Schwab-Felisch, Oliver (2009), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 6/1, 7–8. https://doi.org/10.31751/443
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 15/02/2009
zuletzt geändert / last updated: 28/02/2009

Editorial

Dem Thema ›Wiederholung‹ nähern sich die Artikel dieser Ausgabe auf dreierlei Weise. Zwei beschäftigen sich mit bestimmten Korpora musikalischer Werke, ein weiterer gibt einen historischen Überblick über einen bestimmten Theoriezusammenhang, der vierte schließlich umreißt eine Theorie, die nicht weniger zu sein beansprucht denn eine Theorie der Wiederholung schlechthin.

Eine Eigenschaft von Satzmodellen ist ihre Unabhängigkeit nicht allein von konkreten Merkmalen wie Tempo, Taktart oder Tonart, sondern auch bestimmten Arten der Diminution. Satzmodelle sind abstrakt. Eben dies haben sie mit melodischen ›Archetypen‹ oder ›Schemata‹ gemein, wie sie etwa Robert O. Gjerdingens vielzitierte Arbeit A Classic Turn of Phrase (1988) diskutiert. Ein Gegenstück legt nun Uri Rom vor. In Mozarts Œuvre, so seine These, besteht eine signifikante Korrelation zwischen einer bestimmten Erscheinungsform eines häufig verwendeten Motivs und der Tonart Es-Dur, eine Korrelation, zu deren Erkenntnis nur vordringt, wer das Motiv durchaus nicht als Abstraktum versteht, sondern in seiner »irreduziblen melodischen Oberfläche« (Rom) ernst nimmt.

Eingang in den Vokabelfundus Mozartschen Komponierens fand das Es-Dur-Motiv womöglich als Übernahme, sei es als Zitat oder Entlehnung. Seine Instanzen in Mozarts Werk verweisen freilich nicht aufeinander, ihr Zusammenhang ist kein ästhetischer. In Brahms’ späten Klavierstücken dagegen gehören extrinsische Bezüge, Bezüge also auf andere Werke und Werkzusammenhänge, zur kompositorischen Substanz. Brahms, so zeigt Knud Breyer, verfolgte das Projekt, den »Blick des Historikers mit dem des Komponisten zu vermitteln« – einerseits also mit »geradezu enzyklopädischem« Anspruch Gattungen der Klaviermusik kompositorisch zu vergegenwärtigen, andererseits das Geschichtliche dem eigenen Schaffen anzuverwandeln.

Intrinsische Motivbeziehungen gelten spätestens seit Schönberg als Mittel zu Fasslichkeit und Einheit, Zusammenhang und Logik. Während die Analyse motivisch-thematischer Beziehungen vor dem Hintergrund diverser Fragestellungen auch im deutschen Sprachraum ein Erkenntnisinstrument ersten Ranges bildete, ist das Unterfangen, die ›organische Einheit‹ einer Komposition aus der Gesamtheit aller intrinsischen Motivbeziehungen abzuleiten, wesentlich im angloamerikanischen Sprachraum in Angriff genommen und diskutiert worden. Wie Felix Wörners theoriegeschichtlicher Abriss verdeutlicht, ist der Diskurs über ›Thematicism‹ ein technischer und ästhetischer, er gilt dem Konzept der ›thematischen Zelle‹ ebenso wie dem der Einheit.

Auch Adam Ockelfords Theorie musikalischer Wiederholung formte sich in der Auseinandersetzung mit Réti und seinen Kritikern. Ockelford, der im Journal of the Royal Musical Association ebenso wie in Music Psychology und Musicae Scientiae publiziert hat, verfolgt einen entschieden interdisziplinären Ansatz. Seine Zygonic Theory‹ ist eine vor kognitionspsychologischem Hintergrund entworfene Beschreibungssprache, die darauf abzielt, musikalische Wiederholungen aller Arten und Größenordnungen begrifflich zu erfassen und grafisch darzustellen. Dank ihrer Universalität und Offenheit kann sie im Rahmen höchst unterschiedlicher Forschungsfragen Verwendung finden. Drei Beispiele gibt Ockelford: eine Analyse des hochintegrierten Geflechts von Wiederholungsstrukturen, das Mozarts Klaviersonate B-Dur KV 333 kennzeichnet, eine Kritik an bestimmten Grundannahmen der Pitch-Class Set Theory Allen Fortes samt einem Entwurf alternativer Verfahren zur Bestimmung der Ähnlichkeit von ›PC Sets‹ und schließlich die Analyse eines musikalischen Zwiegesprächs zwischen einem Musiklehrer und seiner viereinhalbjährigen improvisierenden Schülerin.

Die zwei Bücher, die im Rezensionsteil vorgestellt werden, können bei aller Unterschiedlichkeit auch als Beispiele einer Auffassung von Motivanalyse gelesen werden, die monistische Ansprüche zugunsten pluralistischer Strategien zurückweist. Peter H. Smith, so zeigt Knud Breyer, verbindet in seiner Studie zu Brahms’ Werther-Quartett die Analyse von Harmonik, Motivik und struktureller Stimmführung (Expressive Forms in Brahms’s Instrumental Music: Structure and Meaning in His Werther Quartet). Und Markus Roths von Tobias Fasshauer besprochene Dissertation über Hanns Eislers Hollywood-Liederbuch folgt ausdrücklich der Maxime, das analytische Instrumentarium von Fall zu Fall neu und gegenstandsadäquat zu konfigurieren (Der Gesang als Asyl. Analytische Studien zu Hanns Eislers Hollywood-Liederbuch).

Oliver Schwab-Felisch

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