Froebe, Folker (2006), »›Ur‹-Linie und thematischer Prozeß. Die formbildende Rolle der Subthematik in Beethovens Streichquartett op. 95«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 3/1, 77–85. https://doi.org/10.31751/224
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2006
zuletzt geändert / last updated: 02/09/2010

›Ur‹-Linie und thematischer Prozeß

Die formbildende Rolle der Subthematik in Beethovens Streichquartett op. 95

Folker Froebe

Motivisch-thematische Ereignisse spielen in linearen Reduktionsverfahren der Schenker-Nachfolge eine tendenziell untergeordnete Rolle. Es ist daher ein verbreitetes (Vor-)Urteil, die Ergebnisse derartiger Analysen seien irrelevant für eine individualisierende Werkbetrachtung und lägen jenseits der ästhetischen Erfahrbarkeit. Anhand von Beethovens f-Moll-Streichquartett op. 95 wird gezeigt, wie motivisch-thematische Formbeschreibungen und lineare Reduktionsverfahren einander zu ergänzen vermögen. Wesentliche Momente der thematischen Entwicklung finden im Kopfsatz von op. 95 ›hinter‹ der Satzoberfläche statt. So beherrscht der im Motto latente Konflikt des-d den Satz vom figurativen Detail bis zur Großform. Dieses thematische ›Substrat‹ wirkt formbildend in Gestalt der chromatischen Auskomponierung syntaktischer Penultimae; die vermeintlich neutralen Linienzüge erscheinen thematisch aufgeladen, so daß auch weitgespannte melodische Progressionen rezeptionsästhetisch greifbar werden. Die fraktale Struktur der Thematik und die fraktale Struktur der linearen Schichten korrelieren dabei so weitgehend, daß ein undogmatischer Rekurs auf die Schenkersche Schichtenlehre den thematisch-formbildenden Prozess transparent zu machen vermag.

Schlagworte/Keywords: Analysemethoden; linear analysis; lineare Reduktionsverfahren; Ludwig van Beethoven; methods of analysis; motivic-thematic analysis; motivisch-thematische Analyse; Streichquartett f-Moll op. 95; String Quartet in F minor op. 95

Melodisch kontrapunktische Reduktionsverfahren gehen von der Annahme aus, musikalische Form erwachse aus einer hintergründigen Tiefenstruktur, die sich in Schichten der Diminution und Prolongation bis in den ›Vordergrund‹ hinein individualisiere. Entgegen der in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts dominierenden Tradition der Formanalyse bilden aus dieser Sicht die motivisch-thematischen Ereignisse auf der Satzoberfläche nicht das strukturell begründende Moment musikalischer Formbildung.[1] Inwieweit motivisch-thematische Formbeschreibungen (etwa in der Tradition der Schönberg-Schule) und Reduktionsverfahren (in der Nachfolge Schenkers) einander zu ergänzen vermögen, hängt davon ab, welcher Begriff des Thematischen jeweils vorausgesetzt wird und – mehr noch – auf welche Weise und in welchen Schichten des Satzes ein thematischer Gedanke im Einzelfall sich ausprägt.

Zum Begriff des Thematischen

Beim späten Beethoven gelangen konventionelle Verfahren der motivisch-thematischen Analyse an ihre Grenzen: Oft läßt sich, was in einem Satz thematische Einheit konstituiert, in feststehenden Gestalten kaum greifen. Welchen kompositionsgeschichtlichen Wandlungen der »Begriff des Thematischen bei Beethoven« bereits in Werken aus der Zeit des »Übergangs zum Spätwerk«[2] unterliegt, zeigte Carl Dahlhaus, der in diesem Zusammenhang (anknüpfend an Schönberg und Réti) von »subthematischen« Strukturen sprach.[3] An Brisanz gewinnt die Kategorie der ›Subthematik‹ für Dahlhaus dadurch, daß sie gestattet, einen – nunmehr partiell nach ›innen‹ gelagerten – motivisch-thematischen Formprozeß auch für die der mittleren Periode nachfolgenden Werke Beethovens anzunehmen. Dadurch aber ergibt sich ein Berührungspunkt zur schenkerianischen Perspektive: Zu fragen wäre, ob nicht Begriffe wie ›Subthematik‹ und ›Submotiv‹ auf ähnliche Sachverhalte zielen wie jene von Schenker in seinen eigenen Analysen detailliert herausgearbeiteten »mehr verborgenen Wiederholungen«, die »so unscheinbar, so atomhaft« seien, daß sie »manchmal noch nicht unter den Begriff eines Motivs« fielen.[4] Im Sinne eines ›motivic parallelism‹ zwischen den Schichten des Satzes bilden dergleichen Zusammenhänge für Schenker und seine Nachfolger einen zentralen Aspekt organischer Formbildung. An diesen Berührungspunkt zwischen zwei ansonsten sehr verschiedenen musiktheoretischen Traditionen anzuknüpfen, kann sich für die musikalische Analyse als fruchtbar erweisen.

Im Kopfsatz von Beethovens f-Moll-Streichquartett op. 95 von 1810 manifestiert sich in subthematischen Beziehungen die formbildende Kompositionsidee. Die motivisch-thematische Satzoberfläche hingegen begründet den formalen Prozeß nicht, sie modelliert ihn und gewinnt dadurch an Offenheit für sprechende, topisch vorgeprägte Gesten. Bereits die eröffnende Initialphrase scheint – bei aller scharfen Zeichnung – wie aus konventionellen Bausteinen kollagiert. Die »Mannheimer Bebung«, in der schon Riemann ein spätes »Denkmal« eben jener Manier erkannte[5], und die Skalenbewegung der Tetrachorde sind Material ohne Anspruch auf individuelle Prägung. Hier bereits gilt Adornos dialektische Formel von der Expressivität der »nackten« Konvention in Beethovens Spätwerk.[6] Zum Motto, ja zur ›Keimzelle‹ des gesamten Satzes wird diese Eröffnungsphrase im formalen Prozeß erst gemacht, indem den in ihr angelegten melodischen und tonalen Beziehungen demonstrativ Bedeutung zugewiesen wird.

›Phrygisches‹ Supersemitonium

Als elementares Submotiv prägt das ›phrygische‹ Supersemitonium den Satz auf jeder Ebene. Im Großen bestimmt es den unkonventionellen Ebenenplan des Satzes mit der VI. Stufe, also dem Leittonwechselklang Des-Dur, als Tonart des Seitensatzes. Latent ist die großformale Baßbrechung f-Des-C-f mit der phrygischen Einkadenzierung der Dominante bereits im eröffnenden Motto, dort signifikant mit dem Supersemitonium auf betonter Zeit.

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Beispiel 1: a) Initialphrase des Hauptsatzes, T. 1–2; b) Kadenzphrase des Hauptsatzes, T. 13–15

Erst die Finalkadenz der Coda ab Takt 148 formuliert am Zielpunkt der Entwicklung den großformalen Stufengang als kadenziellen Satz im Vordergrund aus.

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Beispiel 2: Finalkadenz, T. 146–151

Zur geschichtlichen Veränderung der Idee des Thematischen, wie sie hier sichtbar wird, gehört nicht zuletzt das Bestreben, scharfe Kontraste auf der thematischen Oberfläche durch eine aus »sub-motivischen« Zusammenhängen gespeiste »innere Einheit« zu vermitteln.[7] So sind die energetische Initialphrase ab Takt 1 und die lyrische Kadenzphrase ab Takt 13 durch die auffällige Betonung der phrygischen Nebennote des und der fallenden Sexte von as bis c im plagalen Oktavrahmen eng miteinander verbunden. Beide Elemente – Nebennote und fallende Sexte – prägen auch im weiteren Verlauf die Melodiebildung bis in subtile Verästelungen.

Chromatisches Substrat

Die Thematisierung der phrygischen Beziehung wäre nicht allzu spektakulär, würde nicht der in ihr latente Konflikt zwischen den Chromen der 6. Melodiestufe des und d regelrecht inszeniert. So wird der in Des-Dur stehende Seitensatz T. 49ff. in der Schlußgruppe nach D-Dur gehoben, und der zweite Satz schließlich erklärt das ferne D-Dur gar zur Haupttonart. Schon im eröffnenden Motto des ersten Satzes stehen die Chromen des und d einander gegenüber, noch unscheinbar eingebettet in die für sie charakteristischen melodischen Kontexte, das fallende Tetrachord zur Dominantebene und das steigende Tetrachord zum Grundton. Dahlhaus bezeichnete die Doppelstufe des/d vor diesem Hintergrund als das »chromatische Substrat« des Satzes.[8]

Frühzeitig erscheint das chromatische Substrat transponiert: In einem dramaturgischen Coup par excellence exponiert der scharfe Schnitt nach Ges-Dur bereits in Takt 6 den verselbständigten Neapolitaner, die primäre harmonische Konsequenz des Phrygischen. Melodisch wird das phrygische ges zum authentischen g geklärt und dominantisch fundiert. Anachronistisch gesprochen stehen damit die alternativen Chromen der Tenorklausel plakativ nebeneinander – die elementarste tonale Implikation des chromatischen Substrates. Die Nachsatzkadenz ab Takt 16 kadenziert analog, nunmehr bezogen auf die Dominante. Bis Takt 18 stecken somit neapolitanische Verbindungen den Kadenzraum der Tonika ab.

In »minor mode and the neapolitan step« erkannte bereits Kerman die zentrale Problemstellung des gesamten Satzes.[9] Nicht also durch seine redundante Omnipräsenz[10], sondern ausgehend von dem im Motto angelegten und im Hauptsatz exponierten tonalen Beziehungskomplex entfaltet das chromatische Substrat seine formal-funktionale Bedeutung. Mit ›breitem Pinsel‹ geschieht dies in der Seitensatzkadenz. So friert Beethoven ab Takt 34 den Kadenzvorgang nach Des-Dur vier Takte lang auf der Dominante ein. Zentralton der Oberstimme ist das es der 2. Violine, die melodische Kadenzpenultima. Der Ausbruch aus dieser harmonischen Stauung ist – mit Schenker und Riemann – enharmonisch zu lesen, und zwar als Trugschluß in das Supersemitonium Heses.[11] (Die phrygische Relation heses-as klingt an bereits im übermäßigen Quintsextakkord der zirkulierenden Kadenz in Takt 23f.) Aus diesem Trugschluß kadenziert das Unisono mit Takt 38 in das neapolitanisch eingetrübte eses, das in der folgenden Kadenz ab Takt 40 wieder diatonisch geklärt wird.[12] Damit steht die ganze Partie melodisch wie harmonisch in Analogie zur Behandlung des Konfliktes ges-g im Haupsatz. Wir sehen hier eine Doppelbeziehung: Einerseits rekurriert die Einführung von D-Dur im Des-Dur-Kontext notationsgemäß auf die absoluten Tonhöhen des chromatischen Substrates. Andererseits erscheint in der lokalen Tonalität die Eintrübung von es in das phrygische eses als Transposition des ursprünglichen tonalen Musters. Mit Blick auf die zentrale Schnittstelle zum Reprisenvorfeld in Takt 70 erkennen wir, untransponiert auf die Dominantebene C bezogen, wiederum die Inszenierung des chromatischen Substrats. So wird von Takt 68 zu Takt 70 die phrygische (›subdominantische‹) Penultima des erst erhöht zur authentischen (›doppeldominantischen‹) Penultima d und in den Takten 74 bis 75 schließlich zur leitereigenen Stufe wieder korrigiert.

Chromatische Profilierung der ›Urlinie‹

Vom Grundton aus fallend fügen die chromatisch markierten Ebenen sich zu einem auf die Dominantebene gerichteten Tetrachord, dessen Penultima, die VI. Stufe, sich als Nebentonart etabliert. Unschwer läßt sich darin die großformale Weitung des im eröffnenden Motto vorformulierten Zuges erkennen. Im großformalen Zusammenhang des Sonatensatzes ist diese Disposition unkonventionell: Üblicherweise verbindet sich der Gang in die Nebentonart mit dem Zug von der Quinte zur Terz im ersten fallenden ›Ast‹ vor der ›Unterbrechung‹ in der Durchführung. Dieser Vorgang erscheint hier gewissermaßen von der Quinte auf die Oktave transponiert, so daß die erste kadenzielle Bewegung auf die VI. Stufe statt auf die III. Stufe zielt. Aus der Dominantebene im Reprisenvorfeld schließlich wird der fallende Zug von der Quinte bis in die Finalis fortgeführt: In einer singulären Konzeption überspannt Beethoven den gesamten Sonatensatz durch einen ununterbrochenen Oktavzug.[13] Ästhetisch frappierend ist dabei, wie gerade jene Momente, die auf der Satzoberfläche als Brüche erscheinen, das melodische Kontinuum expressiv profilieren. Erst die Markierung der jeweiligen Kadenzpenultimae durch das chromatische Substrat führt dazu, daß die weitgespannten Progressionen der ›Ur‹-Linie gestaltlich und ›rezeptionsästhetisch‹ unmittelbar greifbar werden – eine Wechselwirkung, die Schenker vom »Drama des Ursatzes« sprechen ließ.[14]

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Beispiel 3: Melodische Integration des ›chromatischen Substrates‹

Steigender Kontrapunkt

Das chromatische Substrat markiert jedoch nicht allein die kadenziellen Segmente der großflächig fallenden Urlinie. Eine zentrale Rolle in der Überleitung, der Durchführung und der Coda, also in den Prozeßstrecken des Satzes, spielen chromatische Übergänge in steigende Richtung, die den phrygischen Abwärtssog mit hohem energetischen Aufwand überwinden.

Bereits der überleitende Neuansatz in Takt 18 deutet die Chromatik ges-g, die wir im Hauptsatz als dominierendes Einzelereignis beobachtet haben, leittönig um. Im Unisono führt sie in die Terzebene as, die als Liegeton den gesamten Des-Dur-Seitensatz abbindet. In der spektakulären Partie ab Takt 38 wird die as-Ebene über das Supersemitonium heses bis ins b überboten, das jedoch chromatisch wieder zurücksinkt. Die Durchführung schließlich läßt die Öffnung über das bisher unverbrauchte Chroma b-h gelingen, so im Baß von Takt 69 zu 70. Die chromatischen Übergänge des steigenden Kontrapunktes zielen also in mehreren Anläufen zunächst auf die Dominantebene im Reprisenvorfeld, in der sich alle Stimmebenen des Gerüstsatzes treffen.

Im Sinne einer übergeordneten Zweiteiligkeit erweist sich die Durchführung zugleich als dramatisch zugespitzte Reprise der Takte 1 bis 18, die den steigenden Zug zur Dominante rückschlüssig nochmals anlaufen läßt. So rekapitulieren die Takte 62 bis 66 den Prozeß der Takte 6 bis 10 (Beispiel 4a/b). Die Öffnung ges-g ist dabei neu gefaßt durch die Komplementärharmonik der Kleinterzen es/ges und e/g. Als chromatische Varianten des Klauselgerüstes nach f exponieren sie eine neue harmonische Implikation des chromatischen Substrates. Analog dazu werden von Takt 69 zu 70 die subdominantischen Penultimae b und des zu h und d gehoben (Beispiel 4c). Melodisch überbrückt die 1. Violine die Parenthese bis Takt 70 und führt den steigenden Zug der Takte 60 bis 66 in das as. Mit der übermäßigen Sekunde aus dem melodisch eingefrorenen as in den Leitton h markiert sie in Takt 73 den klärenden Umschlag des verminderten Septakkordes in den G-Dur-Septakkord. Die analoge Situation der Hauptsatzkadenz von Takt 16 zu 17, dort mit dem Pathotyp der verminderten Septime, erfährt hier ihre großformale Bestätigung. Die thematische Bedeutung der Schwelle as-h auf dem Weg zur Dominante offenbart sich mit Blick auf den Kadenztakt 81, der den Satz zurück in die Tonika führt. Im unmittelbaren Reprisenvorfeld nämlich zitiert der Baß das steigende Finaltetrachord des Mottos, charakteristisch geschärft durch die übermäßige Sekunde des-e. Die Kadenzierung ist vorbereitet durch die Vl. II ab Takt 77. An beiden kadenziellen Schaltstellen, Takt 73 und Takt 81, zwingt Beethoven somit das phrygische Supersemitonium in den steigenden Kontext und konfrontiert die Strebtöne des Mottos, den phrygischen Gleitton und den authentischen Leitton. Die Synthese beider Strebigkeiten im verminderten Septakkord ab Takt 70 markiert die Mittelachse des Satzes.

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Beispiel 4: Hauptsatz und Durchführung

Kadenzielle Komplettierung der Züge

Standen bis ins Reprisenvorfeld die gegenläufigen Züge (fallende Urlinie und steigender Kontrapunkt) zur Dominante im Vordergrund, so thematisiert der Reprisenteil bis in die Coda hinein ihre final gerichtete Ergänzung. Die Fortsetzung der Urlinie aus der Quinte c beginnt im Kadenztakt 81 in demonstrativ hoher Lage; die Terzebene as wird in Takt 86 nachgereicht und in Takt 95 durch die harmonische Korrektur des Seitensatzes zur Durterz a aufgehellt. Die stufenweise Schließung der Urlinie bis in die Finalis vollzieht sich danach im wesentlichen analog zur Exposition. Im Sinne einer wörtlichen Reprise der Seitensatzkadenz ab Takt 107 jedoch müßte der Satz sich in die Trugschlußvariante Des wenden und von dort in das neapolitanische Ges kadenzieren (Beispiel 5a). Stattdessen steigt das Unisono über den chromatischen Durchgang cis direkt in das zwischendominantische D-Dur (Beispiel 5b). Der Verzicht auf die neapolitanische Harmonik in der Reprise entspricht der mit ihr erreichten Spannungslösung. War im Seitensatz der Exposition das tiefchromatische Eses auf die phrygische Penultima Des gerichtet, so strebt die hochchromatische Steigerung bis D-Dur im F-Dur-Kontext nach der melodischen Ergänzung zum steigenden Finaltetrachord. Der in Takt 99 ansetzende Zug des Violoncellos zitiert diese Kadenzierung vor. Erst die Coda löst den erwarteten Linienzug des-d-e-f auch großformal ein, in den Spitzentönen der Brechungen ab Takt 130 zunächst bis ein Takt 135, dann bis f in Takt 144 (Beispiel 5c).

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Beispiel 5: Variierte Reprise der Seitensatzkadenz

Die Einbindung beider Chromen der 6. Melodiestufe in das steigende Finaltetrachord spiegelt den Umschlag von der phrygischen Ausrichtung auf die Dominante zur steigenden, finalen Ausrichtung auf die Tonika. Dieser Wechsel der Bewegungsrichtungen und Bezüge ist im Motto vorgezeichnet (Beispiel 3). Dahlhaus übersieht also Wesentliches, wenn er die unterschiedlichen harmonischen Kontexte, in denen das chromatische Substrat jeweils lokal erscheint, als Beleg für dessen »tonale Indifferenz«[15] interpretiert. Im Gegenteil: Die verschiedenen tonalen Kontexte resultieren aus der tonalen Struktur des chromatischen Gedankens selbst.

Zusammenfassung

Beethoven vermeidet an der Schwelle zum Spätstil die Gefahr des Klassizismus, indem er die zur Schablone geronnene Kongruenz von tonaler und thematischer Strukturierung durch ein neues Konzept subthematischer Verklammerung auf höchst individuelle Weise transformiert.[16] Im Kopfsatz von op. 95 wird das ›chromatische Substrat‹ des-d formbildend inszeniert. In der chromatischen Profilierung der großformal verklammernden Linienzüge vollzieht sich der eigentliche thematisch-formbildende Prozeß des Satzes. Dabei reflektieren die Züge des Mittel- und Vordergrundes die jeweiligen kadenziellen Segmente der großformalen Züge. Eine undogmatische Analyse melodisch-kontrapunktischer Schichten kann somit dazu beitragen, Zusammenhänge zwischen thematischer Entwicklung, linearer Kontinuität und formaler Dramaturgie transparent zu machen.

Anmerkungen

1

»Die sogenannten Melodien, Themen und Motive der bisherigen Theorie führen zur Sonatenform nicht.« (Schenker 1926, 54)

2

Dahlhaus 1977, 55.

3

Ebd., sowie Dahlhaus 1987, 211ff.

4

Schenker 1956, 155.

5

Riemann 1903, 94.

6

Adorno 1982, 16.

7

Dahlhaus 1977, 47.

8

Ebd., 57ff.

9

Kerman 1975, 169; vgl. auch Bergé 2004, 263f.

10

Schönberg sieht in der quasi seriellen Behandlung des Dreitonmodells des-c-d, das im Kopfmotiv den Wendepunkt vom fallenden zum steigenden Tetrachord markiert, ein »connective«, ein verbindendes Element des gesamten Quartetts. Doch begründet, wie Schönberg selbst andeutet, die ›assoziative‹ Multiplikation eines Gedankens bis in den ›Überschuß‹ figurativer Details hinein noch keine formal-funktionalen Beziehungen (1950, 80–82).

11

Vielfach werden die subthematisch markierten Kadenztakte 38–42 als Parenthese verstanden (vgl. Wiesend 1987, 131). Demgegenüber stehen harmonisch wie dramaturgisch kontinuierliche Momente. So sieht Schenker die Partie motiviert durch das Bedürfnis, die Stagnation der ab Takt 24 vorherrschenden harmonischen Pendelbewegung kadenziell aufzubrechen (1906, 323). Das »Wachsen des [motivisch-gestaltlichen] Inhaltes« in Takt 38ff. sei durch »das Harmonische« erzwungen (ebd.). Überdies sind die auffahrenden Oktavtiraten im triolischen Initialmotiv des Seitensatzes und dessen Weitung zum steigenden Septzug in Takt 30ff. vorgeformt.

12

Vgl. Schenker 1906, 324, sowie Riemann 1903, 94. Diskontinuierlich zu den harmonisch gestützten Chromen des Mittelgrundes eses und es kann in Takt 40 die Wendung d-es als diatonischer Halbtonschritt gehört werden. Das tonale Verständnis des Kontextes bleibt von dieser punktuellen melodischen Geste des Vordergrundes unberührt.

13

Im Sinne einer orthodoxen Analyse nach Schenker wäre auch vorstellbar, das von der Oktave zur Quinte sich öffnende Tetrachord als Zug einer übergreifenden Mittelstimme zu sehen, die mit dem Abschluß der Durchführung in die Quinte als dem eigentlichen Kopfton der Urlinie mündet. Es ist vielleicht kein Zufall, daß es meines Wissens weder von Schenker selbst noch von einem seiner Nachfolger eine Analyse dieses unkonventionellen Satzes gibt, der sich gängigen Interpretationsmustern nur eingeschränkt fügt.

14

Schenker 1956, 210, Anm.

15

Dahlhaus 1977, 58.

16

Auch durch die Integration bzw. Verschränkung der traditionellen ›Formteile‹ des Sonatenhauptsatzes zeigt sich op. 95 als Schlüsselwerk Beethovens auf dem Weg zum Spätstil.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1982), »Spätstil Beethovens«, in: Moments musicaux (= Gesammelte Schriften 17), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 13–17.

Bergé, Pieter (2004), »Die neapolitanische Themenwendung als formal harmonisches Muster in einigen Sonatensätzen von Beethoven und Brahms«, Musiktheorie 19, Laaber: Laaber, 261–268.

Dahlhaus, Carl (1979), »Zum Begriff des Thematischen bei Beethoven. Kommentare zu opus 95 und opus 102,2«, in: Beethoven ‘77. Beiträge der Beethoven-Woche 1977, Winterthur: Amadeus, 45–64.

––– (1987), Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber: Laaber.

Hohlfeld, Christoph (1992), Vorlesung an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (Mitschrift).

Kerman, Joseph (1975), The Beethoven Quartets, London: Oxford University Press.

Riemann, Hugo (1903), Beethoven’s Streichquartette, Berlin: Schlesinger’sche Buch- und Musikhandlung (= Meisterführer 12).

Schenker, Heinrich (1906), Harmonielehre, Wien: Universal Edition (Reprint Wien: Universal Edition, 1978).

––– (1926), Das Meisterwerk in der Musik, Bd. II, München: Drei Masken (Reprint Wien: Olms, 1974).

––– (21956), Der freie Satz, Wien: Universal Edition.

Schönberg, Arnold (1950), »Brahms the Progressive«, in: Style and Idea, New York: Philosophical Library, Neudruck in: Style and Idea. Selected Writings of Arnold Schönberg, Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1975, 398–441.

Wiesend, Reinhard (1997), »Bemerkungen zum Streichquartett Op. 95«, in: Beiträge zu Beethovens Kammermusik. Symposion Bonn 1984, München: Beethoven-Haus Bonn, 125–134 (= Reihe IV, Schriften zur Beethoven-Forschung 10).

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