter (Tovey 1936/1978, 70). Christian Martin Schmidt schreibt darüber: »Das sechzehntaktige Hauptthema des ersten Satzes bildet – in der Terminologie von Erwin Ratz – einen Satz, der in seiner Regelmäßigkeit kaum zu übertreffen ist« (Schmidt 1994, 302). Diese Regelmäßigkeit des 4 + 4 + 8 -Takte-Satzschemas ist – mit kleinen Abweichungen – auch ein Charakteristikum der früheren Konzerte und wird erst in den nach op. 37 komponierten Klavierkonzerten ›abgebaut‹. Die harmonische Basis der ersten beiden Viertakter (der erste auf der Tonika, der zweite auf der Dominante) ist natürlich auch ein unmißverständliches Zeichen der frühen harmonischen Sprache Beethovens und der früheren Wiener Klassik. Der anschließende Achttakter ist aber von einer, durch die Dynamik unterstützten, harmonischen Emphase – die teilweise vielleicht von der Tatsache herrührt, daß es sich um ein (c-)Moll-Konzert handelt –, welche die früheren Konzerte in ihren jeweiligen Hauptthemen nicht kennen. In T. 12 wird im Rahmen einer Sequenz der ›phrygische‹ Dreiklang (in c-Moll: des-f-as) erreicht. Allerdings klingt dieser Akkord in seinem Sequenz-Kontext weniger apart, als das sonst der Fall wäre: Da der ganze zweite Zweitakter des Achttakters (T. 11f.) eine Transposition des ersten (T. 9f.) auf der Subdominant-Ebene, also im f-Moll-Bereich, darstellt, liegt eine Interpretation für den Des-Dur-Dreiklang in diesem Zusammenhang auf der Hand. Jedoch wird er in die Dominante des c-Moll geführt, was seinen ›neapolitanischen‹ Charakter bestätigt und die harmonische Spannung dieses Themas – die ihren Auslöser noch in der angesprungenen Dominant-None in T. 6 hat – aufrechterhält.

An der bereits zitierten Stelle äußert sich Tovey über den motivischen Inhalt des Hauptthemas folgendermaßen: »The main theme is a group of pregnant figures which nobody but Beethoven could have invented. They would rank as important themes in his latest works […].« Tatsächlich sprechen einige Parallelen zwischen dem Themenkern von op. 37 und den Motiven der Werke aus der ›mittleren Periode‹ für die Richtigkeit dieser Aussage Toveys (wenn man das Wort »latest« etwas freier auffaßt). Eine solche Parallele besteht zwischen dem Hauptthema von op. 37 (Bsp. 1a) und dem Anfang des vierten Satzes der fünften Symphonie, op. 67, deren Grundtonart auch c-Moll ist (und deren ›mittelbeethovenscher‹, ›schicksalhafter‹ und ›heroischer‹ Charakter zu bekannt ist, um hier die Bedeutung dieser motivischen Parallele weiter zu erörtern) (Bsp. 1b). Das berühmte »Pochmotiv« aus T. 3f. von op. 37 spielt auch in dem zweiten Satz der vierten Symphonie, op. 60, eine wichtige Rolle (Bsp. 2) (erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch, daß der Satz gerade in der c-Moll-Paralleltonart Es-Dur steht). Natürlich sind diese Parallelen – besonders die zweite, die auf einem aus zwei Tönen bestehenden Motiv basiert – als Argumente einer vergleichenden Analyse nur mit Vorsicht in Betracht zu ziehen.

AbbildungBeispiel 1a: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert c-Moll, op. 37, I. Satz, T. 1–4

AbbildungBeispiel 1b: Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 5, c-Moll, op. 67, IV. Satz, T. 1–5

AbbildungAbbildungBeispiel 2: Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 4, B-Dur, op. 60, II. Satz, T. 1–11

Hinsichtlich der Instrumentation unterscheidet sich das Hauptthema von op. 37 von denen der Konzerte op. 19 und op. 15. Konrad Küster weist zu Recht auf die hervorgehobene Rolle der Bläser im Vortrag des Hauptthemas (T. 5–8) hin, als ein Novum in den Klavierkonzerten, das seine Parallele in der Gattung Symphonie in op. 21 hat (Küster 1994, 123).

Während also das von Dahlhaus formulierte Merkmal des Neuen Weges, die »rudimentären Satzanfänge«, auf den Anfang von op. 37, bei welchem man tatsächlich noch immer von einem klassischen Thema sprechen muß, nicht angewendet werden kann, sprechen andere Eigenschaften des Hauptthemas – seine harmonische Basis, der motivische Inhalt – gleichzeitig eine innerhalb der Konzerte Beethovens neue, zukunftsweisende musikalische Sprache.

AbbildungBeispiel 3a: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert c-Moll, op. 37, I. Satz, T. 31–41

AbbildungBeispiel 3b: Ludwig van Beethoven, Tripelkonzert, op. 56, I. Satz, T. 299–302

AbbildungAbbildungBeispiel 3c: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert Es-Dur, op. 73, I. Satz, T. 29–38

Über das nachfolgende überraschende Modulieren nach Es-Dur – die Tonart der zweiten Exposition – sowie über den anschließenden Beginn des Seitenthemas in dieser Tonart und das Modulieren nach C-Dur im Nachsatz hat schon Tovey geschrieben (Tovey 1936/1978, 70f.). Auch Plantinga kommentiert diese Modulation und ihre Folgen ausführlich (Plantinga 1999, 138f.). Weder die ›frühen Wiener‹ noch die späteren Konzerte kennen diese Wendung. Eine bisher in der Literatur wohl nicht berücksichtigte Tatsache ist, daß, mutatis mutandis, im Bonner Es-Dur-Konzert, WoO 4, Beethovens eigentlich erstem Klavierkonzert, der gleiche harmonische Plan der Exposition(en) zu finden ist: Auch dort steht in der Orchesterexposition der Anfang des Seitenthemas (T. 25) in der gleichen Tonart wie in der Soloexposition (T. 86) – in der Dominanttonart B-Dur. Ist also die Anwendung dieses Schemas aus WoO 4 in op. 37 ein selbstbewußtes Spielen mit anscheinend simplen juvenilen Verfahren, oder ist es etwas, was für Tovey »dangerously resembled a mistake« (Tovey 1936/1978, 71) und für Plantinga »to be sure […] not the high point of the composition« (Plantinga 1999, 138) darstellt? Ist dieser harmonische Plan im Fall von op. 37 nicht vielleicht eine mit der Problematik des Konzertkomponierens in Moll, mit der sich Beethoven in op. 37 zum ersten und einzigen Mal befaßte, verbundene Vorgehensweise? Diese Fragen müssen hier naturgemäß unbeantwortet bleiben.

Der in es-Moll geschriebene letzte Abschnitt der Überleitung (T. 36–48) ›verarbeitet‹ motivisches Material aus T. 2 des Hauptthemas (Bsp. 3a). In dieser Form weist dieses motivische Material auffallende Ähnlichkeit mit einem Abschnitt der Durchführung des ersten Satzes des Tripelkonzertes, op. 56 (T. 299ff.), auf (Bsp. 3b). Noch bedeutender kann ein Vergleich mit der Motivik der Überleitung in der Orchesterexposition eines anderen Werkes der ›mittleren Periode‹ – des fünften Klavierkonzertes op. 73 (T. 29–36) – sein (Bsp. 3c), da es sich hierbei nicht nur um motivische Gemeinsamkeiten handelt, sondern auch um die Ähnlichkeit bei ihrer Verarbeitung sowie um die gleiche formale Position innerhalb der jeweiligen Komposition.

Im Unterschied zu den früheren Konzerten (vgl. WoO 4, T. 24; op. 19, T. 42; op. 15, T. 46) steht in op. 37 (T. 48f.) vor dem Seitenthema keine Pause. Wie in den später geschriebenen Konzerten ist das Thema mit dem vorhergehenden Abschnitt organisch verbunden. Solches Nichtvorhandensein einer ›klassischen‹ Zäsur vor dem Anfang des Seitenthemas ist auch in den Symphonien Beethovens zum ersten Mal in einem Werk zu finden, das in den Jahren 1801–2 entstanden ist – in der zweiten Symphonie, op. 36
(T. 73 des ersten Satzes). Dagegen hat die erste Symphonie, op. 21, an der entsprechenden Stelle noch eine Zäsur (T. 52 des ersten Satzes). Ein Vergleich der Harmonik dieser Überleitungsstelle mit ihrem komplexen Analogon aus op. 58 kann aber deutlich zeigen, daß die ›Lösung‹ dieser Stelle in op. 37 nur einen ›Weg zum Neuen Weg‹ darstellen kann: Während der Übergang im dritten Konzert aus einer für die Wiener Klassik typischen Akkordfolge besteht (Dominantdreiklang – Doppeldominante – Dominantseptakkord), wirkt diese Stelle im G-Dur Konzert (T. 27f.) mit ihrer doppelt plagalen Wendung harmonisch erfrischend: Von G-Dur wird nach a-Moll an dieser Stelle über folgende Akkorde moduliert: G-Dur – D-Dur – a-Moll – die Umkehrung eines (nicht nur) in der Wiener Klassik üblichen Modulationsweges.

AbbildungBeispiel 4a: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert c-Moll, op. 37, I. Satz, T. 50–53

AbbildungBeispiel 4b: oben: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert B-Dur, op. 19, I. Satz, T. 127–131 (Streicher), unten: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert C-Dur, op. 15, I. Satz, T. 47–52 (Streicher)

Der melodische Duktus des Seitenthemas von op. 37 (Bsp. 4a) steht denen aus den früheren Konzerten op. 19 und op. 15 (Bsp. 4b) so nahe, daß man in diesem Fall von einem frühen Seitenthementypus sprechen kann: Besonders zu vergleichen sind dabei der Rhythmus im ersten Takt und der vierfach wiederholte – und sogar auf gleiche Art artikulierte – Ton im dritten Takt des Themas, sowie – nur in op. 37 und op. 15 – die melodische Chromatik am Ende dieses kurzen Abschnitts (op. 37, T. 52f.; op. 15, T. 51f.). Die Ähnlichkeit des Seitenthemas von op. 37 mit dem Seitenthema einer »akkompagnierten Sonate« von Johann Franz Xaver Sterkel (1750–1817) (Bsp. 4c), die noch Arnold Schmitz (Schmitz 1923, 16) erkannte, macht die Klassizität des Seitenthemas noch deutlicher.

AbbildungBeispiel 4c: J.Fr.Sterkel: Seitenthema aus einer ›Akkompagnierten Sonate«, Klavier, rechte Hand

Im Gegensatz zur Melodik kündigt aber die Besetzung des Seitenthemas von op. 37 die späteren Konzerte an: Es ist das erste konzertante Seitenthema Beethovens, in dem Pauken und Trompeten (Topos!) – sogar im Piano – eingesetzt werden (T. 61ff.). In den Seitenthemen der späteren Konzerte werden diese Instrumente, besonders die Pauke, ebenfalls benutzt (s. op. 61, T. 43ff., T. 51ff.; op. 56, T. 41; op. 73, T. 49ff.). In allen genannten Fällen handelt es sich um das gleiche Vorgehen: die Bereicherung der Besetzung im Nachsatz des Seitenthemas. Auch Wolfgang Osthoff kommentiert die Instrumentierung dieser Stelle und schreibt von »typisch Beethovenschem strahlendem piano-Klang mit Trompeten und Pauken« (Osthoff 1965, 9).

Anders als bei dem oben besprochenen Übergang zum Seitenthema steht der Übergang zum nächsten Abschnitt – der ›Schlußgruppe‹ (T. 85) – in op. 37 den Parallelstellen aus den frühen Konzerten näher als denen aus dem später komponierten: Die Trennung zwischen den beiden Abschnitten ist markanter als in op. 58 (T. 50), op. 73 (T. 78), op. 61 (T. 77) und op. 56 (T. 52).

Der kanonartige Abschnitt am Ende der Orchesterexposition von op. 37 (T. 104ff.) weist Parallelen mit der Endung der ersten Exposition von op. 15 (T. 99ff.) auf: Nicht nur die polyphone ›Verarbeitung‹ des motivischen Inhalts des ersten Themas ist den beiden Konzerten gemein, sondern auch die Orchestersituation: Den Kanon fangen in den beiden Konzerten die Bläser an, während sich die Streicher im nachfolgenden Takt anschließen. Diese entschlossene Gestik unterstreicht noch zusätzlich den ›klassischen‹, selbständigen Charakter der ersten Exposition.

Solo 1 – Die Soloexposition

Die Getrenntheit des ersten Solos und ihre Bedeutung wurden oben bereits besprochen. Das Ende der Orchesterexposition, so ›heroisch‹, wie es uns wegen seines motivischen Inhalts (und nicht zuletzt wegen der c-Moll-Tonart) erscheinen mag, ist in seiner harmonischen und dynamischen Entschlossenheit, sich vom ersten Solo zu trennen, ein transformiertes Merkmal des ›Alten Weges‹. Dies ist aber vom ersten Soloauftritt (T. 111ff.) nicht zu behaupten. Wie in den meisten späteren Konzerten Beethovens (op. 73, T. 111; op. 61, T. 102; op. 56, T. 77), so setzt der Solist auch hier mit dem Hauptthema der Orchesterexposition ein, und wie in op. 73 und op. 61 wird das Hauptthema erst nach einer Passageneinleitung vorgetragen (op. 73, T. 106–110; op. 61, T. 89–101). Eine weitere bedeutende Parallele zu den späteren Konzerten besteht darin, daß diese Passagen einen motivischen Wert haben: Sie wiederholen sich im ähnlichen Kontext am Anfang der Durchführung. Der Unterschied zwischen op. 37 und opp. 73 und 61 ist aber bedeutend: Während die Einleitungspassagen in op. 73 und op. 61 piano gespielt und vom Orchester begleitet werden und dadurch gerade dazu beitragen, daß das Hauptthema der Soloexposition organisch mit der Orchesterexposition verbunden wird, trennen die forte vorgetragenen Skalen von op. 37 das Solo 1 von der Orchesterexposition so deutlich wie nur möglich. Auch an diesem Beispiel ist die Verflechtung der Charakteristika der beiden ›Stile‹ Beethovens in seinem dritten Klavierkonzert deutlich zu sehen: Neue Inhalte werden eingeführt, dabei aber nicht den Bezug zu den Grundideen der früheren Praxis verlierend. Daraus entsteht – gerade an dieser Stelle ist das gut ersichtlich – ein Stil sui generis: Es wäre mehr als problematisch, die dramatischen c-Moll-Eingangsskalen eindeutig als Merkmal eines der beiden ›Stile‹ zu bezeichnen.

Ein Novum im Bereich des Klaviersatzes im Hauptthema der Soloexposition sind die Oktaven in beiden Händen: Obwohl diese Technik in den Klaviersonaten schon in op. 2 anzutreffen ist (z.B. op. 2, Nr. 3, I. Satz, T. 115ff.), wird sie in den Klavierkonzerten vor op. 37 nicht angewendet. Tatsächlich ist aus dem Autograph ersichtlich, daß sich Beethoven nicht gleich für diese Option entschieden hat, sondern die Stelle mehrmals überarbeitet hatte. Neu für den Vortrag eines konzertanten Hauptthemas ist ebenfalls die Polyrhythmik aus T. 122ff., die auch im Autograph an dieser Stelle noch nicht zu finden ist: Dort stehen in der linken Hand Achtel, nicht Triolenachtel wie in der letzten Version (Bsp. 5). Eine ähnliche Situation trifft man später in T. 195 an. Am Beispiel des Hauptthemas der Soloexposition sehen wir also zwei Elemente – Oktaven in beiden Händen und Polyrhythmik –, die eine neue Qualität des Klaviersatzes produzieren; diese tauchen aber nicht ex nihilo auf, sondern sind offensichtlich das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses.

AbbildungAbbildungBeispiel 5: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert c-Moll, op. 37, I. Satz, Autograph. (Reproduktion mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabt. mit Mendelssohn-Archiv)

Die virtuosen Soloabschnitte der Überleitung (T. 140ff., 154ff.) sind in op. 37 kürzer und rhythmisch weniger komplex als die aus den Soloexpositionen von op. 58 (T. 97ff., 109ff.) und op. 73 (T. 120), in denen Beethoven wiederholt von Triolen-, Quintolen- und Septolensechzehnteln Gebrauch macht. Man begegnet an diesen Stellen auch der Polyrhythmik (op. 58, T. 108ff.). Die entsprechenden Abschnitte aus op. 37 (T. 132ff., 154ff.) kennen dagegen lediglich Sechzehntelnoten und Triolenachtel. Polyrhythmik ist an den virtuosen Stellen nicht anzutreffen, jedoch aber im liedhaften Teil der Überleitung (T. 146ff.). Besondere Ähnlichkeit besteht zwischen den Passagen an den jeweiligen Überleitungsanfängen von op. 37 (T. 140ff.) und op. 15 (T. 119ff.). Auch das konzertante Dialogisieren zwischen Solist und Orchester ist den beiden Stellen gemein (jedoch überwiegt diese Eigenschaft generell bei weitem im Konzert op. 15, wie auch Hartmut Hein feststellt, Hein 2001, 224).

Andererseits sind einige Merkmale der entsprechenden Abschnitte früherer Konzerte in der Überleitung von op. 37 nicht mehr zu finden, so zum Beispiel der Alberti-Baß als Begleitung von virtuosen Passagen (vgl. op. 19, T. 109, 112f.) oder das chromatische Sechzehntelpendeln auf- und abwärts über einem liegenden Ton – Techniken, die in Beethovens frühen Konzerten und in der früheren Wiener Klassik häufig vorkommen (vgl. op. 19, T. 114ff.; op. 15, T. 126ff., 145ff.). Ein wichtiges, in op. 37 zum ersten Mal eingeführtes Element des Klaviersatzes in einem schnellen Satz eines Klavierkonzertes sind die virtuosen Parallelsextakkorde in Sechzehnteln in T. 156ff. (vgl. z.B. mit op. 73, T. 118f., 562ff.).

Wie das Hauptthema, ist auch das Seitenthema des ersten Satzes von op. 37 den beiden Expositionen gemein, ein Verfahren, das Beethoven bereits in op. 15 einführt. Zum ersten Mal aber wird das Thema in op. 37 zuerst vom Solisten vorgetragen (vgl. WoO 4, T. 86ff.; op. 19, T. 127ff.; op. 15, T. 154ff.; op. 37, T. 164ff.); diese Vorgehensweise wiederholt Beethoven in op. 73 (T. 151ff.). Ein ziemlich offensichtliches Merkmal des ›frühen Stils‹ ist aber die harmonische Basis des Themas: Es steht in der für Moll-Kompositionen üblichen Paralleltonart Es-Dur. In den früheren Konzerten ist die harmonische Situation des Seitenthemas in der Soloexposition vergleichbar: Im B-Dur-Konzert steht das Seitenthema in F-Dur (T. 128ff.), im C-Dur-Konzert steht es in G-Dur (T. 155ff.). Daß die Seitenthemen der späteren Konzerte in entfernteren Tonarten stehen, ist bekannt: Im G-Dur Konzert ist das in der Soloexposition d-Moll (T.138ff.), im Es-Dur Konzert (T. 151ff.) h(ces)-Moll (allerdings anschließend nach B-Dur modulierend). Der Klaviersatz des Seitenthemas, besonders die Begleitfiguration in der linken Hand nach T. 168, ist weniger konservativ als der in den früheren Konzerten: Die Akkordbrechungen in der linken Hand erstrecken sich über beinahe zwei Oktaven (c-b'), die Oktavsprünge in T. 170 überschreiten auch diese Grenze – eine Begleitung des Seitenthemas, wie sie die frühen Konzerte nicht kennen (vgl. WoO 4, T. 90ff.; op. 19, T. 136ff.; op. 15, T. 163ff.). Darüber hinaus spielt die rechte Hand unter anderem auch dreistimmig, was in den frühen Konzertseitenthemen nicht anzutreffen ist. Auch dafür hat sich Beethoven nicht gleich entschieden: Im Autograph kann man sehen, daß die unteren Akkordnoten später hinzugefügt wurden und die rechte Hand ursprünglich einstimmig zu spielen hatte. Die Dynamik dieses Seitenthemas ist auch eine Neuheit: Es ist das erste Seitenthema in einem Konzert Beethovens, in dem das Orchester forte – sogar sforzato – spielt (T. 177ff.), was in den Konzerten op. 73 (T. 166ff.) und op. 61 (T. 164, in der Orchesterexposition T. 63) wieder geschieht: Das Beethovensche konzertante Seitenthema ist ab op. 37 nicht mehr (nur) der lyrische Gegenpart des Hauptthemas, sondern folgt der inneren Dynamik des musikalischen Geschehens, die nicht mehr nur von dem Gattungsspezifischen abhängig ist.

In T. 199 beginnen, begleitet vom Orchester, die das erste Solo abschließenden virtuosen Solopassagen. Von der virtuosen Ebene des Klaviersatzes dieses Abschnittes läßt sich ähnliches sagen wie von dem Klaviersatz im Überleitungsabschnitt vor dem Seitenthema: Er ist komplexer als der an den entsprechenden Stellen der frühen Klavierkonzerte, nicht aber so komplex wie die virtuosen Abschnitte aus opp. 58 und 73 (s. oben). Es ist wichtig, als neue Eigenschaft von op. 37 hervorzuheben, daß der Solist in der linken Hand während dieser Passagen das ›Pochmotiv‹ aus dem Hauptthema vorträgt (T. 201f., 212ff., 217ff.) und somit diese früher vorwiegend der Virtuosität überlassene Stelle zu einem für den thematischen Prozeß wichtigen Abschnitt des Werkes macht. Um das Zukunftsweisende dieses Verfahrens in op. 37 zu verstehen, sollte man es mit der entsprechenden Stelle aus op. 73 vergleichen (T. 184ff.), wo Virtuosität und ›motivische Arbeit‹ eng miteinander verbunden sind. In op. 37 weisen sogar die Passagen in der rechten Hand eine Ähnlichkeit mit dem melodischen Duktus des ersten Viertakters des Hauptthemas (vgl. T. 199f. mit T. 1–4) auf.

Das Verhältnis von Solo und Orchester und die Qualität der orchestralen Nicht-nur-Begleitung ist, im Vergleich mit den früheren Konzerten, ebenfalls neu. Während die früheren Konzerte in den jeweils entsprechenden Abschnitten einen vorwiegend begleitenden Orchestersatz aufweisen, basiert der Orchesterpart in op. 37 auf dem ›Pochmotiv‹ aus dem Hauptthema, in dieser Hinsicht Beethovens spätere Vorgehensweise ankündigend. Die wachsende Rolle des zentralen Motivs des Hauptthemas wird sich in der Durchführung, der Reprise und der Coda noch deutlicher manifestieren.

Wie die vorausgegangene Analyse zeigte, weicht das erste Solo – im Vergleich mit den anderen Konzerten – nur wenig von dem ersten Tutti ab: Nicht nur das Haupt- und das Seitenthema sind dem Tutti 1 und dem Solo 1 gemein, sondern auch ein großer Teil von Überleitungs- und Schlußabschnitten. Dies scheint ein Charakteristikum von op. 37 zu sein, das, obgleich dort mit komplexeren Ausdrucksformen verbunden und in jeweils individueller Konzeption, auch für die späteren Konzerte von Bedeutung ist. Auch die wachsende Rolle des Materials des ersten Themas sollte als ein Merkmal des ›Neuen Weges‹ im Hinblick auf Beethovens Verständnis der Motivik verstanden werden.

Tutti 2

Der Übergang zum zweiten Tutti ist der erste dieser Art bei Beethoven: Nach dem hier noch immer präsenten Triller auf der Dominante führt eine virtuose, rhythmisch sehr frei organisierte, in der letzten Version des Werkes viereinhalb Oktaven lange absteigende Passage in das Tutti. Der ›Dominanttriller‹ ist als Endungsform von Soloabschnitten in den späteren Konzerten nicht mehr anzutreffen, obwohl eine Andeutung davon am Ende des ersten Solos von op. 58 zu finden ist (T. 166–169) sowie in einer komplexen und geistreichen Form in op. 56 (T. 223f.), eine Wendung, die Plantinga »jolly burlesque of the old convention« nennt (Plantinga 1999, 345, Anmerkung 53 zu Seite 156). Der virtuose Übergang zum zweiten Tutti in op. 37 steht deutlich zwischen den ›klassischen‹ Triller-Lösungen und der entsprechenden Stelle aus op. 73, wo zweihändige polyrhythmische Passagen in das zweite Tutti führen (T. 225ff.).

Im zweiten Tutti ist die harmonische Wende nach g-Moll, auf dessen Dominante das Tutti endet (T. 250), ein – ziemlich offensichtliches – Novum in Beethovens Konzerten: Alle drei vor op. 37 entstandenen Konzerte haben ein zweites Tutti, das in der Tonart der Soloexposition abschließt. Zwar hat das zweite Tutti von op. 15 nach einer mehrmals bestätigten G-Dur-Schlußkadenz und einer Pause (T. 256) einen fortsetzenden Abschnitt, der nach Es-Dur moduliert; diese Fortsetzung ist aber von dem Tutti entschieden getrennt; jedoch ist diese Wendung eine Ankündigung des in op. 37 anzutreffenden Verfahrens. Die nach op. 37 komponierten Konzerte, mit Ausnahme von op. 58, haben modulierende zweite Tutti. Ezra Gardner Rust wollte in seiner Dissertation das Neue des modulierenden zweiten Tutti von op. 37 relativieren: »Though new to Beethoven’s concertos, a modulatory second tutti is not the innovation Tovey claims [Fußnote im Original: »Vol. III, p. 72«, bezieht sich auf Tovey 1936]. Mozart accomplished the same fete in his Concerto in B-flat, K. 595, with an effect far more startling – with its juxtaposition of B minor against C major – though less energetic than in the case of Beethoven« (Rust 1970, 219). Eigentlich ist aber die Situation im zitierten Konzert Mozarts eher mit der Lage in op. 15 vergleichbar, denn beide Tutti modulieren erst nach einer deutlichen authentischen und vom nachfolgenden modulierenden Teil klar getrennten Kadenz in der Dominanttonart, im Unterschied zu dem Tutti aus op. 37, das gleich am Anfang mit dramatischer Entschlossenheit moduliert und dadurch tatsächlich ein Novum in der konzertanten Literatur darstellt. Aus einem die Exposition abrundenden Tutti wurde in op. 37 ein Abschnitt des Kopfsatzes, der eine wahrhafte Überleitung zur Durchführung darstellt, aber nach seiner Struktur auch dieser nicht zugeordnet werden kann. Hier kann in der Tat von der ›funktionalen Ambiguität eines Formteils‹ (obwohl in anderem Zusammenhang als in den Dahlhausschen Analysen) die Rede sein.

Thematisch beginnt das zweite Tutti von op. 37 mit einem Material (T. 227), das vom Schlußabschnitt der Orchesterexposition (T. 99) stammt und das auf der Motivik des Hauptthemas basiert. Nach der Modulation nach g-Moll wird dann (T. 237) der letzte Abschnitt der Überleitung (T. 36) aus dem ersten Tutti wiederholt. Robert Forster vergleicht hinsichtlich des thematischen Aufbaus des zweiten und dritten Tutti die frühen Konzerte mit op. 37: Im letzteren »handelt es sich um den einzigen Kopfsatz Beethovens, in dem Mitteltutti und Kadenztutti auf ganz verschiedenen Ritornellteilen des Anfangstuttis basieren – ein bei Mozart durchaus häufiger, geradezu typischer Fall […]. Op. 19 und op. 15 sind damit aus verschiedenen Gründen nicht vergleichbar. In op. 19 ist das Kadenztutti neugebildet, übernimmt also keine Ritornellfunktion. In op. 15 entstammen Mitteltutti und Kadenztutti ein und demselben Geschehenszusammenhang des Anfangstuttis, den sie jeweils in Ausschnitten, auf die jeweilige tonale und formale Situation bezogen, als Ritornell neu zur Geltung bringen« (Forster 1992, 117). So richtig, wie diese Beobachtung hinsichtlich des Verhältnisses des zweiten und dritten Tutti zueinander und gemeinsam zum ersten Tutti ist, bedarf sie im Rahmen dieser Analyse einer Ergänzung im Hinblick auf das Mitteltutti allein: Dieser Abschnitt in op. 37 ist offenkundig von demselben Aufbautypus wie der von op. 15: Auch im C-Dur-Konzert beginnt das zweite Tutti (T. 237ff.) mit einem Abschnitt, der im ersten Tutti nach dem Seitenthema vorgetragen wird (T. 72ff.) und auf der Motivik des Hauptthemas basiert, wonach (T. 249ff.) eine Wiederholung des letzten Überleitungsabschnitts (im ersten Tutti T. 38ff.) folgt.

Obwohl jedes von den Klavierkonzerten an dieser Stelle deutliche individuelle Merkmale trägt, die Forster in seiner Dissertation gut erkennt und hervorhebt (Forster 1992, 71–121), sind hinsichtlich des thematischen Aufbaus des zweiten Tutti grundsätzlich drei Typen erkennbar. Diese Typisierung, die sich auch mit der chronologischen Ordnung deckt und dadurch für diese Stilanalyse besonders von Bedeutung ist, soll aber nicht die Möglichkeiten verschiedener Interpretationen innerhalb eines Typus ausschließen:

  1. WoO 4 (T. 131–141) und op. 19 (T. 198–213, vgl. mit T. 63–90): variierte und verkürzte Übertragung des thematischen Materials von Schlußabschnitten der Orchesterexposition. In op. 19 wird am Anfang des zweiten Tutti ein neues motivisches Material (das mit dem Hauptthema verwandt ist) als ›Kontrapunkt‹ in den Violinen I vorgetragen. Ansonsten wird die Reihenfolge aus dem ersten Tutti beibehalten.

  2. opp. 15 und 37 (Taktangaben s. oben): Zusammensetzung aus verschiedenen, ursprünglich getrennt erscheinenden Teilen der Orchesterexposition mit umgekehrter Reihenfolge; innerhalb dieser Abschnitte gibt es weder wesentliche Kürzungen noch Variieren.

  3. op. 58 (T. 174–192, vgl. mit T. 54–74) und op. 73 (T. 226–263, vgl. mit T. 62–110): eine nahezu taktgenaue Übertragung von Schlußabschnitten der ersten Tutti; kleinere Kürzungen werden vorgenommen, aber kein Variieren (op. 58, op. 73).

Das zweite Tutti von op. 37, zusammen mit dem aus op. 15, steht in dieser Hinsicht in der Mitte eines (tatsächlichen) dialektischen Zirkels: Am Anfang dieses Zirkels stehen die zweiten Tutti aus frühen Konzerten mit ›folgerichtigen‹, aber wesentlich gekürzten und variierten Wiederholungen. Die ›Antithese‹ des ersten Tutti-Typus bilden dann die zweiten Tutti aus opp. 15 und 37, in denen die jeweils wiederholten Expositionsteile nicht variiert und in umgekehrter Reihenfolge vorgetragen werden. Die ›Synthese‹ stellen in diesem Kontext die Tutti aus opp. 58 und 73 dar, in denen die Schlußabschnitte des ersten Tutti zwar, wie in den frühesten Konzerten, ›folgerichtig‹ wiederholt werden, aber, wie in opp. 15 und 37, ohne wesentliche Änderungen, allenfalls ohne klassizistisches Variieren und Hinzufügen von neuem motivischem Material, das für WoO 4 und op. 19 charakteristisch ist. Das motivische Material und seine Bedeutung für das Werk werden hier ›ernster genommen‹ und kompositorisch teilweise neu definiert.

Solo 2 – Die Durchführung

Die wachsende Rolle der Motivik ist in der Durchführung des Kopfsatzes von op. 37, der proportional kürzesten in Beethovens Konzerten (s. Tabelle 2), gewiß eine ihrer markantesten Eigenschaften, die für das Erkennen und Verstehen der Entwicklung Beethovens von erheblicher Bedeutung ist. In op. 37 basiert der größte Teil der Durchführung auf dem motivischen Inhalt des Hauptthemas. Nur wenige Takte der ganzen Durchführung sind frei von Motiven, die nicht eine klare und direkte Verbindung zum Hauptthema aufweisen. Die Herkunft des motivischen Inhalts aus dem Hauptthema ist meistens eindeutig, außer vielleicht in T. 282, 284 und 286–288 (Orchester), wo es sich um die ›Verarbeitung‹ des aus dem zweiten Achttakter (T. 10, 12, 14) des Hauptthemas abgeleiteten Synkopen-Motivs handelt. Ansonsten spielt das ›Pochmotiv‹ die führende Rolle und neben ihm auch das Motiv des ersten Zweitakters aus dem Hauptthema.

Dieses – auch für opp. 58 und 73 (vgl. op. 58, T. 192–196, 204–216, 231–239, 248–251; op. 73, T. 276–311, 313–329, 332, 338, 342, 353–362) und für zahlreiche andere Werke des ›mittleren Beethoven‹ – so charakteristische Verfahren ist ansatzweise schon in op. 15 zu finden (T. 284f., 288f., 292ff., 334ff. – die letztgenannte Stelle bereitet das Tutti 3 vor, was auch an entsprechender Stelle in op. 19 geschieht, vgl. op. 19,
T. 281ff.).

Die Behandlung des Klaviers als Soloinstrument und das Verhältnis zwischen Solo und Orchester ist in diesem Konzert auch ein Novum, das von Konrad Küster (Küster 1994, 123f.) und Hartmut Hein (Hein 2001, 226–228) treffend beschrieben wurde. Hein unterstreicht die Wichtigkeit des Pauken-Einsatzes am Ende der Durchführung (T. 292ff.), der die orchestrale Situation in der Coda »vorankündigt«: Dieses Instrument tritt in op. 37 hier zum ersten Mal »quasi solistisch« auf (Hein 2001, 227) und trägt dabei gerade das Hauptmotiv des Konzertes vor. Küster betont die Tatsache, daß der Klavierpart mit Ausnahme von zwei Stellen (T. 269f. und 307f.) durchweg in Oktaven angelegt ist; wenn Beethoven – der ›Neue‹ – also ein Konzert schreibt, »entsteht keine Klaviersonate mit Orchesterbegleitung« (Küster 1994, 124), aber auch keine ›Sinfonie mit Klavier‹. »So pauschal«, schreibt Küster, »sollte man Beethovens Technik hier […] nicht sehen: Es geht ihm wohl eher um ein reines Ausbauen der Solokonzert-Gegebenheiten und um das Ausnutzen bestehender Freiräume […]. Und obendrein ist bemerkenswert, wie Beethoven diese Klavier-Klangfülle dem Orchester entgegenstellt: Für den Pianisten schreibt er ›piano‹ vor – und auch das Wesentliche, was das Orchester zu sagen hat, sind piano-Elemente (wie eben der Pauken-Abschnitt nach der Solokadenz). Es geht ihm folglich um eine spezifische Differenziertheit des Klangs, nicht um eine neue Massivität, die er sich mit den Klavieroktaven und den erweiterten Orchesterfunktionen ebenso hätte erschließen können. Eine Musik für Kenner – das Besondere erlebt nur, wer aktiv zuhört« (ebd.). So ›neu‹, wie uns aber die Behandlung des Klavierparts in der Durchführung scheint, steht er in einer Hinsicht den früheren Konzerten nahe: Sowohl in opp. 19 und 15 als auch in op. 37 ist die Tendenz erkennbar, den Klavierpart erst am Ende der Durchführung virtuos zu gestalten. Diesem virtuosen Abschnitt geht eine rhythmische Gradation voraus: Im ersten Teil der Durchführung dominieren Achtelnoten und längere Notenwerte (T. 256–278), danach Triolenachtel (T. 281–290) und erst von T. 295 bis zum Ende der Durchführung (T. 308) die Sechzehntel. Einen vergleichbaren rhythmischen Aufbau der Durchführung weist gerade op. 19 (T. 213–272, 273–284) auf; in op. 15 (T. 266–345) sind Sechzehntel noch seltener. Dagegen sind die Durchführungen der späteren Konzerte von Anfang an virtuoser.

Der relativ kurze virtuose Sechzehntelabschnitt am Ende der Durchführung von op. 37 (T. 295ff.) unterscheidet sich aber grundlegend von den virtuosen Abschnitten an den entsprechenden Stellen aus den früheren Konzerten: Während sich diese größtenteils auf Tonleitern und Akkordbrechungen beschränken, besteht der Schlußabschnitt der Durchführung von op. 37 aus in zwei Händen ›konsekutiv‹ aufgelösten Oktaven, deren Linie auf Akkordbrechungen basiert. Oktaven ähnlicher Art sind ein wichtiges Merkmal auch der virtuosen Passagen der Durchführung von op. 73 (T. 281–283, 289–291). Die Parallele wird dadurch noch klarer, daß das Orchester an beiden Stellen gleichzeitig die Motive aus den jeweiligen Hauptthemen vorträgt. Der Abschnitt endete ursprünglich mit einer chromatischen Tonleiter aufwärts (T. 305f.), Beethoven entschied sich aber am Ende für die Fortsetzung der in aufgelösten Oktaven vorgetragenen Akkordbrechung, die hier mit der Motivik des Hauptthemas (vgl. T. 1) verbunden ist und dadurch zur thematischen Dichtheit der Durchführung beiträgt.

Der Klaviersatz der Durchführung des ersten Satzes von op. 37 ist auch ein interessantes Beispiel der Untrennbarkeit der Merkmale des ›frühen‹ und des ›mittleren Stils‹ Beethovens: Obwohl seine Struktur und sein Verhältnis zum Orchesterpart durchaus neue Elemente aufweisen, steht die formal-rhythmische Organisation des Abschnitts in der Tat den früheren Konzerten näher als den späteren – ein Zustand, dem im Rahmen dieser Analyse in verschiedenen Zusammenhängen schon mehrmals begegnet wurde.

Die Beendigung der Durchführung im Kopfsatz von op. 37 durch eine virtuose Solopassage (T. 308) ist ein Merkmal auch der Konzerte der frühen Wiener Periode (vgl. op. 19, T. 284 – die Passage ist hier allerdings steigend – und op. 15, T. 344f.). Auch in WoO 4 (T. 184f.) ist der Solist – allerdings nicht durch virtuose Passagen – an der Schlußbildung der Durchführung beteiligt. Die Durchführungen in den Klavierkonzerten der mittleren Periode werden dagegen vom Orchester allein abgeschlossen (op. 58, T. 251ff.; op. 73, T. 356–361).

Werk

WoO 4

op. 19

op. 15

op. 37

op. 58

op. 73

op. 61

op. 56

Solo 2
(Durchführung)

16,67 %

17,75 %

18,62 %

13,31 %

16,49 %

16,87 %

14,95 %

15,44 %

Tabelle 2: Anteil der Länge der Durchführung an der Gesamtlänge der Kopfsätze in Prozent

Die Durchführung von op. 37 ist die kürzeste in den Konzert-Kopfsätzen Beethovens (s. Tabelle 2). Darin steht ihr die Durchführung von op. 61 am nächsten. Jedenfalls ist die Proportion mit den Konzerten der ›mittleren‹ Periode etwas vergleichbarer als mit den früher entstandenen. Diese Kürze betont die Dichtheit des thematisch-motivischen Prozesses bedeutend. In keiner anderen konzertanten Durchführung Beethovens ist der motivische Inhalt des Hauptthemas so dominant wie in op. 37.

Tutti 3, Solo 3 – Die Reprise

Die wichtigste in der Reprise vollzogene Änderung – neben den üblichen harmonischen Anpassungen – ist die Änderung des Hauptthemas und des darauffolgenden Überleitungsabschnitts. In allen Klavierkonzerten Beethovens, außer in op. 19 und op. 58, wird die Änderung dadurch vollzogen, daß der Nachsatz des Hauptthemas und der erste Teil der Überleitung ausgelassen werden. In op. 37 und op. 73 tritt an dieser Stelle die Motivik des Hauptthemas ein (in op. 37 ist es wieder das ›Pochmotiv‹, T. 317ff.; in op. 73 s. T. 383ff.). In op. 37 kommt das ›Pochmotiv‹ sogar während der Überleitung zum Seitenthema noch einmal zum Ausdruck (T. 324f.). Das in op. 37 eingeführte neue Modell des Reprisenanfangs übertrifft in seinem Insistieren auf dem ›Hauptmotiv‹ des Satzes die entsprechende Stelle in op. 73. So ist ein großer zentraler Teil des Konzerts, von den Schlußpassagen im Solo 1 (T. 199) bis zum Ende der Überleitung vor dem Seitenthema in der Reprise (T. 335) von der aus dem Hauptthema stammenden Motivik geprägt – ein Novum in (nicht nur) Beethovens Konzerten.

Der Rest der Reprise wiederholt die solistische Exposition bis zum Kadenztutti ohne für diese vergleichende Analyse wichtige Änderungen.

Das Kadenztutti und die Coda

Das dritte Tutti, die Kadenz und die Coda sind ausführlich in Heins Dissertation (Hein 2001, 235ff.) beschrieben und analysiert worden, und besonders in der von Forster (Forster 1992, 116–129), deren zentrales Thema die Konzert-Schlußbildung ist. Über die Rolle der Kadenz schreibt Hein: »Die Kadenzeinlage kann nicht mehr als reine Rekapitulation und Fantasie über das motivisch-thematische Material aufgefaßt werden, sondern als Aufforderung zu einer bestimmten Strukturbildung auch innerhalb des improvisierten Solo-Schlusses, die auf das Modell des vorhergehenden Tutti-Abschnitts und den Ausgang in Richtung Coda Bezug nimmt, also prozessual auf die anschließende Coda ausgerichtet sein muß: Die auskomponierte Kadenzeinlage Beethovens schreibt ein solches Modell fest – ein Schritt zur generellen Festlegung aller solistischen Anteile am Schlußkomplex dann im Kopfsatz des Klavierkonzerts Opus 73 (›Non si fa una Cadenza‹)« (Hein 2001, 231, Fußnote 357 zu S. 230). Diese Beobachtung ist sicherlich richtig, da aber die vorliegende Analyse am Beispiel von op. 37 versucht, den Stilwandel im Schaffen Beethovens in einer früheren Entwicklungsphase zu beleuchten, wird die im Jahr 1809 entstandene Solokadenz (s. Schmidt 1994, 300), die also sogar später komponiert wurde als das vierte Klavierkonzert, aus der Analyse ausgeschlossen.

Das Kadenztutti (T. 403–416) von op. 37 basiert auf dem Material des Hauptthemenkerns, das auch den Komplex des Seitenthemas in der Orchesterexposition abschließt. Forster weist auf den »Sinnzusammenhang« zwischen dem Kadenztutti und der Coda hin: Im Kadenztutti wird der Anfang des Hauptthemas ohne ›Pochmotiv‹ vorgetragen, dem dann in der Coda eine Schlüsselrolle zugeteilt wird: »Anstelle eines schlußkräftigen Tuttiritornells, das man als Vollendung des vom Kadenztutti angebrochenen Kadenzvorgangs und gewissermaßen als ›Damm‹ gegen die in der Quartsextfermate geöffnete Schleuse erwarten mag, erklingt lapidar, von einem gespenstisch fahlen C-Dur der Streicher (vgl. auch T. 403ff.!) beleuchtet, jener Teil des Hauptmotivs, dessen Fehlen Ursache der ruhelosen, instabilen Dreitaktstruktur des Kadenztutti war; er erscheint nun als Antwort auf die in der Quartsextfermate gipfelnde Offenheit und Unentschiedenheit des Kadenztuttis« (Forster 1992, 122). Diese Lösung sei »in ihrer (im ersten Augenblick schauerlich, aber auch ironisch wirkenden) Lakonik einerseits und in ihrer vielschichtigen Bedeutungstiefe andererseits ohne Beispiel in der gesamten Konzertliteratur« (ebd., 121). Dieses Zitat illustriert, wie schwer es wäre, das kompositorische Vorgehen hinsichtlich des »Sinnzusammenhangs« am Ende des Kopfsatzes von op. 37 komparativ-stilistisch zu definieren: Es ist sicherlich ein vom Gedankengang Beethovens in den früheren Konzerten weit entfernter – aber auch in seiner Originalität unwiederholbarer Einfall.

Wenn hier die Wahl der Thematik für das Kadenztutti besprochen werden soll, so begegnet man wieder der Problematik aus dem Abschnitt dieser Analyse, der dem zweiten Tutti gewidmet war. Robert Forster weist zu Recht darauf hin, daß in op. 15 das Mitteltutti und Kadenztutti »ein und demselben Geschehenszusammenhang des Anfangstuttis« (ebd., 117; s. auch oben unter ›Tutti 2‹) entstammen und daß daher diese Lösung mit der Situation in op. 37 hinsichtlich der beiden Tutti – und wohl erst recht der Coda – nicht zu vergleichen ist. Es wurde in dieser Analyse bereits gezeigt, daß sich das auf Tutti 2 vereinzelt nicht bezieht, und ähnliches gilt auch für das Kadenztutti: Sowohl in op. 37 als auch in op. 15 besteht dieses Tutti (T. 452–465) aus motivischem Material des Hauptthemas (T. 1) in der das zweite Thema in der Orchesterexposition abschließenden Form (T. 72–85). Allerdings handelt es sich hier, wie auch Forster betont, um denselben Abschnitt, der auch für den Anfang des zweiten Tutti benutzt wurde.

Die Vorbereitung der ›Kadenzfermate‹ weist eine für diese Stilanalyse wichtige Gestik auf, die aus den frühen Konzerten stammt: Sowohl in op. 19 (T. 388f.) und op. 15 (T. 458–463) als auch in op. 37 (T. 412–415) sind die in der früheren Klassik in diesem Zusammenhang üblichen (doppel)punktierten Rhythmen, die die Solokadenz beinahe rituell ankündigen, anzutreffen, was in den späteren Klavierkonzerten nicht der Fall ist (vgl. op. 58, T. 341–346; op. 73, T. 485–497; die punktierten Rhythmen in op. 73 haben eine ganz andere Rolle – sie entstammen dem Hauptmotiv des Satzes).

Werk

WoO 4

op. 19

op. 15

op. 37

op. 58

op. 73

op. 61

op. 56

Coda

5,30 %

1,50 %

2,93 %

6,09 %

6,49 %

14,63 %

4,67 %

11,49 %

Tabelle 3: Anteil der Länge der Coda an der Gesamtlänge der Kopfsätze in Prozent

Die Coda von op. 37 ist im Verhältnis zum gesamten Satz wesentlich länger als die Codas von opp. 19 und 15 (s. Tabelle 3). Dies ist naturgemäß mit ihrer Konzeption, die sie von denen der Codas der früheren Konzerte deutlich abhebt, verbunden. Diese Coda wurde so oft als ein den neuen ›Stil‹ Beethovens ankündigender Abschnitt von op. 37 besprochen, daß diese Analyse sich hier auf nur einige Bemerkungen einschränken läßt. Das allzu Offensichtliche – die harmonische Instabilität des Anfangs (Zwischendominante der Subdominante statt Tonika), die Anwesenheit des Solisten und sein Vortragen nicht nur von Solopassagen, sondern auch vom motivischen Material des Hauptthemas – sei hier nur erwähnt. Der Einfluß von Mozarts KV 491 auf diese Coda wurde in der Literatur auch wiederholt betont, aber auch die unterschiedliche Behandlung des Solos in diesen beiden Werken. Dieser Einfluß soll in diesem Kontext wirklich als ›Einfluß von KV 491‹ und nicht als ›Mozarts Einfluß auf Beethoven‹ interpretiert werden, da man sonst zu simplifizierenden Schlußfolgerungen hinsichtlich des ›Stils‹ in op. 37 kommen könnte. Der solistische und thematisch relevante Auftritt der Pauke am Anfang der Coda (T. 417), angekündigt, wie Hein bemerkt (Hein 2001, 227), schon am Ende der Durchführung (T. 292, 294), ist auch ein bekanntes und vielzitiertes zukunftsweisendes Merkmal dieser Coda (verglichen etwa mit der Rolle dieses Instrumentes im Kopfsatz des Violinkonzerts, in der siebten und der Neunten Symphonie etc.). Der relevanteste Vergleich des Pauken-Einsatzes am Ende von op. 37 mit einem Werk der ›mittleren Periode‹ wäre wohl der mit dem Einsatz der Pauke im Rondo des fünften Klavierkonzerts, op. 73 (T. 484ff.), wo das Klaviersolo ebenfalls Piano-Passagen spielt, während die Pauken eines der wichtigsten Motive des Satzes vortragen (selbstverständlich ist aber die ›Atmosphäre‹ und die Rolle dieses Abschnittes innerhalb des gesamten Satzes eine ganz andere als in op. 37). Man kann, ohne sich auf weitere Analysen einzulassen, die keine andere Wahl hätten, als das vorher vielmals Analysierte zu wiederholen, behaupten, die Coda sei ein Wegweiser zum ›neuen Beethoven‹. Es ist aber nur selbstverständlich, daß die Codas in den späteren Konzerten – trotz formeller Ähnlichkeiten (Präsenz des Solisten, Länge) – nicht in allen Segmenten den gleichen Weg gehen wie die aus op. 37.

Es soll in diesem Zusammenhang noch betont werden, daß der virtuose Klaviersatz in der Coda von op. 37 einfacher ist als der in den Codas der späteren Konzerte: In op. 37 begegnet man entweder in Oktaven gespielten Akkordbrechungen (T. 418–424, 437f.) oder Tonleitern (T. 439f.). Die virtuosen Passagen aus den Codas von opp. 58 und 73 sind bedeutend komplexer (vgl. op. 58, T. 351–355, auch 361–366; op. 73, T. 532–582). In der Coda verbindet sich also das ›Neue‹ in der Grundidee und der Gesamtkonzeption des Abschnittes mit dem ›Alten‹ im Klaviersatz.

Der Satz endet mit wiederholt steigenden – nun unaufhaltsamen – c-Moll-Tonleitern, dem ›Motto‹ vor dem Anfang des Hauptthemas in der Soloexposition, das auch als Eingang in die Durchführung gedient hat: noch ein Vorgang, der die thematische Homogenität des Werkes unterstreicht und – auf fast wörtliche Weise – abrundet.

Der ›Neue Weg‹ im dritten Klavierkonzert Beethovens besteht, wie die vorausgegangenen Ausführungen zu zeigen versucht haben, aus zahlreichen Pfaden, von denen manche tatsächlich weiterführen, manche aber auch gleich enden – allerdings nicht ohne davor einen Beethovenschen Triumph geerntet zu haben. In einigen Fällen verbindet Beethoven neue motivische oder instrumentatorische Ideen mit überlieferten formalen Strukturen, in anderen Fällen ist gerade sein formaler Aufbau zukunftsweisend, aber der thematische Inhalt den früheren Werken nah. An manchen Stellen bemüht sich Beethoven, die traditionell voneinander getrennten Abschnitte miteinander organisch zu verbinden, an den anderen tut er das in op. 37 noch nicht. Der Klaviersatz ist trotz einiger Neuheiten noch immer zurückhaltend und mit den Soloparts der späteren Konzerte nicht zu messen; gleichzeitig sind aber viele für die Wiener Klassik charakteristische Merkmale des konzertanten Klaviersatzes in op. 37 nicht mehr vorhanden. Die häufigen Überarbeitungen im Klavierpart führen alle zu einer – mindestens in den Klavierkonzerten – neuen Klangqualität.

Im Verhältnis Orchester – Solist ist in op. 37 ein entscheidender Schritt hin zum ›Neuen Weg‹ getan. Die abschließenden Abschnitte der Soloexposition und der Reprise sind nicht nur virtuos, sondern im Zusammenspiel mit dem Orchester gleichzeitig auch motivisch geprägt, während die ›lyrischen‹ Stellen in der Durchführung das Klavier in das Gewebe des Orchesters integrieren. Das Konzertant-Dialogisierende ist – an den Stellen, wo man es noch finden kann – in op. 37 kein Selbstzweck, sondern nur ein gelegentlich angewandtes Mittel im Dienst der Konzertkonzeption, welcher auch das ›symphonische‹ Moment in diesem Konzert dient. Es handelt sich hier eben um die Ambiguität des Verhältnisses Solo – Orchester, und wenn man von diesem Verhältnis als von einem formbildenden Prinzip in der Gattung Konzert sprechen darf, so könnte hier im erweiterten Sinne auch von der Ambiguität der Form gesprochen werden; wenn man die Bedeutung dieses Verhältnisses in den einzelnen Teilen des Satzes berücksichtigt, kann – auf einer anderen Ebene als in den Untersuchungen Dahlhaus’ – auch von »funktionale[r] Ambiguität der Formteile« die Rede sein: Von allen von Dahlhaus hervorgehobenen Merkmalen der Werke des ›Neuen Weges‹ gilt dieses in op. 37 gerade in seiner Durchführung und der Coda, aber auch in den Schlußabschnitten der Soloexposition und der Reprise am deutlichsten. Diese ›funktionale Ambiguität‹ ist, wie die vorausgegangenen Untersuchungen zeigten, in einem anderen Zusammenhang auch für das zweite Tutti charakteristisch.

Das vielleicht wichtigste von Dahlhaus hervorgehobene Merkmal des ›Neuen Weges‹, »der radikale Prozeßcharakter der musikalischen Form«, kann in op. 37 zwar nicht auf den Satzanfang angewendet werden (im Gegensatz zu den Werken, die Dahlhaus analysiert), diese Eigenschaft kann aber, in ihrer etwas breiter aufgefaßten Bedeutung, mit einem wichtigen Charakteristikum von op. 37 in Verbindung gebracht werden: mit der Behandlung des ›Hauptmotivs‹, die in dieser Form in der Gattung Klavierkonzert schon in op. 15 ansatzweise anzutreffen ist. Das Motiv wird nicht einfach variiert, und es scheint ohne Hürden der ›motivischen Arbeit‹ verschiedene Ebenen des Kompositionsprozesses zu transzendieren, seine – vor allem rhythmische – Gestalt behaltend, aber auf jeder Ebene neue Bedeutungen gewinnend. Das Motiv ist nun nicht mehr der sich – planmäßig oder intuitiv – verändernde ›Stoff‹, sondern vielmehr der ›Körper‹ der Musik.

Der ›Alte‹ und der ›Neue Weg‹ Beethovens sind im dritten Klavierkonzert weder zwei sich niemals berührende, parallele Wege, noch ist der eine die unmittelbare Fortsetzung des anderen. Sie stellen vielmehr ein Netzwerk von musikalischen Ideen dar, die sich so oft berühren und überschneiden, daß sie nicht voneinander zu trennen sind, obwohl jede für sich in ihrer Gesamtrichtung erkennbar bleibt.

Dank

Der Autor dankt an dieser Stelle herzlich Herrn Prof. Martin Brauß von der Hochschule für Musik und Theater Hannover, Frau Pia Kohorst und Herrn Frank Sodemann für ihren Rat und ihre Hilfe bei der Entstehung dieser Studie. Aufrichtiger Dank des Autors gilt ebenso der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, für die Genehmigung, Einsicht in das Autograph Beethovens zu nehmen und Teile des Faksimiles im Rahmen dieser Arbeit zu reproduzieren.

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