Fladt, Hartmut (2007), »Sebastian Urmoneit, Tristan und Isolde – Eros und Thanatos. Zur ›dichterischen Deutlichkeit‹ der Harmonik von Richard Wagners ›Handlung‹ Tristan und Isolde (= Berliner Musik Studien 28), Sinzig: Studio 2005«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 4/1–2, 227–230. https://doi.org/10.31751/257
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2007
zuletzt geändert / last updated: 22/03/2009

Sebastian Urmoneit, Tristan und Isolde – Eros und Thanatos. Zur ›dichterischen Deutlichkeit‹ der Harmonik von Richard Wagners ›Handlung‹ Tristan und Isolde (= Berliner Musik Studien 28), Sinzig: Studio 2005

Hartmut Fladt

Auf jedem Versuch, der gewaltigen Fülle bisheriger Tristan-Literatur und -Forschung noch spezifisch eigene, neue Erkenntnisse hinzuzufügen, lastet ein lähmender Rechtfertigungsdruck. Das betrifft auch kleinere Spezialuntersuchungen, etwa mit musiktheoretischer Zielsetzung, obwohl hier (noch bis zum heutigen Tage) bisweilen Ausprägungen frohgemuter Naivität anzutreffen sind. Kaum ein anderes Werk hat so viel abstraktes selbstreferentielles musiktheoretisches System-Projizieren hervorgerufen – schon in Bezug auf den Beginn der Einleitung: »Die harmonische Analyse dieser sechsgliedrigen Akkordfolge ist seit Karl Mayrbergers von Wagner enthusiastisch begrüßtem Versuch zu einer theoretischen Pflichtübung geworden, der sich immer noch jeder unterzogen hat, den es nach den höheren Weihen seines Faches gelüstete.«[1] Nun ist es Sebastian Urmoneits Anliegen nicht, der Tristan-Harmonik eine weitere theoretische Abstraktion überzustülpen. Vielmehr soll sie als ein substantieller Teil der »dichterischen Deutlichkeit« kontextualisiert werden, sowohl hinsichtlich ihrer Rolle in der Werk-Gesamtkonzeption Wagners als auch ihrer Verwurzelung in topologischen Traditionen. Das paradoxe ›Vermitteltsein‹ einer Musik, die in ihrer partiellen Überwältigungsästhetik den Rezipierenden doch so unmittelbar erscheint, hat Andreas Dorschel, der für Urmoneits Arbeit wichtige Anregungen gab, so formuliert:

Der Schein der von Schopenhauer auf den Begriff gebrachten (oder sollte man nicht eher sagen: erfundenen) ›Unmittelbarkeit zum Willen‹, wie ihn die Wagnersche Musik unleugbar suggeriert(e), gründet paradoxal gerade in einer im höchsten Maß vermittelten, historisch gewordenen Vorstellungswelt: der Vorgeschichte des Wagnerschen Komponierens, deren rhetorische Topoi und harmonische Funde, sofern man sich die Mühe macht – und es ist eine, gewiß – in der Tristan-Partitur aufzuspüren sind.[2]

Der Mut, sich in einer Dissertation mit den Großen (und, wo es notwendig ist, auch mit den weniger Großen) aus Philosophie, Kultur- und Sozialgeschichte, Musikwissenschaft und Musiktheorie kritisch auseinanderzusetzen, könnte sich auf eine Bemerkung von Ernst Bloch stützen, die ich mir selbst (als wissenschaftstheoretische Legitimations-Strategie) mit Vergnügen zu eigen gemacht habe:

Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe. Nicht nur sein Denker, sondern vor allem das zu Bedenkende hat sich unterdes geändert. Das Gescheite hat sich daran neu und selber als Neues zu bewähren.[3]

Eben diese Kriterien werden in Urmoneits Arbeit erfüllt. Wichtig für ein solches »wieder denken« war auch der Rekurs auf Claude Lévi-Strauss, für den Wagner als »Vater der strukturalen Analyse der Mythen« galt. Das umfassend ›begründende‹ Mythem Eros und Thanatos wird durch die beiden symbolisch-dichotomen Leitmotive und ihre vielfältigen Varianten erst im kompositorischen Zugriff Wagners wirklich different gemacht; dem nun analytisch und toposgeschichtlich (im Sinne auch einer Einheit der Topoi der ›Handlung‹ und der musikalischen Topoi) möglichst nahezukommen und einen adäquaten Kategorien-Apparat bereitzustellen, darin bestand eine der Zielsetzungen dieser Arbeit. Dass ein solches Unterfangen immer ›auf dem Wege‹ ist und dabei auch zahlreiche fragwürdige (im doppelten Wortsinne) Resultate hat, ist in der Komplexität des Gegenstandes begründet. Dazu später einige Beispiele.

Geistes- und sozialgeschichtliche sowie spezifisch musik- und theoriegeschichtliche Kontexte sind in Urmoneits Arbeit auf eine sehr umfassende und gründliche Weise aufgearbeitet. Das betrifft die in Wagner selbst fokussierte Vorgeschichte ebenso wie die Geschichte der Deutungen und Erklärungsansätze bis in die unmittelbare Gegenwart. Bei einigen konstatierten Begründungszusammenhängen hätte ich mir mehr kritische Distanz gewünscht: so bei Plato, Novalis, Schopenhauer, bei Wagner selbst (dessen Schopenhauer-Rezeption auf einigen Schopenhauer-Missverständnissen beruht – allerdings auf Wagner-typischen, produktiven Missverständnissen), bei Freud; auch bei Friedrich Nietzsche, dem zu begegnen immer wieder höchstes intellektuelles Vergnügen bedeutet, ist die Wagner-kritische Seite (die z.B. bei Dorschel sehr akzentuiert wird) eher zurückhaltend dargelegt. Das ändert aber nichts an der Qualität von Urmoneits Darstellung. Und dass Schleiermachers Hermeneutik endlich einmal eine gebührende Würdigung erfährt und gleichsam ›leitmotivisch‹ durch das Argumentationsgeflecht führt, war für mich unmittelbar plausibel.

Um die verschiedenen Bedeutungsebenen der Harmonik und der mit ihr untrennbar verbundenen, im Tristan auch durch die Instrumentation auf unvergleichliche Weise verdeutlichten Stimmführung hermeneutisch adäquat dechiffrieren zu können, entfaltet der Autor – primär gestützt auf einen differenzierten und kritischen Konspekt von Forschungsergebnissen bei Ernst Kurth, Carl Dahlhaus und Heinrich Poos – seine analytischen Einsichten. Die dichterisch-szenisch-musikalischen ›Formulierungen‹ Wagners auf die ›Bedingungen ihrer Möglichkeit‹ hin zu untersuchen, ist dabei ein Schlüssel zu ihrer Semantik. (Insbesondere der Inszenierung von Gebärden kommt wohl noch größere Bedeutung zu, als dies bei Urmoneit schon expliziert wird.) Aus nachvollziehbaren systematischen Erwägungen werden zwei zentrale Kapitel voneinander getrennt:

  • »Zum ›Sachgehalt‹ der Tristanharmonik« (engere musiktheoretische Kriterien, zu denen aber auch die Auseinandersetzungen mit der energetischen Theorie bei Kurth und auch Bergson sowie knappe Ausführungen zur Vorgeschichte gehören);

  • »Zum ›Wahrheitsgehalt‹ der Tristanharmonik« (hier kommt das argumentative Ziel der Arbeit gleichsam zu sich selbst; das komplexe Gegen-, Mit- und Ineinander von musikalischen Eros- und Thanatos-Strukturen und -Symbolen und ihr allmähliches Differentwerden im Verlauf der ›Handlung‹ wird auf eine sehr stringente Weise expliziert und plausibel gemacht).

Wenn ich mich angesichts all der Liebes- und Todestrunkenheit nach etwas mehr kritischer Nüchternheit in der Darstellung sehne, dann ist das einerseits ein sehr persönlicher Wunsch; andererseits aber hat dieser Wunsch sein Äquivalent in Wagners kompositorischem Ethos, das viel konstruktiv-nüchterner ist (und damit seinem ›Antipoden‹ Brahms viel näher), als es gerade die Wagnerianer wahrhaben wollen. Das oft sorgsame Verbergen der Kunstmittel im Überredungs- und Überwältigungstheater besagt nicht, dass auf solche Kunstmittel verzichtet würde – im Gegenteil. Wie sehr die ›begründenden Mytheme‹ im Tristan zugleich Resultat handwerklich höchstrangiger Artifizialität sind, darauf hat Sebastian Urmoneit in dieser Arbeit deutlich verwiesen.

Nun noch, wie bereits angekündigt, einige Anmerkungen zu Fragwürdigem aus dem Bereich musikalisch/übermusikalischer Topoi: Die »Tristan-Hieroglyphe« des Beginns mit Heinrich Poos im Kleinterzzirkel und impliziter Anbindung an das Modell der »Teufelsmühle« begründet zu sehen, scheint mir sowohl strukturell als auch semantisch sehr problematisch zu sein; viel stimmiger ist der Rekurs auf den Parallelismus-Topos[4], der für die gesamten 17 Takte ein – auch historisch abgesichertes – Modell liefert, das nicht von Anfang an Ausnahmen konstruieren muss. Wenn auch Sebastian Urmoneits Kritik an Peter Giesl[5] völlig berechtigt ist, so darf dennoch nicht die (immer auch semantisch definierbare) Macht der individualisierten Klauseln und der mit ihnen unlösbar verknüpften ›Figuren‹ unterschätzt werden (so ist das ›Sehnsuchtsmotiv‹ einerseits eine chromatisierte Interrogatio über der mi-Klausel mit – schon im Frühbarock üblicher – Nebentoneinstellung, andererseits verkörpert es den ›süßen‹ Sehnsuchtstopos des aufsteigenden ›passus duriusculus‹, wie er schon von Marenzio komponiert wurde).

Auch eine typische Ausprägung Bachscher Rezitativharmonik, die mehrfach im Tristan individualisiert wird, die Folge verminderter Septakkord (in der unglücklichen funktionstheoretischen Deutung ›auf der None‹, also dominantisch definiert) – Dominante enthüllt sich als mi-Klausel, nicht also als harmonisch und metrisch sinnlose Folge zweier Dominanten: Für Theoretiker des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts (d’Alembert/Rameau, Vogler, Logier, den Wagner über seinen Lehrer Weinlig gut kannte) war in diesem Falle die Bedeutung des Ganzverminderten subdominantisch, ebenso wie beispielsweise bei der ›plagalen‹ Auflösung des Ganzverminderten (Fundamentschritt iv-i), bei der nicht etwa die ›Septime‹ eines verkürzten Nonenakkordes abspringt.

Zweifellos lassen sich topologische Begründungen der manieristisch chromatisierten 5-6-Bewegungen, wie sie noch für Wagner grundlegend sind, bereits im späten 16. Jahrhundert ansiedeln. Den Beginn jedoch von Gesualdos Moro lasso (mit Heinrich Poos) als »Sequenz eines phrygischen Halbschlusses« (140f.) aufzufassen, ist schon deswegen absurd, weil syntaktisch nirgends ein ›Halbschluss‹ zu finden ist (die als »phrygischer Halbschluss« bezeichnete Klangfortschreitung a6-H geht metrisch zur schwächsten Zählzeit der Mensur und hat den, auch durchs Komma getrennten, Text Mo-ro, las-so); die extreme Klangverbindung Cis-a6-H-G6 lässt sich dekoloriert auf die simple diatonische 5-6-Sequenz C-a6-h-G6 zurückführen.)

Den Violoncello/Hörner-Satz ab Takt 11 der Einleitung zum 3. Aufzug (Wolzogens ›Liebesentbehrungsmotiv‹) ebenfalls als Variante des 5-6-Kontrapunkts zu interpretieren (165f.), ist nicht plausibel; zweifellos liegt als Strukturmodell eine chromatisierte Form des 7-6-Fauxbourdontypus vor.

Dass solche Detailkritik den Rang und die grundsätzliche Plausibilität der großen Tristan-Arbeit von Sebastian Urmoneit nicht schmälert, sei ausdrücklich festgehalten. Allein die Fülle der aufgearbeiteten Literatur und das Neu-Denken (und Neu-Zusammendenken) von bisher Ungedachtem und nicht in fruchtbare Wechselwirkungen Gebrachtem lässt diese Dissertation zu einem zentralen Werk der Wagner-Exegese werden. Die ›Musenanrufung‹ (als gelte sie dem Wagnis einer neuen Odyssee) des grandiosen Nietzsche-Zitats am Beginn dieser Arbeit scheint ihr Ziel nicht verfehlt zu haben.

Anmerkungen

1

Poos 1971, 269.

2

Dorschel 1987, 44.

3

Bloch 1972, 479.

4

Vgl. Fladt 2005, 347ff. – Was hier als voluminöse Fußnote auftaucht, wurde 2006 zum Aufsatz »Modell – Topos – Figur. Individualisierte Satztechniken in Wagners Tristan und Isolde« ausgearbeitet, der 2007 erscheint.

5

Giesl 1999.

Literatur

Bloch, Ernst (1972), »Avicenna und die aristotelische Linke«, in: ders., Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Dorschel, Andreas (1987), »Die Idee der ›Einswerdung‹ in Wagners Tristan«, in: Richard Wagner. Tristan und Isolde (= Musik-Konzepte 57/58), München: Edition Text + Kritik.

Fladt, Hartmut (2005) »Modell und Topos im musiktheoretischen Diskurs«, Musiktheorie 20, 343–369

Giesl, Peter (1999), »Eine Anwendung der Clausellehre auf Wagners ›Tristan und Isolde‹«, Die Musikforschung 52, 403435.

Poos, Heinrich (1971), »Zur Tristanharmonik«, in: Festschrift Ernst Pepping zum 70. Geburtstag, hg. von Heinrich Poos, Berlin: Merseburger.

Urmoneit, Sebastian (2005), Tristan und Isolde – Eros und Thanatos. Zur ›dichterischen Deutlichkeit‹ der Harmonik von Richard Wagners ›Handlung‹ Tristan und Isolde (= Berliner Musik Studien 28), Sinzig: Studio Verlag.

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