Fladt, Hartmut (2003/05), »Analyse und Interpretation. Anmerkungen/Anregungen«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 1–2/2/1, 171–177. https://doi.org/10.31751/467
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2005
zuletzt geändert / last updated: 15/09/2009

Analyse und Interpretation

Anmerkungen/Anregungen

Hartmut Fladt

Musikalische Sinnlichkeit und musikalische Praxis bauen auf Formen von Reflexion und Theorie auf, und wenn diese noch so unentwickelt oder auch unbewußt sind. Das hörende, analysierende, interpretierende Subjekt ist zugleich informationsverarbeitend und informationsschaffend. Jede Analyse ist gleichzeitig auch eine bewußtseinsgeleitete, bisweilen sogar unbewußte Konstruktion ihres Gegenstandes. Die Mechaniken der Intentionalität des Hörens und des Verstehens und des Interpretierens von Musik sind unvermeidbar; man muß sie begreifen, um aktiv eingreifend mit ihnen umgehen zu können. Partikular-Kategorien haben erst im Kontext ihren Sinn, und: nie verabsolutiert. Methoden haben sich als heuristische am Gegenstand zu bewähren, und wenn sie ihm nicht genügen, muß auf sie verzichtet werden, nicht auf ihren Gegenstand. In jeder musikalischen Figur, in jeder Klangfolge ist Geschichte gespeichert, und damit auch begrifflich vermittelte Bedeutung, derer sich die Komponierenden bedienten und die sie individualisierten. Die ›Anstrengung des Begriffs‹ ist in jeder Kunstwissenschaft und für jede Beschäftigung mit Kunst, auch für die spielerische und die unterhaltsame, unverzichtbar.

Schlagworte/Keywords: Analyse und Interpretation; Analysemethoden; analysis and interpretation; methods of analysis

Auch unter professionellen Musikern ist die Anschauung verbreitet, daß Wissen den gefühlsmäßigen und spontanen Zugang zur Musik versperren kann, daß also das Kognitive und das Emotive in einem widersprüchlichen Verhältnis stehen. Dem möchte ich zwar – auf der einen Seite – durchaus zustimmen, aber – andererseits – gleichzeitig verdeutlichen, daß dieser Widerspruch kein antagonistischer, kein ›toter‹ ist, sondern ein produktiver, ein sehr lebendiger. Denn: jede Art von musikalischer Sinnlichkeit und musikalischer Praxis baut auf irgendeiner Form von Reflexion und Theorie auf, und sei sie noch so unentwickelt oder auch unbewußt. Das ist durchaus vergleichbar mit dem Spracherwerb: Sie können sich quasi-natürlich eine hochkomplexe Grammatik aneignen – dieser Vorgang ist aber natürlich alles andere als ›natürlich‹ –, und in dieser hochkomplexen Grammatik ist alle Reflexion und Theorie und Sprachgeschichte enthalten, ohne daß Sie sich und anderen darüber analytisch Auskunft geben könnten (oder auch müßten). Als Hochschullehrer möchte ich den künftigen Interpreten von Musik drastisch klarmachen, welches wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen ›Fühlen‹ und ›Wissen‹ besteht; ganz besonders liegt mir daran, das den künftig Musiklehrenden zu vermitteln, sei es in Schulen, in Musikschulen, im Privatunterricht oder an Hochschulen.

Eine wichtige Aufgabe der musikwissenschaftlichen Lehre, des musiktheoretischen Unterrichts und der mit ihm verbundenen Gehörbildung muß es sein, die Selbstverständlichkeiten durchschaubar (bzw. durchhörbar) zu machen, mit denen man normalerweise an Musik herangeht. Unmittelbarkeit und Spontaneität von Gefühlen sind eine sehr schöne und auch wichtige Sache, aber: Sie genügen nicht. Oft ist zu hören: Ich fühle das so – an dieser Stelle der Symphonie habe ich diese oder jene Assoziation – und man glaubt sich frei bei diesen Reaktionsweisen. Was aber geschieht wirklich? Man projiziert in das Gehörte seine eigenen gespeicherten und gebündelten Erfahrungen hinein, und das meist unhinterfragt. Das gilt gleichermaßen fürs Hören wie fürs Interpretieren von Musik; sogar das analytische Umgehen mit Musik, das ja viel distanzierter geschieht, ist von solchen Mechanismen des Hineinprojizierens geprägt. Man ist an seine Vor-Urteile gekettet, ohne es zu merken. Und schon gar nicht legt man sich darüber Rechenschaft ab, wie sich solche Vor-Urteile entwickelt haben – allgemein in der Musikgeschichte, aber auch in der ganz persönlichen Entwicklungsgeschichte von allen, die Musik lieben und hörend erleben – und zu denen gehören schließlich auch die professionell mit Musik Umgehenden (auch wenn das manchmal nicht den Anschein hat).

Das hörende Subjekt ist zugleich informationsverarbeitend und informationsschaffend. Jede Höranalyse ist gleichzeitig auch eine bewußtseinsgeleitete, bisweilen sogar unbewußte Konstruktion ihres gehörten Gegenstandes (aber bitte nicht ausschließlich, wie die Ritter der Dekonstruktion suggerieren). Und das gilt ebenso für die Interpretation. Diese Mechanik einer Intentionalität des Hörens und des Verstehens und des Interpretierens von Musik ist unvermeidbar, aber man muß sie begreifen, um aktiv eingreifend mit ihr umgehen zu können.

Hörend verfolgen, wie sich Musik in der Zeit entfaltet: Das hat immer starke sinnliche Erlebnisqualitäten. ›Erlebnishören‹ ist die Grundlage auch für jede Hör-Analyse, also das analytische Erfassen von Musik ohne den Notentext. Es ist schrecklich, wenn diese Qualität des ›Erlebnishörens‹ fehlt und nur wahrhaft ›idiotische‹ Partikular-Kategorien einrasten, zum Beispiel harmonische Funktionen oder Schenkerische »Mittelgrund-Züge« oder historische Satzmodelle oder Matthesons und Heinrich Christoph Kochs Interpunktik oder Arnold Schönbergs Syntax-Lehre – erst im Kontext hat das alles seinen Sinn, und: NIE verabsolutiert. Methoden haben sich als heuristische am Gegenstand zu bewähren, und wenn sie ihm nicht genügen, muß auf SIE verzichtet werden, nicht auf ihren Gegenstand.

›Erlebnishören‹ ist in der Regel auf der Ebene der unmittelbaren sinnlichen Anschauung angesiedelt, wirkt aber dort immer auch auf eine spezifische Weise erkenntnisstiftend: Ich verstehe grundlegende Emotionen und Charaktere einer Musik aus meinem kulturellen und historischen näheren Umfeld auf eine unmittelbare Weise, aber ich verstehe sie – später – adäquater, wenn ich mehr über sie weiß. Ich verstehe – kognitiv – abstrakte Strukturen, Korrespondenzen, Verläufe eines Musikstücks (aber ich verstehe auch sie später adäquater, wenn ich beispielsweise ihre historischen Voraussetzungen und, damit verknüpft, die semantischen Qualitäten im jeweiligen Werk rekonstruiert habe). Die Bedingungen der Möglichkeit ihres Entstehens, mit Immanuel Kant gesprochen, sind Teil der Substanz der Werke.

Vielleicht kann man eine Korrelation aufstellen: je fremder mir eine Musik ist (historisch oder stilistisch oder kulturell), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß ich beim Rezipieren nur auf der Ebene des Erlebnishörens bleibe und beim Interpretieren alles Mögliche und Unmögliche in das aufzuführende Stück hineinprojiziere. Umfassendes Verstehen von Musik heißt: weg von der ersten, spontanen Unmittelbarkeit des Hörens, des Verstehens, des Interpretierens (ohne dabei aber die Qualitäten sinnlicher Erkenntnis und sinnlichen Wissens auszuschalten) – hin zu dem, was mit Hegel als »zweite Unmittelbarkeit« bezeichnet werden könnte, also eine neue und reichere Unmittelbarkeit, die durch Wissen und Erkenntnis hindurchgegangen ist.

Ein kleiner Exkurs: Nikolaus Harnoncourt wurde anläßlich der Verleihung des Siemens-Preises im Berliner Tagesspiegel interviewt, und er sagte erstaunliche Dinge: »Der Moment des Musikmachens ist ein Moment, in dem Wissen keine Rolle mehr spielt. Wenn alles gewußt ist, was gewußt werden kann, dann muß es wieder vergessen werden.« Gab’s Situationen, in denen Ihnen dieses Vergessen nicht geglückt ist? »Ich habe das nie so empfunden, aber gelesen habe ich es öfter über mich. Daß ich aufs Podium gehe und das Gefühl habe, ich bin jetzt intellektuell mehr beteiligt als mit Fleisch und Blut – das ist undenkbar.« Wie oft streiten sich diese beiden Seelen in Ihrer Brust? »Ich war immer der Meinung, der wirkliche Musikwissenschaftler ist der Musiker. Jedes Wissen über Musik ist das notwendige Rüstzeug des Musikers. Wenn ich ein Stück in E-Dur spiele, dann will ich wissen, warum es nicht in F-Dur steht. (ANMERKUNG extemporiert) Wenn einer nur weiß und nicht empfindet, kann er nicht Musiker sein. Wenn einer nur empfindet und nichts weiß, kann er schon Musiker sein. Er macht jeden Triller falsch, und es geht trotzdem unter die Haut.« Und ist das legitim? »Natürlich. Hören Sie sich einmal die Brandenburgischen Konzerte mit Rudolf Serkin und Fritz Busch an, aufgenommen während des Krieges in der Schweiz. Ergreifend schön, wirklich. Die machen alles falsch, was man nur falsch machen kann. Beide sind aber mit einem sechsten Sinn begabt, was den Emotionsgehalt der Musik betrifft. Andererseits gibt es renommierte Solisten, die machen alles richtig, spielen das richtige Instrument, wissen alles – und es ist zum Verzweifeln.«

Da möchte ich vieles wirklich dick unterstreichen, spontan aus dem Gefühl heraus; aber dann meldet sich mein Reflexionsvermögen und schlägt meinem Gefühl metaphorisch auf die Finger. Serkin und Busch haben also einen »sechsten Sinn«, was den Emotionsgehalt der Musik betrifft. Was ist das? Spielten sie spontan, »aus dem Bauch«? Hatten beide nicht mindestens je 30 Jahre kumulierter Erfahrung mit Musik in ihrem Gefühl gespeichert, sinnliche Erfahrung, emotionale Erfahrung, aber auch vielfältigstes kognitives Wissen? Standen sie nicht in der lebendigen Auseinandersetzung darum, wie Bach aufzuführen sei, gerade diese beiden? Und entsprachen ihre Triller nicht einem historisch definierbaren Wissensstand? Ich bin hartnäckig: Lieber Nikolaus, wenn Sie behaupten, daß Sie im Moment der Aufführung ›alles vergessen, was Sie wissen‹, dann ist das nichts weiter als eine kokette metaphorische Verkürzung eines viel komplexeren Vorgangs. Drastisch gesagt: Wenn Nikolaus Harnoncourt den ersten Satz des Dritten Brandenburgischen Konzerts auch rhetorisch analysiert hat (hat er), wenn er festgestellt hat, daß es mehrere ›confutationes‹ gibt mit angespannter Zuspitzung des Emotionalen, wenn er das mit seinen Ausführenden unermüdlich geprobt hat (wie wir wissen), dann können diese ›confutationes‹ je nach Situation von Aufführung zu Aufführung unterschiedlich gefärbt sein, der Grad ihres Gespanntseins kann variieren – aber es bleiben ›confutationes‹, und es wird nicht – ganz spontan – eine ›confirmatio‹ draus. Was aber völlig richtig ist: das Wissen um das Prinzip ›confutatio‹ besagt überhaupt nichts darüber, ob es gelingt, es in sinnliche Anschaulichkeit umzusetzen, die auch emotional anrührt.

Weiter im Text: Wer interpretiert Musik wie und warum? Ein Blick ins Feuilleton der Zeitung: Interpreten, das sind die – im normalen Sprachgebrauch –, die Musik ausführen, aufführen für die Öffentlichkeit. »Interpres«, lateinisch, ist ja eigentlich der Vermittler, der Dolmetscher; also, sie interpretieren für uns, spielend, singend, dirigierend, agierend etc. einen musikalischen Text, und dieser Text hat es offensichtlich nötig, gedolmetscht zu werden. Erst durch dieses vermittelnde Dolmetschen wird aus einem geschichtlich überlieferten Text-Dokument ein Stück lebendig nachvollziehbarer und sinnlich erlebbarer Kunst; und von der haben wir das Gefühl oder sogar die Gewißheit, daß sie uns noch unmittelbar berühren kann – wenn die Interpreten ihre Sache gut machen.

Die Interpreten von Musik sind zunächst und primär einmal Hörer und Leser von Musik, und sie haben sich ihre ganz spezifische Auffassungsweise von Musik ja irgendwann einmal selbst angeeignet. Interpreten interpretieren aber nicht schlicht Texte, sondern (und das ist oft viel wichtiger) sie interpretieren Interpretationen. Sie stehen in einer Tradition von Interpretationsweisen, sie stehen sogar in der Regel in vielen Traditionen, und sie haben sich das als etwas ganz Selbstverständliches angeeignet, wie eine Sprache, in die man hineinwächst. Das bewußte Umgehen mit solchen Selbstverständlichkeiten, das kritische Hinterfragen gelingt häufig erst recht spät – wenn überhaupt. Interpretationstraditionen überwuchern häufig den Text, den man ja schließlich dolmetschend verdeutlichen soll. Das meinte Gustav Mahler, wenn er als Dirigent, aber auch als Komponist sagte: »Tradition ist Schlamperei.«

Und dann werden, immer wieder in der Musikgeschichte, die Stimmen laut, die da rufen: ZURÜCK ZUM TEXT! Mit dem Text und seinen Anweisungen, die nach Möglichkeit philologisch-kritisch abgesichert sein sollen, gibt es eine tendenziell objektive Instanz, auf die man sich berufen kann, wenn man sich von subjektiver Willkür (also: Interpretation als schlichte Selbstverwirklichung) und von Schlamperei distanzieren will.

Ich bin – besonders als Komponist – immer dankbar, wenn die von den komponierenden Kolleginnen und Kollegen zumeist präzise formulierten Anweisungen von den Interpretierenden ernst genommen werden. Aber mir ist klar, daß damit zwar eine notwendige Voraussetzung für eine adäquate Interpretation gegeben ist, daß sie aber noch nicht ausreicht. Erst die Rekonstruktion der hinter der Oberfläche des Textes liegenden Tiefendimension von vielfachen Bedeutungszusammenhängen eröffnet die Chance für ein besseres Verstehen und damit auch Erfühlen von Musik; ich sage bewußt ›Chance‹, nicht unbedingt die Garantie. Fürs tiefere, reichere und auch aufregendere Fühlen brauche ich Wissen, das der blanke Text allein niemals vermitteln kann.

Und jetzt öffnet sich die nächste Dimension des Begriffs INTERPRETATION; denn auch Musikwissenschaftler, Musiktheoretiker und Komponisten, wohl auch Kulturtheoretiker und Soziologen – sie alle analysieren, sie deuten, sie interpretieren Musik aus Geschichte und Gegenwart. Sie verbalisieren ihre Erkenntnisse und teilen sie auf diese Weise der Öffentlichkeit mit – oder, so die Komponierenden, sie lassen ihre Erkenntnisse in Konzeptionen von eigenen Werken einfließen.

Ganz selbstverständlich werden die ausübenden Interpreten immer wieder stark beeinflußt von dem, was historische/hermeneutische/analytische Interpretationen an Erkenntnissen formuliert haben. Dazu gehört auch die Rekonstruktion dessen, was Hugo Riemann die »verloren gegangenen Selbstverständlichkeiten« genannt hat. So entsteht eine sehr lebendige und abwechslungsreiche Interpretations-Geschichte, in der neues Wissen und neues Fühlen, aber auch rekonstruiertes altes Wissen und Fühlen zu einer Einheit werden.

Noch einmal sei festgehalten: Interpretierend Ausführende sind in der Regel beeinflußt durch Erkenntnisse der interpretierend Schreibenden (bzw. an Hochschulen und anderen Institutionen Lehrenden). Aber auch hier ist ein dialektisch vertracktes Wechselverhältnis zu konstatieren: Musikwissenschaftler, Musiktheoretiker und Komponisten würden lügen, wenn sie nicht zugäben, daß sie in all ihren – scheinbar doch so objektiven – Kategorien auch von bestimmten, besonders geliebten Aufführungen beeinflußt wären.

Sie kennen wahrscheinlich den Begriff des ›erkenntnisleitenden Interesses‹ aus der Kritischen Theorie von Jürgen Habermas; also: In Analogie zum ›erkenntnisleitenden Interesse‹ kreiere ich hiermit den Begriff des ›erkenntnisleitenden Wohlgefallens‹. Zum Beispiel bin ich als Jugendlicher mit Beethovens Klaviersonaten in der Interpretation von Wilhelm Backhaus groß geworden. Das prägt mein unmittelbar sinnliches Beethoven-Bild offensichtlich bis zum heutigen Tag, auch wenn es sich rational längst verändert hat. Ähnliches gilt bei mir auch für Chopin in der Interpretation von Claudio Arrau oder für J. S. Bachs Werke für Violine Solo, interpretiert von Henrik Szering, etc.

Zur Lebendigkeit der Interpretationsgeschichte gehört auch, wie schon demonstriert, die Tendenz zu populären Irrtümern (vor denen auch prominenteste Interpreten und Wissenschaftler nicht gefeit sind) und zu produktiven Mißverständnissen. Dafür jetzt noch ein Bach-Beispiel.

Exkurs: Fuge g-moll, I.Band WK. Friedrich Gulda, Edwin Fischer, Wanda Landowska; Polarität: tänzerische Bourrée-Fuge oder tiefernste Passionsmusik. Ohne Wissen über musikalische Topoi, über Temperamenten- und Affektenlehre, über musikalisch-rhetorische Figuren könnte man ja wirklich den anapästischen Rhythmus (kurz-kurz-lang) als ›Aufforderung zum Tanz‹ mißverstehen. Edwin Fischer dagegen interpretierte ›markante Festigkeit‹. Er verstand die Fuge als Exempel des ruhig-gefaßten, phlegmatischen Temperaments und gliederte die Form durch ›Terrassendynamik‹ – ein typisches Merkmal der Interpretationsgeschichte der 20er und 30er Jahre. Aber: Da sind die suspiratio-Pausen, da sind die eng-bedrängenden mi-fa-Seufzer, da ist das Rahmen-Intervall des ›saltus duriusculus‹ der verminderten Septime, da ist zu Beginn das Ton-Symbol des großen Kreuzes und direkt danach das Christus-Monogramm des Chi. Wir finden den ›beschwerenden Affekt‹ einer ›fuga pathetica‹ im melancholischen Temperament, um Sie mit noch einigen Begriffen der Bachzeit zu beschweren.

Auch wenn Cembalo-Puristen über den Pleyel-Nachbau lächeln: Wanda Landowska zeigt – und das ist die Regel bei ihr – ein unglaublich tiefes Verständnis, und zwar nicht nur für die semantischen Implikationen im Wohltemperierten Klavier, sondern ebenso für die (abstrakten) strukturellen Aufbau-Prinzipien: Jede ihrer Interpretationen ist getragen von gründlichster Form- und Strukturanalyse. Bach inszeniert vor der letzten Durchführung mit großem barocken Faltenwurf ein Kolon, einen musikalischen Doppelpunkt, mit phrygischer Klausel im Baß und angespannter übermäßiger Sext; dieses Kolon verweist emphatisch auf die dann folgende Conclusio der Fuge – und das ist dann wirklich eine Conclusio wie aus dem Bilderbuch der Rhetorik: Zusammenfassung aller Kräfte, monumentale Überhöhung des Kreuz-Symbols durch Engführung als Oktavkanon, endlich zum Schluß die ›trias harmonica perfecta‹, der Dur-Dreiklang, hier als Trinitäts-Symbol unmittelbar faßlich. Wanda Landowska inszeniert das als großes barockes Welttheater.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit noch auf ein Analyseverfahren richten, das gerade unter Musikern wieder an Attraktivität gewinnt: Hans Kellers Wordless Functional Analysis, soeben auch wieder herausgegeben vom Institut für Musikanalytik in Wien. Keller, der nach England emigrierte Wiener, versuchte, sein – primär an den Kategorien der Zweiten Wiener Schule orientiertes – musikanalytisches Denken in der Erscheinungsform von nonverbalen Analysen zu explizieren. Die erhebliche Attraktivität der Methodik war sicherlich auch darin begründet, daß in der Regel Kooperationen mit ausübenden Musikern praktiziert wurden, die Kellers analytische Resultate unmittelbar ›vor Ohren‹ führten: in Konzerten (mit dem Charakter von Werkstatt-Konzerten), die fast immer zugleich für das Medium Rundfunk bestimmt waren. In Gerold W. Grubers Ausgabe liegen nun die analytischen Partituren Kellers vor – u.a. auch von Mozarts g-Moll-Quintett. Verschwiegen werden dürfen nun nicht die grundsätzlichen Probleme, die dem analytischen Verfahren insgesamt anhaften. Keller definierte: »Alles konzeptuelle Denken über Musik ist ein Um- oder sogar Abweg, von Musik über Termini zu Musik, während ›functional analysis‹ direkt vorwärtsschreitet von Musik über Musik zur Musik.« Das scheint gerade für die ausübenden Musiker in seiner sinnlichen Anschaulichkeit durchaus brauchbar und für ein ›begreifendes‹ Verstehen grundlegend zu sein. Was sich aber hier als sinnliche Erkenntnis nur aus der Musik und ihren zum Erklingen gebrachten Tönen darstellt, ist bei Hans Keller selbstverständlich Resultat eines umfassenden und – durch und durch! – sprachgeprägten Wissens über historische, satztechnische und ästhetische Prämissen – auch wenn er diese Prämissen einfach verschweigt.

Und so drohen die Vorurteile der schlechten Musiker gegenüber Wissenschaftlichkeit und Theorie schlicht bestätigt zu werden – mit einem weiten Rückfall z.B. hinter den gerade von J. S. Bach, Haydn und Mozart immer wieder gebrauchten, weit gespannten Begriff der »Compositions-Wißenschafft«, der die ›musica theorica‹ mit dem umfassenden ars-Begriff vereint, dabei den mechanisch-handwerklichen Anteil durchaus nicht verachtet und zugleich immer den Ethos-Charakter von Musik integriert – sei er religiös und / oder philosophisch geprägt. Jedes musikalische Phänomen in der hier zur Debatte stehenden Musikkultur ist notwendig gekoppelt an Begrifflichkeiten – und zwar an solche, die sogar dann, wenn sie nur musikspezifisch scheinen, immer zugleich die musikalische Immanenz überschreiten.

Die »functional analysis« ist nicht Analyse, sondern die – weitgehend! – wortlose Darstellung der Resultate eines vorausgegangenen Analyseprozesses. Über dessen Kriterien werden keine Auskünfte gegeben, aber man kann sie anhand der Resultate rekonstruieren.

In jeder musikalischen Figur, in jeder Klangfolge ist Geschichte gespeichert, und damit auch begrifflich vermittelte Bedeutung, derer sich die Komponierenden bedienten und die sie individualisierten. Die ›Anstrengung des Begriffs‹ ist, in jeder Kunstwissenschaft und für jede Beschäftigung mit Kunst, auch die spielerische und die unterhaltsame, unverzichtbar.

Und jetzt noch, als Zitate, zwei Gedanken von Carl Dahlhaus, geäußert in einem polemischen Beitrag mit dem Titel »Im Namen Schenkers« von 1983: »Daß Theoretiker dazu neigen, Modelle zu konstruieren, die sie für universal gültig und lückenlos halten, ist für Historiker, die eher zu einem methodologischen Eklektizismus und zu einem anwägenden Ausgleich zwischen Kategorien verschiedenen systematischen Ursprungs tendieren, schon immer ein Stein des Anstoßes gewesen. Meine eigentlich simple, von schlichtem common sense und elementarer musikalischer Erfahrung diktierte Behauptung, daß es in nahezu sämtlichen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts Stellen gebe, die sich nicht funktional deuten lassen, nicht auf Linienzüge reduzierbar sind, nicht ein Resultat entwickelnder Variation darstellen und nicht auf einer Alternation schwerer und leichter Takte beruhen, die also im Hinblick auf die herrschenden Bezugssysteme des Tonsatzes gewissermaßen ›exterritorial‹ sind, stößt bei Theoretikern und Analytikern, die von der universalen Geltung ihrer Prinzipien und Methoden unbeirrbar überzeugt sind, auf einen geradezu reflexartigen Widerstand, der eine vernünftige, an der regulativen Idee schlichter Empirie orientierte Diskussion unmöglich macht, obwohl der Gedanke, daß die konstitutiven Momente des musikalischen Satzes nicht immer zugleich, sondern manchmal auch abwechselnd und mit verschiedener Akzentuierung wirksam werden, eher trivial erscheinen müßte, als daß er Befremden provoziert.« Und: »Daß die Musiktheorie, im Unterschied zur Literaturtheorie, vor Kategorien wie Ambiguität und Paradoxie immer noch zurückscheut, ist – man bedauert, es sagen zu müssen – ein Zeichen von Rückständigkeit: einer Rückständigkeit, die tolerierbar sein mag, solange sie sich unauffällig im Hintergrund hält, die jedoch schwer erträglich wird, wenn sie sich gegenüber avancierteren Positionen, deren Prämissen sie nicht kennt, das Recht zu einer Polemik anmaßt, die sich im Besitze des alten Wahren sicher und beruhigt fühlt.«

Und noch ein Lieblingszitat von mir. Goethe, aus den XENIEN (Musenalmanach 1797):

Die Systeme

Prächtig habt ihr gebaut. Du lieber Himmel! Wie treibt man,

Nun er so königlich wohnt, den Irrtum heraus?

Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.